Zwei oder drei Dinge über Albanien. Reisenotizen

Travel notes

Böll in Tirana lesen

“Den einfachen, würdevollen Charme des früheren Tirana gibt es nicht mehr”, sagt Artan Puto, der junge albanische Historiker und Redakteur der Zeitschrift Përpjekja. Der Anstieg einer völlig willkürlichen Bautätigkeit hat die alte Stadt zum Verschwinden gebracht. Von der Hochhausterrasse des COIN, einer jener Orte, wo sich die neue “gute Gesellschaft” Albaniens unter der noch milden Novembersonne gerne an den Tischen niederlässt und einen Cappuccino bestellt, kann man die stürmische Veränderung der Hauptstadt klar erkennen. Es bedürfte eines großen Films wie Zeit der Unschuld von Scorsese, meint Puto, um die eigenartigen Riten, Regeln, Kleider, Statussymbole, Häuser und Feriengewohnheiten jener Upperclass zu beschreiben, die um uns herum sitzt. Lichtjahre liegen zwischen ihr und den Erschütterungen der frühen Neunzigerjahre.
“Wer sind die Neureichen?”, frage ich ihn. Wie ist der neue Reichtum entstanden?
“Hauptsächlich mithilfe des Geldes, das über internationale Organisationen ins Land kam. Dann durch das Bauwesen. Vor zwanzig Jahren hatte Tirana 250 000 Einwohner, heute sind es fast eine halbe Million.”

The Italian Navy vessel Sibilia, which collided with the Albanian ship Kateri i Rades after it left from the Albanian port city of Vlore with 142 people on board. Photo: Eugenio Castillo. Source: Wikipedia

Die Urheber dieser radikalen städtebaulichen Veränderung sind die wahren Herren des heutigen Albaniens. Doch nachdem ihr kleines Reich für fünfzehn Jahre prosperierte, zeigt es jetzt, mit der Krise im Baugeschäft, erste Risse. Viele gehen unter; den Flinksten und Gierigsten unter ihnen gelingt es, in andere Geschäfte zu investieren. Zum Beispiel in das zunehmend monopolisierte Verlags- und Zeitungswesen (bekannt dafür, den Journalisten Hungerlöhne zu bezahlen) oder in das landesübliche Business mit privaten Schulen und Hochschulen. Tirana zählt mindestens dreißig private Universitäten, deren Studenten monatlich um die 200 bis 300 Euro aufbringen müssen (mehr oder weniger das Gehalt eines Staatsbediensteten). Viele dieser Hochschulen sind reine Diplomausgabestellen (ein uns in Italien seit der Affäre um den Bossi-Sohn Renzo und sein Gefolge von der Lega Nord vertrauter Mechanismus). Andere, die Seriösesten unter ihnen, ziehen die neue Mittelschicht heran. Die Kinder der Eliten hingegen gehen zum Studium direkt nach London oder in die Vereinigten Staaten.

Anlass meines Besuchs in Tirana ist die Buchmesse. Il naufragio, mein Buch über den Untergang der Kater i Rades vor der apulischen Küste im Jahr 1997, ist vor Kurzem ins Albanische übersetzt worden. Trotz seiner positiven Aufnahme durch die zum liberalen Spektrum zählende Presse habe ich den Eindruck, als seien die Vorgänge der Neunzigerjahre (insbesondere jene Katastrophe von 1997) im neuen Albanien der allgemeinen Verdrängung zum Opfer gefallen. Ardian Vehbiu, Autor von Erzählungen über die Zeit des Totalitarismus und eines Essays mit dem Titel Kundër purizmit (“Gegen den Purismus”, 2012), der den grassierenden, identitätsstiftenden Nationalismus unter die Lupe nimmt, bestätigt mir diesen Eindruck im Gespräch. “Für die Dramen der Vergangenheit interessiert sich nur eine winzige Minderheit von Intellektuellen.” Alle anderen wollen bestimmte Ereignisse lieber vergessen, weil sie gleichbedeutend sind mit Armut, Elend und Chaos. Nicht nur die Neureichen – auch die äußerst schmale Mittelschicht oder die ins Stadtzentrum drängenden Massen der Außenbezirke, die große Mühe haben, sich bis zum Monatsende über Wasser zu halten. Vergessen wollen auch die Studenten, die sich in großer Zahl zwischen den Buchmesseständen herumtreiben. Sie blicken in die Zukunft, träumen von einem anderen Leben.

Diese Verdrängung bringt zwei Dinge mit sich. Zum einen scheint die italienische Präsenz (die sich noch an den Namen von Banken und Restaurants oder den Produkten in den Supermarktregalen ablesen lässt) für die Albaner an Bedeutung zu verlieren. Wir sind nicht mehr das gelobte Land, und es ist tatsächlich schwer, einen Hiesigen unter fünfundzwanzig zu finden, der Italienisch versteht – vor zehn Jahren noch völlig undenkbar. Heute sprechen die jungen Leute perfekt Englisch, ganz anders als ihre Altersgenossen auf der anderen Seite der Adria. (Offensichtlich hat dieser Bedeutungsverlust nicht zuletzt mit unserer Unfähigkeit zu tun, einen wahrhaft transnationalen Dialog zu führen beziehungsweise die radikalen Umwälzungen unseres Nachbarlandes zu begreifen.)

Zum anderen hat die Auslöschung einer kritischen Erinnerung an die Neunzigerjahre zur Folge, dass eine objektive Untersuchung der politischen Vorgänge zusehends unmöglich wird. Heute scheint Albanien eines der freiesten Länder der Welt zu sein, doch sind noch immer dieselben Personen an der Macht, die aus der dritten und vierten Reihe der Kommunistischen Partei stammend bereits in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre an der Macht waren. “Die Struktur der öffentlichen Rede”, sagt Vehbiu bei unserem Gespräch, “die bei Ministern oder sonstigen politischen Führern gebräuchliche Syntax ist dieselbe wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Die Begriffe mögen wechseln (statt vom Kommunismus spricht man beispielsweise von Europa), aber am Stil des politischen Diskurses hat sich nichts geändert.”

Die Hauptstadt ist in diesen Tagen in ein Meer von Nationalfahnen getaucht – beinahe so, als sollte diese Kontinuität samt der Probleme, die neun Zehntel der Bevölkerung belasten, verschleiert werden. Man feiert den 100. Jahrestag der albanischen Unabhängigkeit von 1912, aber nicht nur an den Regierungsgebäuden entlang des Boulevards sind die Landesflaggen gehisst. Aus jedem Wohnhaus wehen sechs oder sieben von ihnen, so als stehe das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft bevor.

Die Buchmesse findet im Kongresszentrum statt, in einer Gegend der Stadt, deren Architektur noch aus der Zeit der faschistischen Besatzung stammt und an eine kleinere Reproduktion des EUR-Viertels in Rom erinnert. Weite Räume, imposante Kolonnaden im Stil des Razionalismo. Unter den Büchern, die verkauft werden, sind nicht wenige, deren Verfasser italienische Autoren sind. Seien es die Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts (Calvino, Buzzati, Silone, Levi), seien es jüngere Autoren (Eco, Tabucchi, Ammaniti, Saviano, Carmine Abate, Michela Murgia). Überhaupt hat man den Eindruck, als seien die Albaner ein großes Übersetzervolk. Kein europäischer oder amerikanischer, mehr oder weniger bekannter Autor, der nicht übersetzt wäre. Wenngleich – darauf macht mich ein Journalist aufmerksam – die Qualität der Übersetzungen häufig zu wünschen übrig lasse: “Viele haben sogar Nobelpreisträger ruiniert …”

Meine Verlegerin, Arlinda Dudaj (Ansprechpartnerin vieler italienischer Verlage, von Mondadori bis Feltrinelli), vertraut mir an, dass die Verlagskrise inzwischen auch Albanien erreicht habe, in derselben Weise und mit denselben unbarmherzigen Absatzeinbrüchen wie in Italien. Zahllose Verleger beklagen Einbußen von zwanzig bis dreißig Prozent. Wahrscheinlich werden nur wenige in den kommenden Jahren überleben, in einem Land, dessen wirtschaftliche Krise hauptsächlich von den beiden großen Nachbarn, Italien und Griechenland, abzuhängen scheint.

Unter den von mir erworbenen Büchern ist es vor allem die Übersetzung des Böll-Romans Ansichten eines Clowns, die meine Aufmerksamkeit erregt. Übersetzt wurde das Buch von Ardian Klosi, kosmopolitischer Schriftsteller, Journalist, anspruchsvoller Verleger, Umweltschützer, eine der interessantesten und scharfsinnigsten Stimmen im posttotalitären Albanien. Im Frühjahr 2012 nahm sich Klosi das Leben, und sein Selbstmord, der im weiten Umkreis aus Freunden, Intellektuellen, Weggefährten und politischen Kämpfern einen schweren Schock auslöste, erinnerte mich an den Freitod Alex Langers. Klosis Übertragung von Böll machte mich betroffen, denn ein Fünftel des Buches war auf grauem Hintergrund gedruckt. Als ich seine Nichte Rozi nach dem Warum fragte, antwortete sie mir, die “grauen Seiten” gäben jene Stellen wieder, die bei der ersten Publikation des Buches, 1985, zensiert worden seien. Diese Passagen sprechen über Sex, Religion, Liebe (“damals verbotene Themen”). Klosi wollte die Neuausgabe in dieser Form publizieren. Eine unerbittlichere Darstellung des Irrsinns der Diktatur lässt sich kaum denken: Ausgerechnet dieses Buch, diese Abrechnung mit dem schwerfälligen Prozess der Entnazifizierung – zensiert aufgrund eines stumpfsinnigen Moralismus.

Am Abend gehe ich allein durch die Straßen des Stadtteils “Der Block”, der “verbotenen Stadt”, in der, von Soldaten bewacht, sowohl der Diktator als auch die Politbüromitglieder und ihre Familien wohnten. Nur wenige Gebäude aus dieser Zeit sind erhalten geblieben, darunter die heute unbewohnte Residenz von Enver Hoxha. “Der Block” ist das Herzstück der städtebaulichen Veränderung Tiranas. Hier lebt jetzt die neue Upperclass. Nachts füllen sich die Lokale, Diskotheken und Lounge Bars (die in einer solchen übergroßen Menge vorhanden sind, wie man sie nicht einmal in Trastevere antrifft) mit Leuten, die aus ihren SUVs und Mercedes steigen. Hier also schlägt das Herz der sozioökonomischen, nicht zuletzt ästhetischen, Macht des neuen Albaniens: Der Sturm auf das Winterpalais ereignet sich mithilfe von Drinks und lärmender Musik.

Die Reise in den Süden

Pasolini hat einmal sinngemäß gesagt, die Dritte Welt begänne in den Außenvierteln Roms. Dasselbe dachte ich, als ich durch Tirana lief. Dazu muss man nicht bis in die äußerste Peripherie vordringen. Es reicht schon, sich ein paar hundert Meter vom Stadtzentrum zu entfernen: Bereits hinter der amerikanischen Botschaft macht sich eine andere Welt bemerkbar, völlig verschieden von der des “Block” oder des Boulevards. Ein Labyrinth aus wirren Gassen, baufälligen Häusern, kaputtem Asphalt und Pfützen … aber auch etlicher kleiner Geschäfte, die alles Mögliche verkaufen, Straßenhändler, überfüllter Cafés, die zu jeder Tag- und Nachtzeit geöffnet haben: ein Gewimmel levantinischen Lebens.

Albanien ist eine Überlagerung ganz unterschiedlicher Schichten, ob sie nun zeitlicher oder baulicher Art sind. Vielleicht ist es übertrieben, von Dritter Welt zu sprechen (im Grunde war das auch hinsichtlich der römischen Vorstädte übertrieben). Mit Sicherheit aber ist es eine andere Welt, die auf jene des verzerrten Fortschritts einstürmt, der das Land ergriffen hat. Eine Welt aus Männern und Frauen, die ihr Leben nur unter größten Mühen bewältigen.

Mit Fatos Lubonja, dem Schriftsteller, den die Kommunisten zu Zwangsarbeit verurteilten und der siebzehn lange Jahre in einem Gulag verbrachte, diskutierte ich die letzte Ausgabe der von ihm geleiteten Zeitschrift Përpjekja, eine monografische Nummer, die den nationalen Mythos um Gjergj Kastrioti Skanderbeg dekonstruiert, der im 15. Jahrhundert für mehr als zwanzig Jahre den überwältigenden Kräften des Osmanischen Reiches die Stirn bot. Die Zeitschrift erschien exakt in den Wochen der sich intensivierenden Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der albanischen Unabhängigkeit (28. November), und ihr antinationalistischer Charakter stand in krassem Gegensatz zur patriotischen Euphorie, die das Land in diesen Tagen beherrschte. Die von Lubonja vertretene These ist interessant. Sie besagt, dass der Mythos Skanderbeg für die Konstruktion des albanischen Nationalkommunismus zentral sei, einer zunehmend leblosen Ideologie, die aber umso dringlicher wurde, je radikaler Enver Hoxha mit den anderen Staaten des Ostblocks brach und das Land in die eigenen Grenzen einschloss. Heute, fährt Lubonja fort, wird diese Ikonografie nicht etwa verworfen, sondern, im Gegenteil, in einer eigentümlichen Form der Kontinuität für andere Zwecke weiterhin benutzt. Vom Nationalkommunismus ist man zu einer national geprägten europäischen Idee übergegangen. Der Mythos um Skanderbeg (dem es nicht an antiwestlichen Zügen fehlt) dient nicht zuletzt dazu, den Anspruch Albaniens auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu bekräftigen. Eine wahrhaft paradoxale Spiegelfechterei.

Gleichzeitig habe ich den Eindruck, als verschleiere der neue albanische Nationalismus nicht nur die soziale Krise, sondern verberge auch ganz andere, regionale Widersprüche. Immer wieder höre ich: “Die politische Auseinandersetzung regionalisiert sich.” Sali Berisha wird immer mehr als Mann des Nordens wahrgenommen, und in der Tat hat er seine Hochburgen im bäuerlichen Norden an der Grenze zum Kosovo. Umgekehrt entwickelt die Sozialistische Partei, die stets im Süden stark war, eine zunehmend meridionale Vorstellung Albaniens. Die politische Landkarte ist in wachsendem Maße zweigeteilt. Diese Spaltung scheint unter anderem auch die sprachlichen Unterschiede zu vertiefen. Tirana, die stürmisch veränderte Hauptstadt und wichtigstes politisches Streitobjekt, liegt mittendrin.

Dass der Nationalismus einen ausgeprägten Regionalismus verdeckt, erkennt man auch, wenn man das Land durchfährt. In Vlora beispielsweise, der Stadt, wo der Unabhängigkeitsprozess im Jahre 1912 seinen Anfang nahm, erinnert man sich an diese Ereignisse fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem hier geborenen Ismail Qemali, der so etwas wie einen albanischen Mazzini darstellt. Überall in dieser Stadt am Meer stößt man auf sein riesiges Konterfei. In der Hauptstadt hingegen kommt mir die Erinnerung an ihn wesentlich bescheidener vor.
In Vlora hielt ich mich für eine weitere Buchvorstellung auf. Mit den Leuten vom Verlag Dudaj durchquerte ich das Land im Wagen: Eine lange Autobahn, für die keine Straßennutzungsgebühr verlangt wird, verbindet inzwischen den Norden Albaniens mit dem Süden. Zu beiden Seiten, zwischen zahllosen Tankstellen von Taçi Oil (Rezart Taçi ist jener Erdölindustrielle, der den Fußballklub von Bologna kaufen wollte), erstreckt sich ein von der Hauptstadt grundverschiedenes Land. In Durrës trifft man auf eine endlose Reihe von Hotels und Hochhäusern, die direkt bis ans Meer reichen – die Stadt hat ihre Küste zerstört. Die dichte Verbauung des Meeresufers ist eine der schlimmsten Schandtaten des heutigen Albaniens. Die andere besteht in der Entsorgung des Mülls. In einem Land, das zur Hälfte noch in Dörfern lebt, wird der Abfall überwiegend in der freien Natur verbrannt. Vor dreißig Jahren war das vielleicht noch erträglich. Im gegenwärtigen, von Plastik bis in seine letzten Schluchten überschwemmten Albanien, legt man auf diese Weise die Grundlage für eine Umwelttragödie.

Fier wiederum erinnert noch in vielem an das alte Albanien. Die kleinen, schlechtbeleuchteten Kioske, die auf den Verkaufstischen zur Schau gestellten, noch lebendigen Truthähne, die armseligen Bars, in denen man Raki oder türkischen Mokka trinkt. “Dir gefällt das Exotische”, fährt mich meine Verlegerin, Arlinda Dudaj, an, und entlarvt mit wenigen Worten, was Edward Said als “schlechten Orientalismus” gebrandmarkt hätte. Und doch kann ich nur beeindruckt sein, als wenige Kilometer hinter der Stadt ein altes Gewächshaus aus Glas auftaucht, das sich über mehrere Hektar erstreckt. Inzwischen ist es in Verfall begriffen, doch das Glas ist noch da, an seinem Platz: Eine Kathedrale agrokulturellen Ingenieurswesens inmitten der Felder. Im Süden ist Albanien eine einzige Abfolge von Olivenhainen, nicht sehr anders als auf der anderen Uferseite, an der salentinischen Küste.

Auf dem letzten Filmfestival von Turin wurde der Film Anija (“Das Schiff”) von Roland Sejko vorgeführt, der die letzten dreißig Jahre der albanischen Geschichte erzählt, indem er von den Überquerungen des Meeres ins verheißene Land Italien berichtet: Boote legten von ebenjener Küste ab, die wir gerade entlangfahren. Der Film ist voller Bilder und Interviews, die an die ersten albanischen Anlandungen in Brindisi im März 1991 erinnern, fünf Monate vor der Ankunft der Vlora im Hafen von Bari.

Sejkos Film ist von besonderer Schönheit, nicht zuletzt, weil er sich auf reichhaltiges, zeitgenössisches Material des albanischen Fernsehens stützt: So befähigt er uns dazu, eine Welt wahrzunehmen (das Leben unter der Glocke des Totalitarismus; der Wunsch zu fliehen), die heute verschwunden ist. Darüber hinaus gibt es Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die einem den Atem rauben. Sie zeigen ein Gerichtsverfahren, das im Januar 1978 in Berat stattfand. Einige junge Leute (“asoziale Elemente”) werden zum Tode verurteilt, nur weil sie italienische Musik lieben und – so zumindest behauptet die Anklage – die Flucht ins Ausland geplant hätten.

Während wir die Vororte der Stadt Vlora durchqueren, muss ich wieder an ihre vor Angst versteinerten Blicke denken, als das Urteil verlesen wird. Hier, in Vlora, ist die Präsenz Italiens und der italienischen Sprache immer noch spürbar, wesentlich stärker als in jeder anderen Stadt Albaniens. Doch selbst in dieser Stadt, angesichts der veränderten Küste, der Gebäude auf den Klippen, der Touristendörfer für die Urlauber aus dem Norden oder von der anderen Seite des adriatischen Meeres, kommt es mir vor, als seien die versteinerten Blicke für das kollektive Bewusstsein nur noch von archäologischem Interesse.

Nach der Vorstellung des Buches haben wir keine Zeit mehr, unsere Reise nach Süden fortzusetzen, gegen Abend müssen wir nach Tirana zurückkehren. Wie schade. Angestachelt durch die Erzählungen Artan Putos auf der Autofahrt, hätte ich gerne noch Ksamil, den tiefsten Punkt im Süden, besucht, zehn Kilometer hinter Saranda, gegenüber der Insel Korfu. “Früher”, sagte Puto, womit er “zu Zeiten des Regimes” meinte, “gab es dort einen wunderschönen Orangenhain, gleichzeitig ein Schauspiel der Natur wie der Kulturlandschaft. Das war einmal: Wie so viele andere Dinge im neuen Albanien, wurde er von der Tourismusindustrie dem Erdboden gleichgemacht.”

Im Grunde, sage ich mir im Stillen, ist es vielleicht besser, das nicht gesehen zu haben. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Zerstörung einer Zitruspflanzung eines der schlimmsten Zivilisationsverbrechen ist – aber obwohl ich mir den Kopf zerbreche, während wir auf der für das Unabhängigkeitsfest fahnengeschmückten Straße entlangfahren, erinnere ich mich nicht mehr, wo.

Noch einmal zur Verdrängung des Jahres 1997

Ich will es präziser fassen. Was mich auf meiner letzten albanischen Reise am meisten schockierte, das war die totale Verdrängung der Revolte von 1997 (die grausame Explosion der Gewalt, die innerhalb weniger Monate dreitausend Menschen das Leben kostete). Im Laufe meines Aufenthalts passierte es oft, dass ich einen von der Regierung Berisha in Auftrag gegebenen und von sämtlichen Kanälen ausgestrahlten Propagandaspot im Fernsehen sah. In wenigen Sekunden erinnert er an die letzten hundert Jahre, von der Unabhängigkeit Albaniens 1912 bis zu den Feierlichkeiten von 2012. Alle Protagonisten der nationalen Geschichte treten auf: Sogar Enver Hoxha hat einen Platz im Pantheon (gerade so, als ob bei uns, anlässlich der Feierlichkeiten zum 150. Jahrestages der Einigung Italiens, in einem Atemzug Cavours, Manzonis und Mussolinis gedacht würde). Breiter ikonografischer Raum wird auch den Bewegungen gegen das Regime eingeräumt (mit Berisha als damaligem Anführer der Opposition) und der Fahrt des Flüchtlingsschiffes Vlora zur apulischen Küste. Danach der Sprung ins neue Jahrhundert. In der Mitte verschluckt ein gewaltiges Loch die Ereignisse von 1997 und die Frage, wer für sie die politische Verantwortung trägt. Es kommt einem vor, als sei man in ein Buch von Philip K. Dick geraten – ein Teil der nationalen Geschichte ist schlicht im Nichts versunken.

Seit 1997 sind fünfzehn Jahre vergangen, seit dem Kollaps des Pyramidenspiels und dem Chaos, das darauf folgte, ein Chaos, das man in Italien nur als Gefahr neuer Flüchtlingswellen wahrnahm. In Wirklichkeit sind jene Monate der Schlüssel, um die zeitgenössische albanische Geschichte zu verstehen. Ein Land, das gerade erst den Tunnel des rigidesten stalinistischen Systems verlassen hatte, schien plötzlich unter den Illusionen des schnellen Geldes zusammenzubrechen. Ein Zufall? Alles andere als das. Für alles, was passierte, gab es eine bestimmte, fest verankerte politische Verantwortung, sei es durch die Regierung, sei es durch den Präsidenten der Republik (Sali Berisha höchstpersönlich), die mit Rückendeckung westlicher Botschaften die Bevölkerung dazu ermuntert hatten, in das Pyramidenspiel zu investieren: Als auf immer größeren Massendemonstrationen ihr Rücktritt verlangt wurde, klammerten sie sich an die Macht. Auch die Oppositionsparteien erwiesen sich als unfähig, auf die Ereignisse angemessen zu reagieren. Die albanische Krise von ’97 war das Ergebnis des In- und Miteinanders von politischem Byzantinismus und ökonomischem Kollaps. Mit der gewaltsamen Unterdrückung der absolut gerechtfertigten, sozialen und politischen Revolte, stürzte Albanien ins Chaos und bewaffnete Banden übernahmen, vor allem im Süden des Landes, die Kontrolle.

Der schon erwähnte Fatos Lubonja hat jenen Monaten einen Roman gewidmet: 1997. Apokalipsi i rremë (“1997. Eine falsche Apokalypse”; 2010), eines jener Bücher, das ich nach Albanien mitnahm, fast so, als handele es sich um eine historische geografische Landkarte. Kein Essay, kein Erinnerungsbuch, sondern ein historischer Roman, in dessen Mittelpunkt Lubonjas Alter Ego Fatos Qorri steht: Ein Roman, in dem sich die Tagebucheintragungen der Hauptfigur mit der Erzählung in der dritten Person abwechseln, die den Konvulsionen im ganzen Land Rechnung trägt. Was im Buch erzählt wird, ist auf dramatische Weise wahr: Die Apokalypse des Titels wird im Laufe der sich überschlagenden Ereignisse immer traumatischer. Wenn sie gleichzeitig “falsch” genannt wird, hat das seinen Grund darin, dass die Proteste entgleisten. Die Revolte glitt ab in Anarchie. Und am Ende hatte sich gar nichts verändert – wie im Roman Der Gattopardo von Giuseppe Tomasi di Lampedusa.

Lubonja spielte damals in der Zivilgesellschaft eine aktive Rolle. Neben Kurt Kola und Daut Gumeni war er die treibende Kraft des Forums für die Demokratie: ein heterogener Zusammenschluss aus Vereinigungen, ehemals politisch Verfolgten und einfachen Oppositionellen, die eine echte Wende verlangten. Doch im neuen Kurs, eingeleitet von den Leuten um Sali Berisha (der in den 2000er-Jahren erneut an die Macht kommen sollte), verbarg sich in Wirklichkeit eine Menge Altes.

In einem Interview, das kürzlich von der albanischen Zeitschrift Mapo veröffentlicht wurde (auf Italienisch ist es in den Albanianews nachzulesen), gab Lubonja zu: “Vielleicht war meine Perspektive ein wenig zu idealistisch: Im Jahr ’97 zum Erfolg zu führen, was uns im Jahr ’91 misslungen war, nämlich die Überreste der Diktatur aus eigener Kraft zu beseitigen, ohne Hilfe von außen, wie etwa den Fall der Mauer.” Und weiter: “Jene Erschütterung und Auflösung damals betrachte ich als entscheidenden Einschnitt für alles, was danach kam: Eine politische Klasse, die nur an sich selbst denkt, die sich bereichert und macht, was sie will, dass es zu Morden kommt, Zerstörungen, und niemand jemals bestraft wird.”

Jenseits der harten politischen Urteile, die der Roman fällt (und die man nur teilen kann), gibt Lubonjas Buch eine ganze Epoche wieder und macht darüber hinaus klar, dass diese Vergangenheit zwar vergessen sein mag, aber in den Eingeweiden des Landes weiter wuchert, das einer unsicheren Zukunft entgegengeht. An einer Stelle schreibt Lubonja über die schlimmsten Tage der Gewalt in Vlora: “Alle feuerten in den Himmel. Die größte Gefahr ging vom Wahnsinn und der Panik unter den Menschen aus, die nicht wussten, was vor sich geht und was morgen mit ihnen passieren würde. Die Apokalypse schien ausgebrochen zu sein, aber es war eine falsche Apokalypse. Sie würde nichts Neues mit sich bringen. Sie sollte alles so belassen, wie es schon vorher gewesen war.”

Eine Frage beschäftigt mich wieder und wieder: Wird es möglich sein, die Grundlage für eine gemeinsame Geschichte auf beiden Seiten der Adria zu schaffen? Romane, Erzählungen und Berichte, die keine Nabelschau betreiben und versuchen, die andere Seite zu sehen, scheinen diese Richtung einzuschlagen. Vielleicht sind es nicht viele, aber es gibt sie. Und manchmal sind sie die einzigen Waffen, über die wir verfügen, gegen die Kräfte des Vergessens und der Verdrängung.

Nachbemerkung: Der Wahlsieg Edi Ramas

Der Sieg des linken Zentrums unter der Führung von Edi Rama bei den vergangenen albanischen Wahlen markiert vermutlich das Ende der Ära Sali Berishas, der nicht nur acht Jahre lang Ministerpräsident war, sondern auch, in den postkommunistischen Neunzigern, nicht zuletzt während der schweren Krise von ’97, Präsident des Landes. Berisha, Chef der Demokratischen Partei, war der starke Mann der umstrittenen posttotalitären Übergangszeit, in der der Byzantinismus der Politik im scharfen Gegensatz zu den raschen Veränderungen der Gesellschaft stand.

Die letzten Wahlen verraten uns viel über das Land: Welcher Dialog könnte in den kommenden Jahren aufgenommen werden? Die Stimmenverluste für die Demokratische Partei sprechen eine deutliche Sprache. Trotz der geringen Wahlbeteiligung zeigt die Anti-Berisha-Abstimmung, dass ein Großteil der Albaner, die an die Urne gingen – darunter viele in Italien oder Griechenland lebende Auslandsalbaner – auf einen neuen politischen Kurs dringen. Heute steht das Land vor einer Zukunftsentscheidung: Wird man die lange Übergangszeit beenden und den Weg der europäischen Integration einschlagen, was alle Welt zu wünschen scheint, oder wiederholt man die schlimmsten Fehler der Vergangenheit.

Der sozialistische Kandidat, Edi Rama, Tiranas Bürgermeister von 2000 bis 2011, verkörperte den Wechsel. Doch hängen ihm noch zwei politische Mühlsteine um den Hals. Der erste: die umfassende Erneuerung der Sozialistischen Partei, die aus der kommunistischen Arbeiterpartei hervorging und deren Vorsitzender für lange Zeit der umstrittene Fatos Nano war, ist erst zur Hälfte gelungen. Die zweite: Ramas wichtigster Koalitionspartner, Ilir Meta (der über 16 von insgesamt 84 Mehrheitsabgeordneten verfügt), war bis sechs Monate vor den Wahlen noch ein Verbündeter Sali Berishas.
Für seine Gegner ist Meta (selber einst Mitglied der Sozialistischen Partei) das Symbol des politischen Opportunismus. Im Januar 2011 kam es zu einer Massendemonstration der Opposition in einem Korruptionsfall um den damaligen Vizepremier Ilir Meta. Die Polizei schoss auf die Menge, wobei vier Personen zu Tode kamen. Doch um Berisha zu besiegen, musste sich Rama nun ausgerechnet mit ihm verbünden. Es stellt sich die Frage, welchen Bedingungen seine Regierung unterliegen wird.

Dennoch scheint in Albanien ein neuer Wind zu wehen. Rama wurde nicht nur von den jüngeren Wählern und der städtischen Mittelschicht ins Amt gehoben; seine Partei gewann in fast allen Provinzen des Landes: Nicht nur im Süden, sondern auch in einigen ehemaligen Hochburgen der Demokratischen Partei im Norden.

Um eine Ahnung vom politischen Leitfaden der Regierung zu bekommen, der Rama vorstehen wird, muss man sein letztes Buch Kurban lesen, eine Mischung aus autobiografischer Erinnerung und politischem Essay, die in Albanien ein Bestseller war (mehr als zwanzigtausend verkaufte Exemplare). Kurban ist in erster Linie ein scharfer Angriff gegen die politische Korruption, kritisiert aber auch die servile Haltung von Intellektuellen und Journalisten, die sich benehmen, als sei das kommunistische Regime nie untergegangen. Zwei heiße Themen in den letzten Jahren.

Rama scheint sich auch des Risikos bewusst zu sein, das von der krankhaften Verstädterung des Landes ausgeht (ein Übel, das bisher vom gesamten politischen Spektrum ausgeblendet wurde, auch in den Jahren, als Rama Bürgermeister der Hauptstadt war). Eine Antwort auf dieses Problem zu finden wird, zusammen mit der Erneuerung der staatlichen Institutionen, eine der Feuerproben seiner Koalitionsregierung sein: Es sind diese Themen, bei denen die Regierung beweisen muss, ob sie wirklich auf der Höhe der Absichtserklärungen des Autors von Kurban ist. Wenn nicht – doch wollen wir hoffen, dass dem nicht so ist – wird die Enttäuschung gewaltig sein.

Published 13 May 2014
Original in Italian
Translated by Jan Koneffke
First published by Wespennest 166 (2014) (German version); Lettera internazionale 114 (2012) (original Italian version excluding "postface")

Contributed by Wespennest © Alessandro Leogrande / Jan Koneffke / Wespennest / Eurozine

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