Zwischen allgemeiner Anerkennung und Misstrauen

Die repräsentative Demokratie im Zeitalter des Internets

Am 11. März 2013 beschloss das ungarische Parlament mit einer Gesetzesnovelle tiefgreifende Verfassungsänderungen, welche die Bürgerrechte und die Befugnisse des Verfassungsgerichts einschränken. Der Änderungsantrag wurde von der nationalpopulistischen Mehrheitspartei Fidesz eingebracht. Unter den 22 novellierten Paragraphen fallen jene auf, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit ermöglichen, Obdachlose bestrafen, die auf der Straße schlafen, und promovierten Bürgern Ungarns zehn Jahre lang die Auswanderung verbieten. Andere hebeln demokratische Grundprinzipien wie die Gewaltenteilung und die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts aus: Einer der geänderten Paragraphen verwehrt den Höchstrichtern, sich zum Inhalt des Grundgesetzes – also auch der jüngsten Änderungen – zu äußern, und erklärt frühere Entscheidungen des Verfassungsgerichts für ungültig. Auf die von Vertretern der Europäischen Union geäußerten Bedenken entgegnete Viktor Orbán, Ministerpräsident und Urheber der Verfassungsreform zu Beginn der Parlamentssitzung, die über die neue Verfassung abstimmen sollte: “Die Menschen sorgen sich um ihre Rechnungen, nicht um die Verfassung.”

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Wenige Monate zuvor, am 20. Oktober 2012, hatten die Bürger Islands in einer Volksabstimmung eine neue Verfassung angenommen, deren Wortlaut in einem von Grund auf demokratischen, von keiner Parlamentsmehrheit gesteuerten Prozess zustande kam. 2009, ein Jahr nach Ausbruch der Finanzkrise, die die isländische Wirtschaft in die Knie zwang, kam auf Anregung von Bürgerverbänden eine Versammlung von 1500 (zumeist per Los bestimmten) Personen zusammen, um zu diskutieren und sodann die einzelnen Punkte der Verfassungsänderung vorzuschlagen. Im folgenden Jahr wurde in allgemeiner, direkter Wahl eine Verfassungskommission gewählt, deren Kandidaten keine Parlamentsabgeordneten und Parteimitglieder sein durften. Die 25 gewählten Personen – keine Berufspolitiker, sondern einfache Bürger – nahmen die neue Verfassung an, nachdem sie deren Inhalt über Facebook und Twitter direkt mit den Bürgern diskutiert hatten.

Zwei Geschichten, die sich etwa zur selben Zeit auf dem europäischen Kontinent im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise ereignet haben, der ersten Krise von dieser Tragweite, seit die politische Ordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Demokratie neu gestaltet wurde. Zwei Geschichten als Zeugnis der schizophrenen Situation, mit der das politische System der Demokratie kämpft. Denn die Demokratien der Gegenwart sind durch ein überraschendes Paradox gezeichnet: als politisches System genießen sie uneingeschränkte Unterstützung und allgemeine Anziehungskraft (auch die ungarische Verfassungsreform wurde als Verteidigung der “ungarischen Demokratie” propagiert), doch ihre Institutionen und Funktionsweisen stehen derzeit unter Druck, vor allem, weil sie zunehmend an Legitimität verlieren. In Island wie in Ungarn nannten die Bürger als Grund für ihre Entscheidung, die Verfassung ihres Landes zu erneuern, eine große Unzufriedenheit mit den Institutionen, der Tätigkeit der Politiker und ihren Beschlüssen. Die Anschuldigungen und (durch Beweise erhärteten) Kritikpunkte lauten auf Bestechlichkeit, Ineffizienz, Verschwendung öffentlicher Gelder und Entscheidungsunfähigkeit. Insbesondere werden die gewählten Volksvertreter angeklagt, die Meinungen ihrer wichtigsten Ansprechpartner, der Bürger und Wähler, systematisch zu ignorieren. Das sind besorgniserregende Zeichen eines Legitimitätsverlusts der Demokratie, und sie stehen im Widerspruche zur generellen Akzeptanz dieses politischen Modells. Die entgegengesetzten Wege Ungarns und Islands sind Beispiele dafür, dass es über die Ergebnisse der politischen Wandlungsprozesse, zu denen Demokratien fähig sind, keinerlei Gewissheit geben kann.

Demokratien wandeln sich auch dann, wenn ihre normativen Grundregeln nicht zum Gegenstand direkter, offizieller Veränderungen gemacht werden. Italien ist das dritte Beispiel, das ich hier anführen möchte. Mit Beginn der 1990er Jahre machte sich Beppe Grillo, der dem Publikum bereits durch seine Auftritte als Kabarettist bekannt war, nachdem er die landesweiten Fernsehsender zugunsten von Theatern und öffentlichen Plätzen verlassen hatte, zum Vorreiter einer Bewegung, die politische Korruption mit satirischen Mitteln anklagte. Durch den Schmiergeldskandal Anfang der 1990er Jahre wurde die Bestechlichkeit der Politiker auch für die große Öffentlichkeit sichtbar. Grillo hat sich in den wenigen Jahren bis 2005 vom Bänkelsänger auf der Piazza zum politischen Agitator gewandelt. Sein Erfolg verdankt sich wesentlich der Einrichtung eines persönlichen Blogs, beppegrillo.it, entworfen und verwaltet von der in digitaler Kommunikation und Marketing führenden Firma von Gianroberto Casaleggio (der Blog wurde von der internationalen Presse als einer der besten seiner Art gerühmt und erhielt lobende Unterstützung von Joseph Stiglitz). So gesellt Grillo zur realen Piazza die virtuelle, mediale Piazza und ruft eine Bewegung aus “Piazze” – also Foren – ins Leben, in der die beiden Formen direkter Teilhabe – die der physischen Körper und die der Meinungen – höchst geschickt verbunden werden. Aber Grillo wollte nicht nur eine Protest- und Meinungsbewegung verkörpern. Er nutzte seine innovativen, die Politik und den politischen Diskurs verändernden Praktiken, um etwas völlig Neues zu schaffen. Schon nach wenigen Jahren wurde aus Grillos Blog eine Arena für Meinungen, Informationen, Gedankenaustausch, Propaganda und Mobilisierung. Themen sind die Kritik der lokalen und nationalen Politik ebenso wie des globalen Kapitalismus und Konsumismus, die Kritik des Raubbaus an der Umwelt und der Natur aus Gewinnstreben, der Spekulation mit Patenten für pharmazeutische Produkte usw. Da er auch Themen aufgriff, die traditionell den Grünen vorbehalten waren, gelang es Grillos Blog in einem Land wie Italien, wo bislang keine ökologische Partei einen so großen Einfluss auf die nationale Politik ausüben konnte wie die Grünen in den Ländern des protestantischen Europas, ökologische und politische Kritik zu verbinden. So hat er aus Umweltthemen ein zentrales Kapitel seiner Anklage gemacht, die der Demokratie, wie sie in den kapitalistischen Gesellschaften vor allem Italiens und Europas praktiziert wird, einen Legitimationsverlust vorwirft (vgl. Corbetta / Gualmini 2013).

Wenige Jahre nach ihrer Gründung hat sich Grillos Initiative von einer Meinungs- zu einer politischen Bewegung gemausert, ohne ihre ursprüngliche Identität als Nicht-Partei und dann zunehmend antiparlamentarische Protestbewegung zu verlieren. Unter dem Namen “MoVimento 5 Stelle” ,Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), gelangte Grillos Gruppe zunächst in die Gemeinderäte, eroberte dann das Bürgermeisteramt in Parma, einer der reichsten Industriestädte des Nordens, und kam schließlich ins Parlament, wo sie eine Anzahl Sitze erhielt, die noch höher ist als der 25%-Anteil der bei den Parlamentswahlen vom 24. und 25. Februar 2013 erhaltenen Wählerstimmen. Obwohl der M5S die Verfassung nicht umgeschrieben hat, hat die Bewegung doch einen großen Teil der von den Parteien organisierten und verwalteten politischen Praxis verändert, indem sie ein Element “Direktheit” in die repräsentative Demokratie einführte und so das ins Leben rief, was ich mit einem Oxymoron “direkte repräsentative Demokratie” nennen möchte. Manche Politikwissenschaftler schlagen vor, diese Art Bewegung dem Populismus zuzurechnen (vgl. Taguieff 2012), andere dagegen meinen, dass sie zwar einige Themen mit der populistischen Rechten teile (zum Beispiel die ablehnende Haltung gegen Einwanderung und die europäische Einigung), es sich aber doch um ein neuartiges politisches Subjekt handle, das sich statt durch den Appell ans Volk durch horizontale Kommunikation zwischen Bürgern auszeichne (vgl. Biorcio / Natale 2013). Während die zentrale Rolle des Fernsehens die Bildung der plebiszitären Bewegung um Silvio Berlusconi begünstigt hat, erleichtert das Internet Formen direkter partizipatorischer Demokratie.

Dieser dritte Fall einer Umgestaltung der praktizierten Demokratie unterscheidet sich von dem ungarischen und isländischen Beispiel durch die Radikalität des Experiments, dessen Auswirkungen noch immer und wahrscheinlich noch für lange Zeit andauern. Es handelt sich um tiefgreifende Veränderungen in Verbindung mit (und als Nebenwirkungen von) einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Krisen, die die Marktgesellschaften seit mindestens drei Jahrzehnten (seit dem Sieg der Thatcher- und Reagan-Politik über die Grenzen Englands und der USA hinaus) so stark aushöhlen, dass ihre stabilsten Institutionen wie z.B. die Autonomie der Zentralbanken nicht nur von der politischen Exekutive, sondern vor allem auch von privaten Kreditgebern, Investitionsgesellschaften und Ratingagenturen angegriffen werden können. Diese Krisen sind also nicht nur wirtschaftlicher und sozialer Art, sie betreffen auch die Glaubwürdigkeit und Effizienz der demokratischen Institutionen und Entscheidungsverfahren.

Es ist eine überraschende und noch nicht gebührend berücksichtigte Tatsache, dass nicht die jungen Demokratien unter der krisenhaften Situation leiden, sondern ausgerechnet die reifen, gefestigten Demokratien. Vergleicht man die jüngste Geschichte der Länder auf dem südamerikanischen Kontinent mit jener der Länder des Atlantischen Bündnisses, zeigt sich zweifelsfrei, dass Erstere heute im Gegensatz zur Vergangenheit außerordentlich gesund sind und Letzteren sogar Lektionen über neue Praktiken der Partizipation erteilen können. Es ist, als hätte die jahrzehntelange Erfahrung in repräsentativer Demokratie deren Mängel zum Vorschein gebracht und den Bürgern überdies die Hoffnung genommen, diese innerhalb des Systems selbst beseitigen zu können. Dementsprechend lautet Beppe Grillos radikale Forderung, das Parlament von den Parteien zu befreien und die Politik weg von den Ideologien wieder auf die ungelösten Probleme zu lenken (vgl. Fo / Casaleggio / Grillo 2013, S. 79-99).

Müssen wir uns über die Legitimationskrise der westlichen Demokratien wundern? Die Frage ist nicht rhetorisch, obwohl es müßig oder falsch erscheinen mag, bei der Demokratie von Krisen zu sprechen. Ist sie doch die Krisen erzeugende und Krisen lösende Regierungsform par excellence, die in ihrer langen Geschichte bewiesen hat, dass sie außergewöhnlich gut geeignet ist, sich Veränderungen anzuverwandeln und neue Verfahren, neue Institutionen zu ersinnen, um auf die Herausforderungen zu reagieren, die das demokratische Handeln selbst hervorbringt. Dennoch sind die in unseren Ländern stattfindenden Transformationen einschneidend und bieten, wie wir anhand der drei oben skizzierten Fälle gesehen haben, weder Garantien auf einen glücklichen Ausgang, noch erschöpfende Informationen darüber, welche Veränderungen sie auf lange Sicht bewirken werden. Dass die Demokratie krisengewohnt, ja, eine “Krisenregierung” ist, sagt noch nichts über die Art der Risiken aus, die mit den Transformationen einhergehen. Sicher ist nur, dass die demokratischen Systeme der westlichen, vor allem der europäischen Länder, zum ersten Mal seit ihrer Wiedergeburt nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Phase des Protests und der Neudefinition gehen, die ein absolutes Novum darstellt – nicht nur wegen des Umfangs der Herausforderungen, sondern auch weil die neuen Kommunikationssysteme den Ereignissen eine bisher unbekannte Geschwindigkeit verleihen. Die aktuellen Veränderungen sind revolutionär, und noch wissen wir nicht, wie das demokratische System aussehen wird, ob es wiedererkennbar sein wird, wenn die Umwandlungsprozesse sich stabilisiert haben. Man kann diese Prozesse jedoch analysieren und versuchen zu erkennen, in welche Richtung sie sich bewegen.

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Erkennbar ist bereits jetzt, dass das demokratische System mit dem Aufkommen der direkten Internetdemokratie unter einem neuen Vorzeichen stehen wird. Die Internet-Demokratie lässt den Mythos der direkten Selbstverwaltung (das alte demokratische Versprechen autonomer Selbstbestimmung) in veränderter Form wiederaufleben, birgt jedoch die Gefahr identitätspolitischer, demagogischer oder populistischer Aktionen, eines politischen Handelns also, das ausschließt und diskriminiert, und damit, wie in Ungarn auch, die Voraussetzungen für eine regelrechte Tyrannei der Mehrheit schafft. Der Aufruf zur direkten Selbstverwaltung ist jedoch keine Rückkehr in die Vergangenheit und auch keine Wiedergeburt von Formen der Versammlungsdemokratie wie während der Studenten- und Arbeiterproteste in den 1960er und 1970er Jahren, als die zentralen Forderungen auf das Versprechen politischer Selbstbestimmung in Gestalt direkter Teilhabe am Gesetzgebungsverfahren zielten (vgl. Revelli 2008). Es handelt sich vielmehr um eine neue, aktualisierte Version der Partizipationsidee, die indirekte Formen der Partizipation wie die parlamentarische Vertretung und das Stimmrecht nicht ablehnt, diese aber verändert, anpasst, ja, umkehrt. Dies vor allem, weil sie die intermediären Instanzen, die bisher dazu dienten, Teilhabe durchzusetzen, nämlich die Parteien, beseitigt – oder zumindest beseitigen will. Direkte repräsentative Demokratie möchte also auf Wahlen basierende Demokratie ohne politische Parteien sein und sich durch die Bewegungen im Netz verwirklichen. Sie sollen verbinden, was sich innerhalb und was sich außerhalb der Institutionen befindet, freilich ohne dass eine Kontrolle dieser Verbindung stattfindet – z.B., ob den Bürgern dabei ein nicht nur gelegentliches Prüfungsrecht eingeräumt wird, oder ob sie sich der dominanten Rolle der Netzaktivisten bzw., wie im Fall des M5S, der privaten Betreiber des Blogs verdankt.

Gemeinsam mit dem Mythos der Partizipation als Gegenentwurf zu politischen Parteien erwacht auch neues Interesse an einer sehr alten, fast vergessenen Institution, nämlich dem Losverfahren, der eigentümlichsten Form der Auswahl des politischen Personals. Seit der Antike verbindet sie sich mit der Demokratie, aber nachdem sie in den italienischen Republiken des Humanismus eine wichtige Rolle gespielt hat, ist sie aus der Politik (nicht jedoch aus der juristischen Praxis) verschwunden und hat der Auswahl durch Abstimmung das Feld geräumt. Angesichts der Krise der Parteien und der massenhaften Nutzung des Internets erscheint das Losverfahren heute wieder möglich und nützlich (vgl. Sintomer 2011), und mit ihm auch andere Formen der Volksabstimmung durch beschlussfähige Bürgerversammlungen, durch den partizipativen oder Bürgerhaushalt und durch die verschiedenen tribunizischen Formen des Volksentscheids, in denen auf je unterschiedliche Weise deliberative Demokratie, Wahlen und Losverfahren zusammenwirken (vgl. Abers 2000; Dryzek 2000; Fung / Wright 2001; Bobbio 2010). Das isländische Modell, wo im Prozess der Verfassungsänderung all diese Formen interagierten, wird sehr wahrscheinlich ein Wegbereiter für andere Länder sein. Doch es gibt noch mehr.

In dem Maße, in dem sich die Entscheidungsprozeduren wandeln und komplexer werden, verändern sich auch die “Staatsbürgerschaft” als Teilhabe und das Verständnis des “Gemeinwohls”. Sie werden nicht mehr nur als Normen oder Institutionen aufgefasst, sondern als Haltungen eines “Publikums aus Bürgern”, einer Art kollektiver Zuschauer ohne individuelle Akteure, der nicht größere Teilhabe fordert, sondern absolute Transparenz der Verfahren und der politischen Führungskräfte. Die Bürger der “Demokratie der Öffentlichkeit” wollen dem Schauspiel der Politik wie ein Publikum beiwohnen, und wenn sie direkt teilnehmen, dann tun sie das, indem sie mit spontanen Beiträgen auf die Nachrichten oder Gerüchte reagieren, die das Internet oder die Massenmedien in Umlauf bringen (vgl. Manin 1997; Green 2010). Die Forderung nach Transparenz ist symptomatisch für die Ambiguität dieses Mythos des “Alles sehen und wissen”. Transparenz ist nämlich alles andere als ein leicht zu verwirklichendes Ziel, denn die Industrie der Transparenz (die Arbeit der Medien- und Kommunikationstechniker) wird immer vor allem solche Nachrichten oder Bilder in Umlauf bringen, die emotionale Reaktionen wie Bewunderung, Neid, Abscheu usw. auslösen. Gefühlsmäßige Wirkungen hervorzurufen, ist die Funktion der Massenmedien und des Internets, die somit dazu neigen, gerade dann Nicht-Transparenz zu erzeugen, wenn sie Transparenz und allumfassendes Wissen propagieren (vgl. Luhmann 2000). Das Leben des politischen Führers sichtbar und zu einem permanenten Schauspiel zu machen, kann gerade unter dem Vorwand öffentlicher Beteiligung Undurchsichtigkeit statt Transparenz erzeugen, wie die von Silvio Berlusconi gelenkte Medienherrschaft gezeigt hat (vgl. Sartori 1997).

Überdies verändert Transparenz die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte, vor allem aber den Tenor der politischen Beziehungen, denn sie kann hinderlich für die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Positionen und für Kompromisse sein, beides Strategien der Vorbereitung auf Entscheidungen, von denen die Politik vor allem in repräsentativen Regierungsformen lebt. Die Leser des Blogs von Grillo und die Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung lehnen die Praxis der Vermittlung und des Kompromisses ab – häufig werden sie mit Doppelzüngigkeit und Unehrlichkeit gleichgesetzt – und stellen ihr die direkte Willensäußerung entgegen, wie sie sich in Blogs und “Meetups” der sozialen Netzwerke ausdrückt. Die Praxis des “Streaming”, derer sich die Parlamentarier des M5S nach der Wahl vom 24./25. Februar 2013 bei den Beratungen für die Regierungsbildung bedient haben, zielte weniger darauf ab, Entscheidungen herbeizuführen, als die Loyalität der Anhänger der Bewegung zu festigen.

Eine weitere, tiefgreifende Veränderung betrifft die Figur des Bürgers in der Zuschauer- und Internetöffentlichkeit. Das Wahlrecht überträgt ihm individuelle Verantwortung, er ist derjenige, der seinen Willen durch seine persönliche Stimmabgabe ausdrückt (die das Wahlgeheimnis schützen soll). In der Internetdemokratie lässt sich kaum feststellen, wer den Dialog eröffnet hat, und ob die geäußerten Meinungen das Ergebnis argumentierender Diskussionen sind. Das Netz schafft einen Kreislauf der Meinungen, deren Initiator oder ursächlich Verantwortlicher nicht mehr herausgefunden werden kann (vgl. Sunstein 2006). Die Demokratie des Internets enthebt tendenziell von Verantwortung – und das ist der entgegengesetzte Weg zur klassischen Idee der demokratischen Partizipation, die den einzelnen Bürger ins Zentrum der Entscheidungsverantwortung stellte.

Diese Veränderungen der Form und Bedeutung sowohl von Partizipation als auch von staatsbürgerlicher Verantwortung sind weitere Zeichen dafür, wie radikal sich das Verständnis vom Gemeinwohl und von der politischen Freiheit der Regierten im Verhältnis zur Macht der Regierenden gewandelt hat. Am stärksten von diesen Wandlungsprozessen betroffen ist ausgerechnet die Institution der politischen Vertretung, die das freie Mandat direkt mit der individuellen Verantwortung (des gewählten Abgeordneten) und der Verantwortung der Wählerstimme verbunden hat. Dieses Prinzip der Repräsentation verändert seinen Charakter auch deswegen, weil die vermittelnden Instanzen, die politischen Parteien, angegriffen und, wie wir gesehen haben, sogar abgelehnt werden. Bis jetzt haben sie politische Vertretung möglich gemacht, indem sie Interessen artikulierten, den Pluralismus am Leben hielten, zwischen den Interessen der Gesellschaft und denen des Staates unterschieden und das freie Mandat per Gesetz durch das politische Mandat (also der Kontrolle der Abgeordneten durch ihre Partei) ergänzten (vgl. Calise 2010). Die Parteien haben der Zivilgesellschaft ermöglicht, an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken, ohne sie dabei zur Hauptfigur zu machen, die politische Entscheidungen in den Dienst eigener Interessen stellt (vgl. Bobbio 1984). Zudem haben sie Aufgaben politischer Bildung wahrgenommen, wenn es um die Ausbildung von Regierungsfähigkeiten ging. Sie haben die Bürger zur verantwortungsbewussten Teilhabe und Führung der Institutionen erzogen, damit die politische Souveränität nicht in den Verästelungen des Gildendenkens und Korporatismus zerstückelt wird. Damit haben sie die demokratischen Institutionen und das Gesetz vor Phänomenen der Zivilgesellschaft wie organisierten Interessengruppen und ungleicher Machtverteilung geschützt, ohne die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft aufzuheben (vgl. Urbinati 2006, Kap. 1).

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Wie wird die repräsentative Demokratie aussehen, wenn die Parteien wegfallen und Partizipation im Internet stattfindet, wenn sie also dem Modell entspricht, das der M5S oder die Bewegung der isländischen Verfassungsreform favorisieren? Wie kann man sicher sein, dass das Mehrheitsprinzip weiterhin die Antriebskraft der Demokratie bleibt, wenn die Meinungsbildung in den Händen besonders aktiver Minderheiten liegt, jene, die im Netz und/oder auf den Plätzen mitmachen? Wie kann man der Gefahr entgehen, dass “der Volkssouverän”, den die repräsentative Demokratie mit wohldurchdachten Verfahren und Regeln zur Norm erhoben hat, identifiziert wird mit der “Menge” oder der amorphen Masse jener, die lauter oder professioneller als andere ihre Stimme erheben? Im Grunde geht es darum: Wie schützt man die politische Gleichheit in einer Meinungsbewegung, die den belohnt, der am lautesten schreit oder häufiger als andere auf Twitter oder Facebook ist?

Diese Fragen vermitteln einen Eindruck von den weitreichenden, noch nicht geklärten Implikationen dessen, was ich direkte repräsentative Demokratie genannt habe. Sie durchläuft derzeit erstaunliche Experimentierstadien, die vorurteilslose Aufmerksamkeit verdienen, über deren Resultate wir jedoch noch kein positives Urteil abgeben können. Denn die Innovationen, die die Demokratie gegenwärtig erprobt, können dazu beitragen, die Macht der Bürger über die Regierenden und die Regierung zu erweitern und zu bereichern, sie können aber auch das Funktionieren der Institutionen und sogar die Kontrolle über Entscheidungen gefährden.

Das schon erwähnte Paradox zwischen der allgemeinen Anerkennung der Demokratie und dem Misstrauen gegenüber ihrer Praxis drückt sich in heftigen Protesten auf der Straße und der Abkehr von traditionellen demokratischen Regeln aus (vgl. Rosanvallon 2006). Gleichzeitig erzeugt es das höchst interessante Phänomen, dass neue partizipative Methoden und Formen der Konsensbildung ersonnen und ausprobiert werden. Das Paradox ist durchaus nützlich und entspricht im Übrigen dem Charakter der Demokratie, einem politischen System und einer Form politischen Handelns wie in einem permanenten Labor, wo sich deren außergewöhnlich innovative Natur zeigen kann. Denn die Demokratie ist eine Kraft gegen die Unbeweglichkeit, den Fatalismus des Status quo und vor allem gegen die von Vorurteilen getragene Ablehnung alles neu Entstehenden, die Angst vor den Risiken, die das Neue mit sich bringen kann.

Hannah Arendt definierte Politik als “Natalität”. Sie ruft neue Formen der Macht ins Leben, wenn freie und gleiche Bürger ihre Kommunikations- und Urteilsfähigkeit gebrauchen, um nach besseren Lösungen für Probleme suchen, die dem Wert der Staatsbürgerschaft in dem besonderen gesellschaftlichen Kontext, in dem sie entstanden sind, mehr Nachdruck verleihen können (vgl. Arendt 1958, S. 7-9). Heute haben wir das Experiment einer Politik als Natalität direkt vor Augen, obgleich es vielleicht ein weniger poetisches Ereignis ist als die revolutionären Erfahrungen, die Arendt inspirierten, wie die Gründung der amerikanischen Republik oder die Schaffung der Arbeiter- und Soldatenräte. Doch demokratische Neuerungen ereignen sich im Schlamm der Prosa, der Alltäglichkeit mit all ihren Widersprüchen, ihren auch bedauerlichen Ereignissen und Wendungen. In einer solchen Umbruchzeit ist alles offen und kann sich in entgegengesetzte Richtungen entwickeln.

Die Öffnung hin auf das Mögliche ist ein Aspekt dieser Phase der uns umgebenden Veränderungen, den wir trotz aller unbekannten Größen gar nicht hoch genug schätzen können. Wir sollten uns ins Gedächtnis rufen, dass Demokratie eine Politik und Regierungsform ist, die ständig von Ungewissheit und dem unvorhersehbaren Auftreten kritischer Situationen bedroht ist. Wir sollten uns ihre gleichzeitig idealistische und pragmatische Natur vor Augen führen, ihr ehrgeiziges Vorhaben, eine künstliche Welt aus Normen und Institutionen zu schaffen, dank derer sich Menschen, die sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, zueinander verhalten, als seien sie gleich, wenn sie über Gesetze entscheiden müssen, denen sie gehorchen sollen (vgl. Dewey 1927).

Die Demokratie ist Krisenregierung, weil sie das Haus der Politik, der Künstlichkeit und der normativen Erneuerung ist. Krise und Demokratie gehören also zusammen, wenn Demokratie sich als System und als Form der Politik dadurch auszeichnet, dass sie möglichen institutionellen Veränderungen gegenüber jederzeit offen ist und stets bereit, einmal getroffene Entscheidungen zu revidieren. Es gibt keine bessere Regierungsform als diese zur Bewältigung der permanenten Krise, in der menschliche Gemeinschaften sich befinden, wenn sie versuchen, die Probleme des Zusammenlebens zu lösen, die sie als autonome Personen unvermeidlich selbst hervorrufen. Denn als solche verzichten sie nicht auf die Geltung ihres Urteils und ihres Willens, und zur Durchsetzung ihres Willens ersinnen sie öffentliche Eingriffs- und Entscheidungsmöglichkeiten, dank derer alle die gleichen Chancen auf Gehör und das gleiche Stimmrecht haben. Das ist die Grundlage der Demokratie, von der man ausgehen muss, will man ihre regelmäßig wiederkehrenden Metamorphosen richtig einschätzen, vor allem jene, die wir gegenwärtig in unseren demokratischen Gesellschaften erleben.

Als Verbindung zwischen einander unbekannten und fernstehenden Personen, die zufällig am gleichen Ort geboren sind oder in der gleichen Gesellschaft leben, stützt die demokratische Gemeinschaft sich auf eine widerspruchsvolle Übereinkunft. In der demokratischen Stadt der Antike war die ethnische und territoriale Identität entscheidend für die politische Zugehörigkeit: Im Athen des Perikles mussten die Bürger, auch Autochthone oder “Erdgeborene” genannt, um politische Rechte zu besitzen, Eltern haben, die beide in Athen geboren waren – das Äquivalent des ius sanguinis, das wir heute kritisieren (vgl. Hansen 1993). Die moderne Demokratie wurzelt jedoch in der römischen Rechtstradition, die einen starken universalistischen Zug hatte und Gemeinschaft schuf, ohne Persönlichkeits- und Bürgerrechte zu verwechseln. Zudem wurde sie von den Revolutionen in Frankreich und Amerika inspiriert, die ihre politischen Verfassungen auf allgemeine Erklärungen der Menschenrechte gründeten, dem Versprechen einer Gleichbehandlung für alle. Das bedeutete eine Befreiung von Formen der Autorität, die auf den Fortbestand der Sippe oder Familie zielten oder in erster Linie die Traditionen der Ahnen wahren sollten – Formen des Machtanspruchs also, die Blutsverwandte oder in anderer Hinsicht Gleichgestellte zu etwas verbanden, das sich nicht auf andere Personen ausdehnen ließ.

Die moderne Verfassungsdemokratie hat verschiedene Formen sozialer Autorität abgeschafft, zum Beispiel jene, die Eltern über ihre Kinder oder andere Familienangehörige ausüben. Demokratie ist das Gegenteil von paternalistischer Macht, die persönliche Hilfe oder materielle Unterstützung im Tausch gegen Gleichheit verspricht. Auch die durch Wissen legitimierte Autorität, wie Lehrer sie über Schüler oder Unwissende ausüben, wird in der Demokratie abgelehnt. Diese Autorität beansprucht ihre Geltung etwa durch Eignungstests, deren Ergebnisse wiederum nur die Geeignetsten beurteilen können – ein offenkundiger Widerspruch, der zu einem infiniten Regress führt. Die Demokratie hat außerdem Autoritäten zurückgewiesen, die sich auf die Wahrung von Gesetzen der Vorfahren und auf nationale oder ethnische Traditionen gründen, wie jene Autorität, die die Alten gegenüber der unerfahrenen Jugend oder Patriarchen gegenüber gewöhnlichen Mitgliedern der Gemeinschaft geltend machen. Als Ersatz für diese hierarchischen Figuren hat die Demokratie Institutionen und unpersönliche Normen der Kontrolle und Überwachung von Entscheidungsprozessen geschaffen. Überwunden hat sie vor allem die Logik der Vorherrschaft auf dem Gebiet ökonomischer Bedürfnisse, wenn der Besitzer von Reichtümern und Produktionsmitteln Autorität über den beansprucht, der arbeitet und nichts besitzt außer dem Willen zu leben.

Mit der demokratischen Regierungsform schaffen und verteidigen Menschen eine neuartige Zugehörigkeit, die sich von allen oben genannten speziellen Zugehörigkeiten unterscheidet. Es handelt sich um eine vollkommen künstliche, politische Form der Zugehörigkeit, sie ist autonom und steht den verschiedenen sozialen und kulturellen Identitäten oder Stellungen der Menschen sogar entgegen. Zugehörigkeit zur Stadt als Bürger, die einander gleichgestellt sind in ihrem Recht Gesetze zu schaffen, damit sie im Gehorsam vor dem Gesetz ebenso gleich sind – das ist die erste, fundamentale Bedingung demokratischer Staatsbürgerschaft. Sie ist gleichbedeutend mit Autonomie, weil sie Bürgern Urteils- und Entscheidungsautorität verleiht, die dafür keine besondere Eignung wie Weisheit, technisches Wissen, ökonomische oder religiöse Macht besitzen müssen. Eben in dieser Autonomie, mit der die Bürger ihr Recht wahrnehmen, das eigene Leben selbst zu beurteilen und Probleme zu benennen, liegt der Keim für die permanente Krisenanfälligkeit demokratischer Gesellschaften.

Durch das Gleichheitsprinzip bei der Wahrnehmung des Rechts, sich Gesetze zu geben, entsteht eine bestimmte Form von Universalität. Denn dieses Prinzip hat den Ehrgeiz, kontextuelle Erwägungen jeder Art (soziologische, kulturelle, empirische oder historische) grundsätzlich aus der Verteilung der Macht zu verbannen, weil es darauf abzielt, die politische Macht dem Einfluss äußerlicher Faktoren zu entziehen, die den Einspruch des individuellen Urteils nicht dulden und nicht auf alle ausgedehnt und/oder nicht von allen genossen werden können. Als Regierungsform und Weise, Politik zu machen, beansprucht die Demokratie, eine künstliche, symbolische und normative Welt zu schaffen. Eine Welt, in der der oberste Imperativ der geschaffenen Ordnung lautet, Akzidenzien wie individuelles Glück oder Vorteile durch die Geburt so weit wie möglich zu neutralisieren (vgl. Rawls 1971). Sie will die Hypothek dieser akzidentiellen Bestimmungen auf das öffentliche Leben der Menschen und die politische Macht abschaffen. Darum sagt man, die Demokratie sei zusammen mit dem Nomos entstanden, als eine Gemeinschaft gewöhnlicher Menschen erfolgreich gegen Autoritäten protestieren konnte, die bis zu jenem Zeitpunkt Rechtmäßigkeit genossen und mit nicht hinterfragbaren, nicht verallgemeinerbaren Kriterien ebenso die eigene Führung beanspruchten wie die Untertanen zum Gehorsam zwangen. Zu diesen Kriterien zählten die wirtschaftliche Macht (Oligarchie und Plutokratie), das Alter (Gerontokratie), das männliche Geschlecht (Androkratie), technisches oder theoretisches Fachwissen (Epistemokratie), göttliche Inspiration oder religiöse Tradition (Theokratie), außerdem Wissen, Tugend oder Bewahrung der Traditionen der Gemeinschaft (Aristokratie) (vgl. Vernant 1991).

All diese Formen der Autorität sind untrennbar mit ihrer besonderen faktischen Voraussetzung verbunden, die weder durch einzelne Beschlüsse noch durch Entscheidung per Konsens auf andere Personen ausgeweitet werden kann. Ihnen hat die Demokratie eine und nur diese eine Form der Autorität (und der Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten) entgegengesetzt: jene, die sich auf die Auszählung der Stimmen und die Mehrheitsregelung zwischen erwachsenen Bürgern gründet. Darum hat bei dieser Regierungsform, wie Aristoteles in seiner Politik schrieb, keiner eine Machtposition inne, die nicht zeitlich beschränkt wäre und nicht auch von allen anderen eingenommen werden könnte: Vorläufigkeit, Rotation und Verallgemeinerbarkeit der Macht sind daher die Bedingungen politischer Freiheit (vgl. die Politik des Aristoteles). In der Demokratie gibt es kein im Voraus feststehendes Oben und Unten, und die Unterscheidung zwischen dem Machen und der Einhaltung von Gesetzen (dem Oben und Unten) ist auf jeden Fall eine der Übereinkunft, nicht der hierarchischen Ordnung. Darum willigen wir ein, Gesetzen und richterlichen Entscheidungen zu gehorchen (vgl. Raaflaub 1983). Tatsächlich ist die Geschichte der Demokratie eine Geschichte der Formen, mit denen die Gemeinschaft der Bürger erfolgreich versucht hat, die Macht einzuschränken, sie zu humanisieren, zu verhindern, dass diejenigen, die Macht ausüben, sie für immer behalten und nach Belieben Entscheidungen treffen. Rotation der Macht, Einschränkung ihrer Ausübung – dazu dienten Regeln für die direkte Teilnahme bei Versammlungen, das Prinzip der Auslosung beim Schwurgericht und bei Regierungsausschüssen sowie schließlich die Wahl der Volksvertreter auf der Basis direkter, allgemeiner Wahlen.

Gleichgültig, in welcher Form Demokratie verwirklicht wurde, ob direkt oder indirekt, immer beruht das quantitative Prinzip des von den Individuen ausgedrückten Konsenses auf einer generellen Vereinbarung über ihre Gleichheit. Die Individuen müssen im Hinblick auf die Ausübung politischer Macht ohne jede Unterscheidung gleichgestellt sein. Logisch folgt daraus, dass das Gegenteil von Demokratie die Aristokratie in den unterschiedlichen Formen der Macht durch Wissen, durch Fähigkeiten, aufgrund von Ehre oder Weisheit ist. Denn die Aristokratie beansprucht die Anerkennung einiger Weniger, sie lehnt unterschiedslose Gleichheit ab und legt fest, wer es verdient, Macht auszuüben und wer nicht. Das Kriterium dieses Verdienstes ist ein qualitatives, nicht quantitatives, und dem Belieben des Interpreten anheimgestellt. Doch wie sich leicht vorhersehen lässt, gerät die Aristokratie damit in eine Aporie, denn sie kann den Einzigen, der unter den Besten auswählt, nicht zulassen. Dieser müsste nämlich eo ipso der absolut Beste sein, wodurch die Aristokratie sich ihrer Legitimität berauben würde. Aus diesem Grund beruhte ihre politische Form jahrhundertelang auf Vererbung, die Auswahl war also vom Zufall der Geburt bestimmt und nicht durch bewertendes menschliches Eingreifen. Die Aristokratie kann nicht erklären, wer die Zugehörigkeit zur Gruppe der Aristokraten dekretiert, darum ist es letztendlich der gesellschaftliche Status, der als objektiver Beweis dienen muss. Wer sich also im Leben am meisten Reichtümer und Ansehen erworben hat, verfügt aus diesem Grund über Regierungsqualitäten, die demjenigen fehlen, der nichts besitzt. Doch unseligerweise ist das weniger eine Aristokratie als eine Oligarchie, die auf der Akzeptanz politischer Macht als direktem Reflex wirtschaftlicher und herrschaftlicher Überlegenheit beruht.

Schließlich müssen wir, um die Metamorphosen der heutigen Demokratie zu verstehen, wissen, was die Demokratie sein will und welche Grundlagen sie haben will, welche Versprechungen sie macht und welcher Mittel sie sich bedient, um diese zu erfüllen. Die Demokratie ist eine Regierung aller und für alle erwachsenen Individuen ohne jede weitere Unterscheidung. Es sind Individuen, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und sich Gesetze geben. Dies tun sie, als wären sie Fremde füreinander – Fremde, die manchmal nicht einmal dieselbe Sprache sprechen (wie wir in Europa oder viele Migranten in unseren Gesellschaften). Darum haben sie Verständigungsprobleme in Gesellschaften, die einer Collage aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen ähneln (genau so wurde Athen in der kritischen Schrift des Alten Oligarchen beschrieben, nämlich als eine an Identitäten und Kulturen, an kulinarischen Geschmäckern, Lebensstilen und Dialekten vielfältige Stadt) (vgl. Pseudo-Xenophon 1986). Fremde sind die Bürger der Demokratie füreinander auch dann, wenn sie dieselbe Sprache sprechen, dieselbe Religion haben oder eine kollektive Geschichte lernen, die von Gelehrten geschrieben wurde, um sie zu vereinigen. Sie sind Fremde, weil sie nicht durch Blutsverwandtschaft, Verwandtschaft oder wirtschaftliche Abhängigkeit aneinander gebunden sind.

Diese Aspekte der Fremdheit und der Künstlichkeit sind entscheidend, um den Wert der demokratischen Regierungsform und Politik angemessen würdigen zu können. Sie ist unter allen Formen am ehesten fähig, eine solche Realität zu akzeptieren, ja, sie zu ihrer Ressource zu machen, indem sie in ihren Grundlagen erklärt, dass es ohne Bedeutung ist, wer und wie wir sind, um vor dem Gesetz gleich zu sein und die gleiche Möglichkeit zu haben, am Entstehen dieses Gesetzes mitzuwirken. Die Tatsache, dass man als Mitglied einer politischen Gemeinschaft sagen kann, “Ich bin anders als alle anderen”, vermittelt einen Eindruck von der radikalen Künstlichkeit und Freiheit dieser Gesellschaft. Das erklärt, warum sie großen Ärger oder sogar Schrecken bei denjenigen auslöst, die – kraft ihrer Tugend, Heiligkeit, ihres Reichtums oder Wissens – beim Verleihen öffentlicher Funktionen höchst selektiv waren und sind, und die denen misstrauen, die ein Recht auf diese Funktionen beanspruchen, ohne einen anderen Verdienst zu haben als den des Gehorsams vor dem Gesetz oder der Zugehörigkeit zu derselben Rechtsordnung (vgl. Urbinati 2011).

Warum sind diese anscheinend abstrakten theoretischen Überlegungen heute so wichtig? Wir sollten nicht vergessen, dass die Geschichte der Demokratie einzigartig ist, obwohl es unterschiedliche Formen ihrer Verwirklichung gegeben hat und gibt. Die Demokratie ist ebenso einzigartig in ihren Grundlagen und Versprechen, die sich gleich bleiben, ob politische Autonomie nun durch direkte Entscheidungsverfahren oder durch die Wahl von Vertretern durchgesetzt wird. Geht man von diesen einheitlichen Prinzipien und Versprechen aus, erwirbt man die nötige Offenheit für die gegenwärtigen Wandlungsprozesse der Demokratie. Es gilt, die Triebkräfte zu verstehen, von denen die inneren Veränderungen der Demokratie ausgelöst werden, auch wenn ihre Wirkungen keineswegs vorhersehbar und nicht immer erfreulich sind.

Bibliographie

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Published 9 September 2013
Original in Italian
Translated by Annette Kopetzki
First published by Esprit 8-9/2013 (French version); Transit 44/2013 (German version); Eurozine (English version)

Contributed by Transit © Nadia Urbinati / Transit / Eurozine

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