Zweieinhalb Theorien über den demokratischen Kapitalismus

Ich möchte hier drei theoretische Ansätze zum Verständnis der Funktionsweise wie zur Rechtfertigung der Realität des demokratischen Kapitalismus gegenüberstellen. Ein theoretischer Ansatz kann dann als “komplett” bezeichnet werden, wenn er beides leistet: die Funktionsweise einer politisch-ökonomischen Struktur sowohl zu erklären wie zu rechtfertigen – beides natürlich immer in einer empirisch bzw. normativ bestreitbaren Weise. Bei den drei Theorien handelt es sich um die sozialdemokratisch-sozialmarktwirtschaftliche Theorie, die marktliberale Theorie und eine dritte, “inkomplette” oder “halbe” Theorie, die mangels eines besseren Namens “vom globalen Finanzmarkt getriebene Postdemokratie” heißen soll. Letztere ist deshalb unvollständig, weil sie zwar sehr wohl die “Logik” beschreiben kann, die die Realität der heutigen Märkte und Politik beherrscht, jedoch über kein normatives Argument verfügt – ein Argument, das die Arrangements der politischen Ökonomie und ihren Operationsmodus als tatsächlich für die Beteiligten / Betroffenen vorteilhaft auswiese – und so demonstrieren könnte, warum diese Realität gerechtfertigt und bestandsfähig ist.

Die sozialdemokratische Theorie des demokratischen Kapitalismus

Auf der rechtlichen und Verfassungsebene garantieren demokratische politische Rechte die Rechtsgleichheit der Bürger – wenn auch natürlich nicht die Gleichheit sozioökonomischer Ergebnisse. Die normative Prämisse bürgerrechtlicher Gleichheit ist dabei die strikte Entkoppelung von (ungleich verteilten) sozioökonomischen Ressourcen und (gleichen) politischen Rechten nach dem Prinzip der Nichtkonvertierbarkeit von Ressourcen in Rechte: Eigentum an Wirtschaftsgütern soll sich nicht in rechtliche Privilegien oder politische Macht oder den bevorzugten Zugang zu beidem umsetzen lassen. Entsprechend sollte ein niedrigerer sozialökonomischer Status die Bürger nicht in ihren politischen Einflusschancen beeinträchtigen. Gleichzeitig gilt aber, dass die Nutzung politischer Rechte durchaus einen bedeutenden Einfluss auf den relativen sozioökonomischen Status und die Statussicherheit der Bürger haben kann, wie sich an jedem demokratisch zustande gekommenen Steuergesetz zeigen lässt. Darin besteht die asymmetrische Verbindung zwischen wirtschaftlichen und politischen Ressourcen: Es soll insgesamt ausgeschlossen sein, wirtschaftliche Ressourcen in politische Macht umzumünzen, während es sehr wohl gestattet, ja ausdrücklich intendiert ist, dass sich gleiche politische Rechte auf die Verteilung von Wirtschaftsgütern auswirken.

Stock exchange

Stock exchange. Photo: worradirek. Source: Shutterstock

Diese Formel ist die Grundlage der normativen “sozialdemokratischen” und auch der “sozial-marktwirtschaftlichen” (“Wohlstand für alle!”) Theorie der kapitalistischen Demokratie: Die Gesetzgebungs- und Regierungsgewalt, in der sich die jeweils vorherrschenden Auffassungen von sozialer Gerechtigkeit spiegeln, beansprucht einen Vorrang gegenüber der Marktdynamik und darf die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen steuern, nicht jedoch umgekehrt. Genauer gesagt: Wann immer ein Kompromiss zwischen wirtschaftlicher Effizienz bzw. Wachstum einerseits und sozialen Rechten andererseits zu finden ist, liegt die Entscheidung in den Händen demokratisch gewählter und verantwortlicher Akteure, nicht bei wirtschaftlichen Akteuren. Es ist die Politik, die die Marktkräfte in Gang setzt, sanktioniert, reguliert und ihnen auf diese Weise einen institutionellen Rahmen gibt, mit dessen Hilfe dann der demokratische Staat den Wirtschaftsprozess so steuern kann, dass die doppelte Gefahr tiefer wirtschaftlicher Krisen und zerstörerischer sozialer Konflikte zuverlässig gebannt wird.

Eine zweite Annahme der sozialdemokratischen Theorie läuft auf eine Theorie über die Motive politischer Partizipation und Einflussnahme der Wirtschaftsbürger hinaus: Sie besagt, dass es angesichts eines eingespielten Vertrauens in die regulatorischen und finanzpolitischen Fähigkeiten des Staates auf der einen Seite und der ungleichen Verteilung der Lebenschancen in kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen andererseits ein “natürliches” Bestreben aller Teile der Bevölkerung, vor allem auch der weniger privilegierten, gibt, von ihren politischen Rechten (zu wählen, Interessengruppen zu bilden, am öffentlichen Meinungsstreit teilzunehmen usw.) tatsächlich Gebrauch zu machen. Das institutionelle Arrangement der liberalen Demokratie bietet demnach einen dauernden Anreiz für Bürger, ihre politischen Rechte auch in Anspruch zu nehmen, weil ihr Gebrauch Aussichten auf eine “gerechtere” Gestaltung von wirtschaftlicher Verteilung und soziale Sicherheit als Ergebnis staatlicher Interventionen verspricht. Gerade Angehörige weniger privilegierter Bevölkerungsschichten haben demnach, so die Theorie, gute Gründe, ihre Gerechtigkeitsvorstellungen und Forderungen nach Umverteilung und Sicherheit demokratisch zum Ausdruck zu bringen. Durch diese laufende demokratische Selbstkorrektur werde es kumulativ zur sozialen Einbettung und Zähmung der kapitalistischen Marktdynamik kommen, eben zu einer nicht nur leistungsfähigen, sondern auch “sozialen” und mithin nach Gerechtigkeitsmaßstäben legitimen und stabilen Marktwirtschaft. Dies sind die Umrisse einer heute zwar weithin obsoleten, aber eben “vollständigen” Theorie des demokratischen Kapitalismus, die sowohl die Funktionsweise des Marktes erklärt wie die normative Qualität der durch den demokratischen Staat verbürgten sozialen Ordnung ausweist.

Die marktliberale Theorie des demokratischen Kapitalismus

Dagegen beschreibt und rechtfertigt eine alternative Theorie der kapitalistischen Demokratie, die “marktliberale” oder “liberal-pluralistische” Theorie, eine streng symmetrische Trennung von Markt und staatlicher Politik. So wie Marktmacht nicht in politische Entscheidungsmacht übersetzbar sein soll, so soll es Staat und Politik auch nicht gestattet sein, (mehr als nur marginal und allgemein “ordnungspolitisch”) in die vom Markt geschaffene Güterverteilung einzugreifen. Diese Theorie, besonders in Verbindung mit einer “pluralistischen” politischen Theorie, geht davon aus, dass bei dieser symmetrischen Differenzierung von politischer und wirtschaftlicher Sphäre keine von beiden einen Vorrang gegenüber der anderen beanspruchen darf, weil sonst wirtschaftliche und andere Freiheitsrechte in Gefahr geraten würden. Danach sind zwar weder Staat noch Markt voneinander unabhängig, doch können die wechselseitigen Beziehungen weder empirisch noch normativ eine Hierarchie begründen; es handelt sich vielmehr um “Subsysteme” gleichen funktionalen Ranges. Diese Theorie, die ihre Ausformulierung in Schriften von Theoretikern wie Talcott Parsons, Seymour M. Lipset und Niklas Luhmann findet, beschreibt die Beziehung zwischen demokratischem Staat und kapitalistischer Wirtschaft als Interdependenzverhältnis ohne Primat. Der Input des politischen Systems in das Wirtschaftssystem besteht in der rechtlichen Garantie von Eigentumsrechten und Vertragsfreiheit sowie in der Bereitstellung von Infrastruktur und Dienstleistungen. Umgekehrt besteht der Input der Wirtschaft in die Politik aus Steuern einerseits und der Repräsentation pluralistischer Gruppeninteressen andererseits. Dabei ist angesichts einer hoch differenzierten sozialökonomischen Struktur keine der organisierten Gruppen stark genug, um ihre Forderungen gegen das politische System durchzusetzen und so politische Macht zu erlangen. Vielmehr erzeugt Druck Gegendruck und die Konkurrenz der Parteien und ihrer auf Zeit gebildeten Regierungen politischen Wandel. Was die Bürger und ihre Beteiligungsmotive und ihre politischen Präferenzen angeht, so werden sie sich in einer pluralistisch differenzierten modernen Gesellschaft typischerweise nicht nur mit einer bestimmten Gruppe identifizieren; sie werden sich, wie lose auch immer, mehr als einer Gruppe oder Identität zurechnen – eine Situation, die auf der Mikroebene (z. B. einer Person, die zugleich Arbeitnehmer und Wohnungseigentümer, dazu erziehungsberechtigt und kirchengebunden ist) zu dem heilsamen “cross pressure”-Phänomen führt, das die Intensität sozialer Konflikte abmildert.

Was sagt die liberal-pluralistische Theorie über die Muster der politischen Beteiligung und ihre Motive? Ihre Besorgnis gilt den Gefahren einer “exzessiven” Mobilisierung und Partizipation, die gemäß den sozialwissenschaftlichen Doktrinen der 1950er und 60er Jahre unter dem Verdacht standen, eine Quelle von Instabilität, wenn nicht von “totalitären” Gefährdungen zu sein.1 Eine “nachideologische” politische Kultur, die die Bürger dazu bringt, sich jeweils zu den meisten politischen Fragen distanziert und gleichgültig zu verhalten, gilt, zusammen mit einem Gefühl diffuser Loyalität für das politische System, so als Gewähr einer Stabilität, die allen Beteiligten zugutekommt.

Ein weiteres Merkmal des liberal-pluralistischen politischen Denkens ist die axiomatische Annahme einer großen und marktanalogen Distanz zwischen politischen Eliten (als Schumpetersche “politische Unternehmer”) und Nicht-Eliten (als politische “Konsumenten”). Ebenso wie halbwegs rationale Konsumenten wohl kaum einen Betrieb stürmen würden, mit dessen Erzeugnissen sie unzufrieden sind, sondern einfach zu einem anderen Anbieter abwandern würden, dessen Produkt ihnen besser gefällt, so ist vom demokratischen Bürger als dem politischen Konsumenten anzunehmen, dass sich seine eventuelle Unzufriedenheit nicht in kollektivem Kampf, sondern in einer geänderten individuellen Wahlentscheidung niederschlägt. Ein normativer Vorzug der so funktionierenden Demokratie ist demnach in ihrer Fähigkeit zu sehen, sozialen Frieden und politische Stabilität zu gewährleisten, während mit gleichem Ergebnis die sich selbst überlassenen Märkte für wachsenden Wohlstand sorgen.

Die “zweieinhalbte” Theorie: Postdemokratischer Finanzmarkt-Kapitalismus

Sowohl die sozialdemokratischen wie die liberal-pluralistischen Theorien sind heute – mitsamt ihren Annahmen über Art und Verteilung politischer Partizipation – in ihren analytischen wie normativen Aspekten weitgehend obsolet. Sie haben ihr Verfallsdatum an den historischen Wendepunkten erreicht, den der demokratische Kapitalismus in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und dann erneut nach 1989 erlebt hat. Wir lernen allmählich zu verstehen, wie und mit welchen Ergebnissen die politische Ökonomie globalisierter Finanzmärkte funktioniert und sich auf die politischen Strukturen und die Leistungsfähigkeit demokratisch verfasster, wenn auch partiell “postdemokratisch” operierender Nationalstaaten auswirkt. Was völlig fehlt, ist eine normative Theorie und Rechtfertigung der neuartigen realen Situation – also eine für alle Beteiligten und Betroffenen einsehbare Antwort auf die Frage, wozu sie eigentlich gut ist. Eine solche Antwort haben, wie gezeigt, die älteren Theorien mit Bezug auf Prinzipien sozialer Gerechtigkeit oder doch mit dem Versprechen individueller Freiheit und gewaltfreier politischer Stabilität geliefert. Die neuartige Situation aber ist eine, in der begünstigte Inhaber finanzieller Ressourcen sehr wohl Agenda und Entscheidungsproduktion des politischen Prozesses bestimmen, während sie selbst ebenso wie die aus dem Marktgeschehen resultierenden Verteilungsergebnisse immer weniger durch soziale Rechte und politische Interventionen beeinträchtigt bzw. korrigiert werden. Stattdessen stehen staatliche Interventionen unter dem Druck von Imperativen der “Märkte”.2 Verglichen mit dem sozialdemokratischen Modell kommt es im gegenwärtigen Zustand des globalisierten Finanzmarktkapitalismus zusammen mit einer endemischen Finanzkrise zu einer umgekehrten Asymmetrie: Es sind die Märkte, die die Agenda und die (fiskalischen) Schranken der Politik bestimmen, und es gibt wenig, was die Politik ihrerseits tun kann, um die Dynamik der “Märkte” einzudämmen – es sei denn, die politischen Eliten sind in selbstmörderischer Weise bereit, sich der Zweitschlagskapazität der “Märkte” auszusetzen. Diese Logik einer alles ergreifenden Vorherrschaft von Akkumulation, Profit, Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit, Austerität und “Kommodifizierung” über die Sphäre von sozialen Rechten, politischer Umverteilung und Nachhaltigkeit, wie umgekehrt die Wehrlosigkeit dieser Sphäre gegenüber der Ersteren beherrscht die gegenwärtige Version der kapitalistischen Demokratie (oder besser, nach Crouch, “Postdemokratie”)3 und wird dies auch auf absehbare Zeit tun.4 Diese Logik, wie sie sich vor unseren Augen und in globalem Ausmaß entfaltet, ist offensichtlich hinreichend mächtig und unangefochten, um, anders als in sämtlichen älteren Selbstbeschreibungen des demokratischen Kapitalismus, auch ohne eine korrespondierende normative Theorie, also aufgrund schierer Faktizität zu dominieren – als eine nacktbrutale Realität, die ohne einen Schimmer von Rechtfertigung in Kategorien wie “Fortschritt” oder “Gerechtigkeit” oder “Freiheit” oder “Stabilität” auszukommen scheint. Wegen des Fehlens dieser normativen Komponente, also eines legitimierenden Versprechens, bezeichne ich die neoliberale (oder marktradikale) Theorie als eine “halbe” Theorie: Sie beschreibt nur das Geschehen des globalisierten Finanzmarktkapitalismus, erspart sich aber eine Antwort auf die Frage, wozu er “gut” ist oder sein könnte.

Diese Logik beginnt mit der kategorischen Leugnung einer Konfliktspannung zwischen sozialen Rechten und den Rechten von Marktakteuren. Die Regierungen von Nationalstaaten, für soziale Gerechtigkeit verantwortlich und mit einschlägigen Forderungen, d.h. mit dem Widerspruch (“voice”) der Bürger konfrontiert, sind durch den übermächtigen, allgegenwärtigen Lärm (“noise”) des Sparimperativs weitgehend ertaubt. Die Dringlichkeit dieses Imperativs und zugleich die Schwierigkeit, ihm Folge zu leisten, werden von drei Faktoren bestimmt. Erstens gibt es eine Notwendigkeit, gescheiterte (oder vom Scheitern bedrohte) Finanzinstitutionen, zu deren bevorzugten Kunden Staaten zählen, zu retten. Zweitens können die Regierungen ihre Finanznöte nicht mit Steuererhöhungen bewältigen, weil das private Investoren in der “realen” Wirtschaft belasten und ihnen den Anreiz für (inländische) Investitionen nehmen würde. Drittens lassen sich die Ausgaben nicht kürzen, weil wachsende Teile des sozialen Sicherungssystems, bislang zumeist durch die “parafiskalischen” Beitragsmechanismen gedeckt, zunehmend aus allgemeinen Haushaltsmitteln finanziert werden, damit die Belastung der Arbeitgeber im Dienste ihrer “Wettbewerbsfähigkeit” abgesenkt werden kann. Von diesen drei Faktoren in die Enge getrieben, ist der Staat für die Interessen und Forderungen von Akteuren auf der “Nachfrageseite” kein plausibler Anbieter mehr. Um sich überhaupt noch Handlungsspielraum zu wahren, unterzieht sich der Staat einer schleichenden Transformation vom klassischen (Schumpeterschen) “Steuerstaat” zum “Schuldenstaat”. Das heißt, Ausgaben werden nicht von den gegenwärtigen Einnahmen gedeckt, sondern aus (erwarteten) künftigen Einnahmen – deren zukünftige Steuerbasis jedoch selbst durch den wachsenden, zur Bedienung der Schulden (statt zur investiven Bereitstellung von Dienstleistungen und Infrastruktur) aufgewandten Anteil des Staatshaushaltes dezimiert wird. Mit Streeck können wir von einer abnehmenden fiskalischen Handlungsfähigkeit des Staates wegen der Auszehrung seiner verfügbaren Ressourcen sprechen.5 Die endemische Finanzkrise engt demokratische Wahlmöglichkeiten zunehmend ein.6 Die Bürger müssen sich schlicht an die Tatsache gewöhnen, dass ein finanziell ausgehungerter Staat die falsche Adresse ist, wenn es um Interessen an Leistungsprogrammen der öffentlichen Hand geht.

Was werden die Bürger tun? Vier denkbare Wege

Diese Konstellation von Zwängen lässt wenig Raum für die Prozesse und Institutionen, die eigentlich den Kernbereich der demokratischen Entscheidungsproduktion ausmachen, nämlich Parteienwettbewerb, Wahlen, parlamentarische Repräsentation und Gesetzgebung. Schließlich ist, wo im Schuldenstaat bzw. “Wettbewerbsstaat” Entscheidungen über höhere Steuern und zusätzliche Ausgaben nicht mehr auf der Agenda stehen, eine Kernfunktion parlamentarischer Politik weitgehend aufgehoben. Stattdessen verlagern sich die Entscheidungen in andere Bereiche, die zumeist außerhalb der Reichweite der Teilnehmer konventioneller demokratischer Politik liegen, also von Wählern, Parteien und Parlamenten. Alle möglichen regierungsamtlich eingesetzten Kommissionen und treuhänderischen Institutionen (einschließlich der Zentralbanken) werden de facto mit politischen Entscheidungskompetenzen – in der EU oft supranationaler Art – ausgestattet, wie es bei europäischen Ad-hoc-Gipfeln (oder G-20-Treffen) der Regierungschefs geschieht. Diese Gremien, darunter auch die Europäische Kommission, sind parteipolitisch farblos und wickeln ihre Geschäfte hinter geschlossenen Türen ab, so dass sie demokratischer Transparenz und Rechenschaftspflicht weitgehend enthoben sind – wie in anderen Fällen ebenenübergreifenden Regierens, wo eine Tendenz zur systematischen Anonymisierung des Ortes politischer Verantwortlichkeit besteht.7 Es scheint, dass die repräsentativen Organe der parlamentarischen Demokratie ihre Kontrolle über Kernbereiche der Fiskal- und Haushaltspolitik verloren haben und stattdessen von Rating-Agenturen und anderen Mächten der Finanzmärkte getrieben werden.

Die Organe und Akteure der repräsentativen Demokratie haben seit der neoliberalen Wende in den 1980er Jahren (als sich in den Daten Anzeichen eines nicht nur generellen, sondern schichtenspezifisch verzerrten Verzichts gerade der unteren Schichten auf den Gebrauch ihrer politischen Rechte abzuzeichnen begannen) im Namen von Effizienz, Austerität, Privatisierung, Deregulierung, öffentlich-privater Partnerschaft, New Public Management usw. auch einen Großteil ihrer Kontrolle über Qualität, Preis und Verteilung öffentlicher Leistungen eingebüßt. Als Folge ist ein wachsender Teil der Bürger (insbesondere jene, die ein Interesse an staatlichen Investitionen und Diensten haben und von ihnen abhängen) zu der Ansicht gelangt, dass die Beteiligung an demokratischer Politik eine ziemlich fruchtlose Betätigung ist. Wir könnten von einer doppelten Lücke demokratischer Kontrolle sprechen: Die Regierungen verlieren die Kontrolle über die Steuern und den Finanzsektor, und in Reaktion darauf verlieren die Bürger das Vertrauen in die Idee der demokratischen Kontrolle der Regierungen und ihrer Politik.

Die offensichtliche Frage, welche die politischen Eliten ebenso wie die Sozialwissenschaftler heute interessiert, ist, was die Bürger wohl stattdessen tun werden. Es wäre wohl riskant zu erwarten, dass sich die Bürger auf Dauer in einen Zustand fatalistischen Schweigens zurückziehen, obwohl die Medienindustrie ihr Möglichstes tut, um diesen Zustand wahr werden zu lassen. Alternativ dazu gibt es vier denkbare Entwicklungen, die von sozialwissenschaftlichen Beobachtern wie von besorgten politischen Kommentatoren als Vorzeichen eines möglichen Wandels im politischen Verhalten von Teilen der Bevölkerung diskutiert werden.

Eine erste Variante ist die, die ich als nicht-institutionelle “Do-it-yourself-Politik” innerhalb der Zivilgesellschaft bezeichne. Ihre Symptome reichen vom individuellen Engagement kritischer Konsumenten (z.B. Konsumentenboykotts) über Protestbewegungen wie den mediterranen “Indignados” bis hin zu bürgerschaftlichen Initiativen in Form von Bewegungen, Spenden und Stiftungen, Selbsthilfe und privater Wohltätigkeit, die teilweise als Ersatz für unzureichende öffentliche Dienste einspringen. Solche unkonventionellen Formen politischer Partizipation können, wenn sie auch in ihrer sozialen Basis meist begrenzt sind auf jüngere gebildete städtische Mittelschichten, mit einem erheblichen Maß an sympathisierender öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen, sogar mit der zumindest rhetorischen Unterstützung politischer und ökonomischer Eliten und ihrem Wohlwollen für “bürgerschaftliches Engagement”.

Eine zweite Reaktion besteht in kurzlebigen Ausbrüchen von manchmal gewaltsamen Massenprotesten in Großstädten, wie wir sie in den vergangenen Jahren in London, Paris, Athen usw. erlebt haben. Im Gegensatz zu den Rebellionen von 2011 in Kairo und anderen Brennpunkten des “Arabischen Frühlings” waren diese Ausbrüche politisch weitgehend ziellos und teilweise ein Deckmantel für die Entfesselung aggressiver Massenaffekte. Jüngere Ereignisse haben die Rückkehr des gewalttätigen Mobs wieder auf die sozialwissenschaftliche Agenda gesetzt.8 Wolfgang Streeck warnt, “dass dort, wo legitime Kanäle politischer Artikulation verschlossen bleiben, illegitime an ihre Stelle treten könnten, und zwar zu eventuell sehr hohen sozialen und ökonomischen Kosten”.9

Eine dritte Alternative wäre ein weiteres Anschwellen des Rechtspopulismus, der Hochburgen in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (Österreich, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland) und, in etwas geringerem Ausmaß, in Frankreich, Polen, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern hat. Zentrale Elemente der von den rechten populistischen Bewegungen und Parteien mit beachtlichem Erfolg praktizierten Politik sind die sozialprotektionistische bzw. nationalistische Forderung nach einer Schließung der Grenzen (gegen ausländische Waren, Migranten und politische Entscheidungen, z.B. die der EU), die aggressive Intoleranz gegenüber (politischen, ethnischen, sexuellen, religiösen) Minderheiten im Namen einer ethnonationalen “Homogenität” und die Berufung auf charismatische Führer und erfolgreiche “politische Unternehmer” bei gleichzeitiger gegen die etablierte “politische Klasse” gerichteten Aggression und Verachtung. Die rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen sind die einzigen politischen Akteure in den Jahren seit 1990, denen eine Verbreiterung ihrer politischen Basis und deren wahlpolitische Mobilisierung gelungen ist.

Viertens gibt es sowohl in den Sozialwissenschaften10 als auch bei den politischen Parteien die intensive und dringliche Suche nach neuen und zusätzlichen Institutionen und Verfahren der politischen Beteiligung, die es den Menschen erlauben, sich ohne strategische Vereinnahmung durch politische Parteien zu engagieren und ihre Stimme direkter, häufiger und zu mehr Themen zu Gehör zu bringen, als die repräsentativen Institutionen es ihnen erlauben. Solche Projekte zur Demokratisierung der Demokratie verdienen wissenschaftliche Aufmerksamkeit und phantasievolle Experimente (vgl. den Aufsatz von Leggewie und Nanz in diesem Heft). Dabei sollten wir u.a. die sozialen Bedingungen und (mehr oder weniger) argumentativen und “deliberativen” Verfahren im Auge behalten, unter denen Interessen und politische Präferenzen gebildet werden, und nicht nur die Vermehrung der Gelegenheiten, sie zum Ausdruck zu bringen. Doch neue Verfahren allein dürften die Bürger kaum zu intensiverer Partizipation bewegen, solange in ihren Augen die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Politik (das, was sie “anzubieten” hat) weiter schrumpfen und das politische Leben in einem “Gefängnis des Marktes” eingesperrt bleibt.11

Vgl. Samuel P. Huntingtons Kapitel über die USA in: Ders., Michel Crozier, Joji Watanuki (Hg.), The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975, S. 59-118.

So sind, um hier nur für einen Augenblick empirisch zu werden, in sechs europäischen Krisenländern der EU mehr als ein Sechstel der Bürger im Alter von 15 bis 24 Jahren "NEET" (wie der neue statistische Ausdruck lautet: Not in Education, Employment or Training) -- und werden von der austeritätsgetriebenen Politik ihrer Regierungen wie von der EU faktisch auch als "Nieten" behandelt. (European Trade Union Institute (ETUI), Benchmarking Working Europe, Brüssel 2013, S. 77.)

Colin Crouch, Post-Democracy, New York 2004, dt.: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2011.

Vgl. Wolfgang Streeck, "The Crisis of Democratic Capitalism", in: New Left Review 71 (2011), S. 5-29, http://newleftreview.org/II/71/wolfgang-streeck-the-crises-of-democratic-capitalism; dt. "Die Krise des demokratischen Kapitalismus", in: Lettre International 95 (Winter 2011), S. 7-17.

Wolfgang Streeck, "Endgame? The Fiscal Crisis of the German State", MPIfG Discussion Paper 07/7, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, Mai 2007, S. 32 und 34, http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2007/25/pdf/dp07_7.pdf

Wolfgang Streeck und Daniel Mertens, "An Index of Fiscal Democracy", MPIfG Working Paper 10/3, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, April 2010, S. 5, www.mpifg.de/pu/workpap/wp10-3.pdf

Vgl. Claus Offe, "Governance. An 'Empty Signifier'?", in: Constellations vol. 16, nr. 4 (2009), S. 550-562.

Vgl. Franz Walter, Vom Milieu zum Parteienstaat. Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im historischen Wandel, Wiesbaden 2010, S. 214.

Wolfgang Streeck, "Public Sociology as a Return to Political Economy", http://publicsphere.ssrc.org/streeck-public-sociology-as-a-return-to-political-economy/

Vgl. z.B. Graham Smith, Power Beyond the Ballot. 57 Democratic Innovations from around the World. A Report for the Power Inquiry, London 2005, und ders., Democratic Innovations. Designing Institutions for Citizen Participation, Cambridge 2009.

Vgl. Charles E. Lindblom, "The Market as Prison", in: The Journal of Politics, vol. 44, nr. 2 (1982), S. 324-336.

Published 22 November 2013
Original in English
Translated by Andreas Simon dos Santos
First published by Transit 44 (2013) (German version); IWMpost 109 (January-April 2012) (English version)

Contributed by Transit © Claus Offe / Transit / Eurozine

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