Zur Idee einer weltweiten RechtsordnungDies ist eine überarbeitete Fassung von "Toward a Global Rule of Law", erschienen in Dissent, Frühjahr 2002, S. 27-32. Wir danken Marc Herold, Mathias Koenig-Archibugi, Duncan Snidal, Michael Walzer und Alexander Wendt für kritische Einwände und Vorschläge. Dank auch an Anne Harrington für ihre Unterstützung bei der Recherche.

Man kann die Angriffe vom 11. September auf zwei Weisen interpretieren: als Angriff auf die Vereinigten Staaten und ihre Bevölkerung – oder als Verbrechen gegen die Menschheit. Der Unterschied zwischen diesen beiden Sichtweisen ist nicht allein technischer, sondern politischer Natur, und beide implizieren unterschiedliche Reaktionen. Kurz nach den Angriffen haben sich einige ranghohe Politiker wie zum Beispiel die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, dafür ausgesprochen, dass die USA und der Rest der Welt sich die erste Interpretation zu Eigen machen. Es schien, als könne es eine offene Diskussion darüber geben, als was für eine Art von Ereignis auf der internationalen Bühne man die Angriffe verstehen und wie man auf sie antworten sollte. Innerhalb weniger Wochen legten sich die USA allerdings darauf fest, sie als Angriff auf einen Staat zu interpretieren; und die angemessene Reaktion darauf ist Krieg gegen einen anderen Staat (oder mehrere Staaten). In diesem Aufsatz wollen wir die dadurch vorgegebene staatszentrierte Antwort auf die Terrorangriffe hinterfragen und eine Alternative vorschlagen, wie die USA und andere globale Akteure ihre Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines kosmopolitischen Begriffs politischer Verantwortung hätten verstehen können – und immer noch verstehen können. Wir werden zu zeigen versuchen, dass man mit einer anderen Reaktion auf die Terrorangriffe, nämlich gestützt auf eine Rechtsordnung und auf internationale Zusammenarbeit, auf lange Sicht genauso effektiv gegen den Terrorismus hätte vorgehen und unseres Erachtens auch den Weg zu einer gerechteren und stabileren Weltordnung hätte bahnen können.

Die staatszentrierte Sichtweise

Die Bush-Regierung legte die Angriffe als kriegerischen Akt gegen Amerika aus und hielt militärische Vergeltung für die angemessene Antwort. Das bedeutete, dass man einen oder mehrere Staaten finden musste, mit denen man in einen Krieg eintreten konnte, und die USA entschieden sich für Afghanistan, weil die Taliban-Regierung die Al Queda beherbergte und unterstützte. Irak, Syrien, Somalia und weitere Länder sind als mögliche Ziele militärischer Aktionen benannt worden, zu denen es allerdings bisher noch nicht gekommen ist. Doch die Behauptung, man müsse auf die Angriffe mit einem militärischen Konflikt zwischen Staaten reagieren, war nur schwer aufrechtzuerhalten. Schon innerhalb einer herkömmlichen, auf Nationalstaaten ausgerichteten Weltpolitik ist die Tatsache, dass die afghanische Regierung Al-Queda-Camps auf ihrem Territorium zuließ, eine wackelige Rechtfertigung dafür, um gegen den Staat Krieg zu führen. Daher haben die USA ihre Gründe für einen Krieg gegen die Taliban von solchen der Selbstverteidigung hin zu einer humanitären Verteidigung der afghanischen Bevölkerung, insbesondere der Frauen, verlagert – was wir zynisch und opportunistisch finden, nachdem sich weder die Regierung unter Bush noch vor ihr die unter Clinton je um die Not der afghanischen Bevölkerung gesorgt haben. Es überrascht nicht, dass dieses Anliegen auf den Plänen zum Wiederaufbau Afghanistans fast völlig verschwunden ist.
Auf die Terrorangriffe zu reagieren, indem man Krieg gegen einen Staat führt, entspricht weder der Sachlage, noch verspricht es, die Welt sicherer zu machen. Obwohl einige Al Queda-Stützpunkte zerstört wurden und die USA einige Mitglieder der Gruppe gefangen nahmen, gibt es keine direkte Verbindung zwischen den Besiegten und den neunzehn selbstmörderischen Angreifern vom 11. September. Die Schätzungen über zivile Opfer in Afghanistan schwanken zwischen wenigstens 1000 und bis zu 3700. Hunderte werden vermutlich noch an Blindgängern sterben.1 Die Zahl der getöteten Soldaten und anderer Bewaffneter ist noch nicht bekannt, aber manche Informationen, einschließlich der über das Massaker an Hunderten von Taliban-Gefangenen im Gefängnis von Mazar-i-Sharif, werfen ernsthafte Zweifel an der Gesetzmäßigkeit auf, mit der die Kriegshandlungen durchgeführt wurden.2 Die Zahl der Flüchtlinge, die wegen des Krieges unter Hunger und Kälte leiden, lässt sich nicht einmal schätzen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dieser Krieg möglicheterroristische Nachahmer irgendwo auf der Welt abgeschreckt hat. Viele Monate nach Kriegsanfang gibt es nur wenige Anzeichen für eine politische Stabilität in Afghanistan oder eines echten Respekts für Menschenrechte seitens der jetzigen afghanischen Regierung. Womöglich hat der Krieg bloß dazu beigetragen, Zentralasien zu destabilisieren – mit unvorhersehbaren Folgen.

Obwohl die USA diesen Krieg nicht allein geführt haben, haben sie doch den Ton angegeben. Sie haben ihre Partner ausgewählt und ihnen ihre Rollen zugewiesen. Es fällt schwer, die Politik der USA in den vergangenen Monaten anders zu interpretieren denn als einen Versuch, die eigene Position der Weltherrschaft zu festigen. Obwohl das zweifellos viele Amerikaner als etwas Positives ansehen, meinen wir, dass die Existenz einer einzigen militärischen Weltmacht, die ihren Willen durchzusetzen sucht, sowohl einer demokratischen Kultur zuwiderläuft als auch weltweit Friedensbemühungen behindert.

Im vergangenen Jahrzehnt haben die USA ihre militärische Macht am Persischen Golf, in Somalia, in Panama, auf dem Balkan und in vielen anderen Regionen eingesetzt. Jede dieser Interventionen kostete Menschenleben, freilich nur wenige von Amerikanern. Die militärische und ökonomische Macht der USA und ihre Bereitschaft, diese Macht asymmetrisch und nur mit dem dünnsten Anstrich multilateraler Kooperation einzusetzen, führen weltweit zu feindseligen Reaktionen, sogar bei denen, die eigentlich als Verbündete gelten. Einer Untersuchung des Pew Research Center und desInternational Herald Tribune im Dezember 2001 zufolge waren die meisten Nicht-Amerikaner unter den befragten 275 politischen und ökonomischen Führungspersonen der Ansicht, dass die USA ihre Macht falsch einsetzten und dass ihre Politik zum Teil dafür verantwortlich sei, wenn die weltweite Ungleichheit an Wohlstand zunimmt.3 Um einer solchen Vorherrschaft entgegen zu steuern, halten wir es für notwendig, dass sich Politiker und Bürger überall auf der Welt die Vision einer globalen Rechtsordnung vor Augen führen und die USA moralisch und anderswie unter Druck setzen, ihre Politik stärker mit diesem Ziel in Übereinstimmung zu bringen.

Eine alternative Sichtweise

Die Bemühungen um eine Weltgesellschaft, die von fairen Regeln bestimmt wird, ist ebenfalls dem 11. September zum Opfer gefallen. Der Fall der Berliner Mauer weckte die Hoffnung auf eine Weltordnung, die auf eine internationale Herrschaft des Rechts gegründet ist und die Institutionen internationaler Zusammenarbeit ausbaut. Die Diskussionen und Demonstrationen zu Politik und Praxis von internationalem Handel und Finanzverkehr sind in jüngster Zeit davon ausgegangen, dass sich auf globaler Ebene Strukturen legitimer Herrschaft herausbilden. Dabei stand die Frage im Vordergrund, ob in globalen Regimen nur die Interessen der stärksten Akteure vertreten werden oder ob es gelingt, die Stimmen und Interessen der Mehrheit der Weltbevölkerung in transparenten und rechenschaftspflichtigen Institutionen zur Geltung zu bringen.

Unser Vorschlag einer alternativen Antwort auf den Terrorismus baut auf diesen Bemühungen um gerechte und demokratische globale Regierungsstrukturen auf. Bisher haben die Diskussionen um eine internationale Rechtsordnung und globale Kontrollmechanismen der Vorbeugung, Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem internationalen Handel, Finanzinvestitionen oder dem Umweltschutz. Um über eine alternative Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September nachzudenken, schlagen wir zwei Prämissen vor: Zum einen sollte man sie als einen Konflikt zwischen Personen und nicht zwischen Staaten ansehen.4 Die Angreifer waren nicht Vertreter eines Staates, sondern Mitglieder privater Organisationen, und ihre Opfer waren überwiegend Privatpersonen aus mindestens siebzig verschiedenen Ländern. Zum zweiten sollten man die Vorfälle daher als kriminelle, nicht als kriegerische Akte auffassen; und darauf antwortet man mit polizeilichen Ermittlungen auf rechtsstaatlicher Grundlage sowie mit rechtlich gedeckten Maßnahmen, die weitere solche Verbrechen verhindern. Aus diesem Grund sind wir auch nicht der Meinung, dass das Konzept eines “gerechten Krieges” auf die militärische Reaktion der USA angewendet werden kann.5

Es ist weder üblich noch ratsam, dass demokratische Staaten terroristischen Angriffen innerhalb ihrer eigenen Grenzen nach Gutdünken und mit militärischen Mitteln begegnen. Sowohl Spanien im Falle der ETA als auch Italien im Kampf gegen die Roten Brigaden wie auch die USA selbst nach den Bomben in Oklahoma City haben sich der Instrumente des Rechts und der Polizeigewalt bedient. Diese rechtlichen Grenzen zu überschreiten, wie es die spanische Regierung eine Zeit lang tat, als sie einige Agenten im Kampf gegen den Terrorismus mit Befugnissen ausstattete, die den legalen Rahmen verließen, scheint das Risiko weiter zu erhöhen. Die Gegner des Friedens verweisen dann auf illegale Handlungen des Staates, um ihre eigenen illegalen Handlungen zu rechtfertigen.

Die Welt sollte gegen internationale terroristische Organisationen nach den gleichen rechtsstaatlichen Prinzipien vorgehen wie diese Staaten gegen terroristische Organisationen innerhalb ihres Landes. Auf terroristische Akte und Bedrohungen mit einer globalen Gerichtsbarkeit zu reagieren, bedeutet nicht notwendiger Weise, “sanfter” mit ihnen umzugehen. Im Gegenteil, mit Hilfe einer weltweiten Kooperation in Sachen Rechtsvollstreckung wären die Schuldigen besser ausfindig zu machen und zu fassen, wäre künftigen Angriffen effektiver vorzubeugen; und dabei kämen weniger Menschen zu Schaden und würde weniger Zerstörung angerichtet als im Krieg gegen Afghanistan.

Wir schlagen fünf Prinzipien vor, an denen sich eine internationale Politik beim Umgang mit Bedrohung und Gewalt orientieren sollte. Jedes dieser Prinzipien zielt auf Ideale und Institutionen weltweiter Kooperation ab, die noch nicht existieren. Trotzdem könnten sich diese Prinzipien, so glauben wir, schon jetzt als hilfreich erweisen. Wenn Politiker und Bürger die Möglichkeiten erwägen, wie auf terroristische Bedrohungen zu reagieren ist, können und sollten sie sich fragen, welche Handlungen dazu beitragen, die dahinter liegenden Ideale zu verwirklichen – und mit welchen Handlungen sich die Welt vermutlich von ihrer Realisierung entfernt.

(1) Internationale Institutionen legitimieren und stärken

Wenn Verantwortliche und Politiker terroristische Akte und Bedrohungen als solche behandeln, die alle Völker der Welt in einer globalen Rechtsordnung angehen, sollten sie sich internationaler Organisationen und rechtlicher Mittel bedienen. Dabei kommt den Vereinten Nationen eine tragende Rolle zu. Obwohl sie in Aufbau und Vorgehen viele Mängel aufweisen, die man beheben müsste, sind die Vereinten Nationen doch die einzige transnationale Organisation, in der fast alle Nationen der Welt vertreten sind. Darüber hinaus befassen sich ihre Institutionen, Verfahren und Konventionen mit vielen der dringendsten weltweiten Probleme.

Momentan befinden sich die UN in einer unmöglichen Lage. Auf der einen Seite werden sie herbeigerufen, um Frieden zu stiften, Regierungen und Infrastrukturen aufzubauen, Flüchtlingen zu helfen, Gesundheitskampagnen und viele weitere Aktionen durchzuführen, und das in Dutzenden verschiedener Länder auf einmal. Auf der anderen Seite verweigern einige Mitgliedstaaten den UN immer wieder die Mittel für solche Maßnahmen, nicht nur indem sie finanzielle Beiträge nicht leisten, sondern auch, indem sie die Befugnisse der UN einschränken. Wenn die UN in ihren Anstrengungen scheitern, was oft vorkommt, sind nationale Regierungen regelmäßig mit Vorwürfen zur Stelle, die Organisation sei unflexibel und ihrer Sache nicht gewachsen. Die USA und andere Weltmächte können nicht weiterhin die Folgen ihrer Kriege und ökonomischen Entscheidungen auf die Vereinten Nationen abwälzen und gleichzeitig ihr Ansehen herabsetzen.

Die gegenwärtige Organisation der UN-Sicherheitsrates – mit seinen fünf Ständigen Mitgliedern, die den Stand der Weltpolitik im Jahre 1945 widerspiegeln – muss dringend reformiert werden. Gleichwohl hat dieser Sicherheitsrat nach den Angriffen vom 11. September drei Resolutionen verabschiedet (Nr. 1368 am 12.9.2001, Nr. 1373 am 28.9.2001 und Nr. 1377 am 12.11.2001), die zu einer transnationalen Kooperation aller Staaten aufrufen, terroristische und andere transnationale kriminelle Aktivitäten zu unterbinden und zu untersuchen. Wenn sich Regierende mit sozialen Bewegungen zusammen täten, könnten sie die USA dazu drängen, sich an multilateralen Bemühungen zur Aufdeckung transnationaler krimineller Netzwerke zu beteiligen, wobei die weniger entwickelten Länder stärker in die Entscheidungen einbezogen würden. Die tragische Lähmung der internationalen Gemeinschaft angesichts der schlimmsten Gewalttaten in Palästina und Israel seit zwei Jahrzehnten zeigt, wie dringend die Vereinten Nationen in ihrer Funktion als Friedensstifter gestärkt und reformiert werden müssen.

(2) Rechtsdurchsetzung und Nachrichtendienste weltweit koordinieren

Offenbar zeigt der amerikanische Kongress nur ein geringes Interesse an der Frage, wie den beiden höchst entwickelten Nachrichtendiensten der Welt, der CIA und dem FBI, die Vorbereitung eines Verbrechens solchen Ausmaßes entgehen konnte. Ein Grund liegt vermutlich darin, dass sich beide, wie auch die Nachrichtendienste der meisten anderen Staaten, darauf konzentrieren, Staaten zu beobachten. Zwar nimmt nicht nur die transnationale Organisation und Bewegung von Kapital, Arbeit, Technologie und Kultur zu, sondern auch die transnationale Organisation und Bewegung von Kriminalität. Doch Geheimdienste und Einrichtungen der Rechtsdurchsetzung liegen hinter dieser Entwicklung weit zurück. Geheimdienste sind vor allem Instrumente eines Staates gegen andere Staaten; in dieser Spionagekultur unternimmt die Behörde des einen heimliche Aktivitäten in Richtung des anderen, während beide einander ausdrücklich misstrauen. Jeder nationale Polizei- und Justizapparat wiederum folgt seinen eigenen Imperativen, die Kommunikation und Kooperation über Staatsgrenzen hinweg erschweren. Die Angriffe vom 11. September sollten ein deutliches Signal dafür sein, dass die Strukturen der Geheimdienste und der Vollstreckungsbehörden geändert werden und dass diese kooperieren müssen, um die Bürger dieser Welt zu schützen, nicht Staaten.

Einige geeignete internationale Instrumente stehen bereits zur Verfügung. Interpol, die internationale Polizeiorganisation mit 179 Mitgliedstaaten, geht bereits seit Jahrzehnten gegen Terrorismus, Drogenhandel, Geldwäsche, Wirtschafts- und Computerkriminalität, Geldfälscherei, gegen das organisierte Verbrechen sowie gegen Frauen- und Kinderhandel vor. Obwohl ihr Budget im Vergleich zu ihren Aufgaben verschwindend gering ist, verfügt die Interpol über gewaltige Datenbanken zu bekannten und mutmaßlichen Terroristen und Kriminellen. Sie sammelt Daten über gefälschte Pässe und Rechnungen von gestohlenen Kreditkarten, Informationen also, die Ermittlungsbeamten in fast allen Ländern von Nutzen sein können. Doch staatliche Nachrichtendienste klinken sich nur selten in diese Informationsflüsse ein.6

Im November 2000 hat die UN-Generalversammlung auf ihrem Millenniumstreffen die “Convention against Transnational Organized Crime verabschiedet”, der 140 Länder, darunter die USA, bereits unterzeichnet haben. Diese Konvention erlegt den Staaten auf, ihre nationalen Gesetze zur Kontrolle des organisierten Verbrechens zu verschärfen, und ruft zu einer stärkeren transnationalen Zusammenarbeit auf rechtlichem Gebiet, zu einer besseren Kooperation bei Auslieferungen und kriminalistischen Untersuchungen auf. Insbesondere sollen die weniger entwickelten Länder technische Unterstützung beim Kampf gegen das organisierte Verbrechen erhalten. Obwohl diese Konvention derzeit kaum mehr ist als eben ein Stück Papier, wie so einige von der UN verabschiedete Verträge und Konventionen, könnte sie doch von politischen Anführern und sozialen Bewegungen dazu benutzt werden, um Institutionen und Mittel für ihre Umsetzung zu fordern.

Die USA und andere Staaten können die internationale Kooperation bei der nationalen und transnationalen Rechtsdurchsetzung und den Ausbau entsprechender globaler Einrichtungen vorantreiben. Gemeinsame Anstrengungen, den Terrorismus unter stärkerer Einbeziehung der UN zu bekämpfen, werden sicher auch den USA zugute kommen; dafür müssten sie sich allerdings zu einer stärkeren Loyalität gegenüber der UN verpflichten. Zu Recht hat der Präsident der United Nations Association der USA darauf hingewiesen, dass auch “Washington, wenn es sich die Beteiligung der UN-Mitgliedsstaaten an diesem neuen Krieg (gegen den Terrorismus) sichern und Widerstand vorbeugen will, der daraus erwächst, dass die US zweierlei Maßstäbe anlegen, einem Rechtsgrundsatz folgen muss, den die amerikanische Öffentlichkeit schon längst akzeptiert hat, dass nämlich dasselbe Recht für die Großen wie für die Kleinen gilt”.7

Eine stärkere Zusammenarbeit gegen das organisierte Verbrechen macht es nötig, die staatsfixierte Trennung zwischen Polizeiarbeit im Innern und international orientierter Spionage aufzulösen. Die gegenwärtige Verwischung dieser Unterscheidung durch die Vereinigten Staaten und viele weitere westliche Länder geht allerdings in die falsche Richtung. Indem sie der CIA und dem FBI erlaubt, innerhalb der USA zusammenzuarbeiten, verstärkt die amerikanische Regierung repressive Strukturen im Innern, während sie sich gleichzeitig nach außen hin misstrauisch einigelt. Eine verstärkte transnationale Kooperation bei der Rechtsdurchsetzung müsste aber mit Rechenschaftspflichten und Transparenz einhergehen, um die Bürgerrechte zu schützen.

(3) Stärkere Kontrolle der Finanzbewegungen

Einer der effektivsten Wege, terroristische Netzwerke und das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, führt über ihre Finanzmittel. Es ist verwunderlich, dass die Al Queda, obwohl Osama bin Laden seit Jahren als Anführer und Geldgeber terroristischer Operationen bekannt war, trotzdem ungehindert das nötige Kapital bewegen konnte. Dass bisher noch niemand erfolgreich diese Geldströme unterbrochen hat, liegt vermutlich daran, dass sich die Führer weltweit operierender Unternehmen entsprechenden Kontrollmechanismen widersetzen. Unternehmen bewegen ihr Geld regelmäßig rund um den Globus, um beispielsweise Steuern zu umgehen.

Kapitalströme zu verfolgen und zu regulieren kann verhindern, dass sie kriminellen Aktivitäten zugeführt werden. Ein solcher Krieg gegen den freien Kapitalfluss hätte keine “Kollateralschäden” zur Folge, keine Flüchtlinge, keine Luftverschmutzung. Und tatsächlich bemühen sich die USA verstärkt darum, Finanzbewegungen zu beobachten und zu kontrollieren. Auf diesem Gebiet allerdings ist sogar die größte Militärmacht der Welt auf die Zusammenarbeit mit anderen Regierungen angewiesen, insbesondere auch mit Regierungen, die nicht viel von der US-amerikanischen Außenpolitik halten; und zu einer solchen Zusammenarbeit ist schwer zu bewegen, wer selbst einer militärischen Bedrohung oder geheimdienstlichen Operationen seitens der USA ausgesetzt ist.8

(4) Internationale Gerichtshöfe nutzen

Dass es sich bei den Terrorangriffen um eine Kriegshandlung zwischen Staaten handelt, haben auch die USA nur so lange so gesehen, wie es ihnen gelegen kam. Indem sie sich weigerten, die im Krieg gegen Afghanistan gemachten Gefangenen als Kriegsgefangene zu behandeln, verabschiedeten sie sich von dieser nationalstaatlichen Sichtweise. Die Bush-Regierung argumentiert, bei den Gefangenen handele es sich um gesetzlose Kämpfer, deren Behandlung nicht unter internationales Recht fällt, wie es durch die Genfer Konvention geregelt ist. Gleichzeitig wurde verkündet, dass den Verdächtigen ohne amerikanischen Paß, die man in den USA oder anderswo auf der Welt ergreift, auch die nationalen Garantien eines ordentlichen Gerichtsverfahrens vorenthalten werden.9 Damit erklären die USA also vor der gesamten Welt, dass alle Nicht-Amerikaner, die mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, keinen rechtlichen Schutz genießen. Diese Haltung ist so ungeheuerlich, dass sie sogar innerhalb der Bush-Regierung und bei ihrem loyalsten Verbündeten, Großbritannien, Widerspruch provoziert hat. Daraufhin hat die Regierung ihre Position geringfügig geändert – nicht aber die Behandlung der Gefangenen.

Als die USA begannen, Militärtribunale für die Gefangenen einzurichten, sagte Vizepräsident Cheney: “Terroristen verdienen nicht dieselben Garantien und Sicherheiten, die amerikanischen Bürgern in einem normalen Gerichtsprozess zustünden.”10 Dem kann man entnehmen, dass Cheney die grundlegendsten Prinzipien eines ordentlichen Verfahrens ablehnt: Denn eigentlich kann ja erst die gerichtliche Untersuchung darüber entscheiden, wer ein Krimineller ist und wer nicht.

Würden die Angriffe vom 11. September als Verbrechen gegen die Menschheit statt nur gegen die USA verstanden, dann wäre es angemessen, ein internationales Tribunal der Vereinten Nationen einzusetzen, vergleichbar dem für Ex-Jugoslawien oder Ruanda, dessen Richter aus westlichen und aus islamischen Ländern stammten. Damit würde man auch deutlich machen, dass es sich nicht um einen Konflikt zwischen Amerika und dem Islam handelt, sondern um einen zwischen der gesamten Weltgemeinschaft und einer kleinen Gruppe von Kriminellen. Auch die Ad-hoc-Tribunale sollten schließlich einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof weichen, wie er im Juli 1998 mit dem Abkommen von Rom (gegen den Widerstand der USA) beschlossen wurde, das am 12. April 2002 in Kraft getreten ist. (Die USA haben angekündigt, ihre Unterschrift unter dieses Abkommen zurückzuziehen – ein beispielloser Vorgang.) “Hätte es den Internationalen Strafgerichtshof bereits gegeben”, kommentierte Greenwood, Spezialist für internationales Recht, “und wären die beteiligten Staaten ihm unterstellt, dann hätten die für die Untaten des 11. September Verantwortlichen wegen Verbrechen gegen die Menschheit vor dieses Gericht gestellt werden können.”11

Gegen solche internationalen Gerichtsverfahren für Terroristen und ihre Helfershelfer wird immer wieder eingewendet, sie seien zu langsam, zu teuer, und sie gäben den Tätern ein zusätzliches Forum für ihre Ideen. Das sind alles nur Vorwände. Es dürfte nicht länger dauern, ein ordentliches Gerichtsverfahren auf internationaler Ebene zu führen als auf nationaler; die Geschwindigkeit, auf die die USA drängen, scheint auf Kosten eines fairen Prozesses zu gehen. Ebenso wenig würde ein internationales Verfahren viel teurer als ein nationales, wenn denn beide gleich fair wären. Abgesehen davon gibt jede öffentliche Verhandlung, egal auf welcher Ebene, den Teilnehmern die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzulegen, dafür ist sie da; und aus diesem Grund werden die Militärtribunale, die die Bush-Regierung plant, natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

(5) Globale Ungleichheiten mindern

Seit dem September 2001 haben viele Kommentatoren gemeint, man müsse das Entstehen terroristischer Gruppierungen vor dem Hintergrund des Wohlstandsgefälles sehen, das zwischen den Gesellschaften der nördlichen Halbkugel – wie den USA, Europa oder Japan – einerseits und dem Nahen Osten und Südasien andererseits herrscht. Natürlich kann diese strukturelle Ungerechtigkeit kriminelle Handlungen weder rechtfertigen noch entschuldigen. Diese Umstände können den Terrorismus nicht einmal erklären, denn es gibt zahlreiche arme Gegenden, aus denen internationale terroristische Organisationen keinen Zulauf erhalten.

Allerdings lebt ein großer Teil der Weltbevölkerung in entsetzlicher Armut.12Wie viele andere Menschen, sowohl aus den weniger wie aus den stärker entwickelten Teilen der Welt, glauben auch wir, dass diese Armut teilweise aufgrund der Politik der reichen Länder weiterbesteht, aufgrund von privaten Unternehmen, die ihren Sitz in diesen Ländern haben, und aufgrund von internationalen Organisationen, in denen diese Länder und Unternehmen einen überproportionalen Einfluss besitzen. Sogar wer dies bezweifelt, sollte den offenbaren Unwillen der Bevölkerungen und Regierungen der USA, Europas und Japans missbilligen, die Ärmsten der Welt in nennenswertem Umfang mit Kapital, Technologie und Gütern zu unterstützen. Diese Gleichgültigkeit der Überflussflussgesellschaften erregt zweifellos an vielen Orten der Welt Unmut und gefährdet den Frieden und das Wachstum auch der Wohlhabenderen.

Zu einem anderen tragischen historischen Zeitpunkt, nämlich nach der Niederschlagung des Faschismus am Ende des Zweiten Weltkriegs, stand den USA klar vor Augen, dass ihre Sicherheit und ihr Wohlstand von der Wiedergeburt Europas abhängen würde. Um diese Wiedergeburt zu ermöglichen, stellten sie eine gewaltige Menge von Ressourcen für den Marshall-Plan zur Verfügung, mit dem die Infrastruktur der verwüsteten europäischen Gesellschaften wieder hergestellt werden sollte. Kein Entwicklungshilfeprogramm war seither derart umfangreich und effektiv. Dieses Beispiel sollte uns die Hoffnung geben, dass sich die armen Gesellschaften entwickeln können, wenn man nur bereit ist, in sie zu investieren. Seit Jahrzehnten fordern soziale Bewegungen und Regierungen der weniger entwickelten Welt, dass die Wirtschaftsmächte damit aufhören, Ressourcen und Arbeiter armer Länder auszubeuten und stattdessen mit echten Investitionen ihrer Infrastruktur und Bevölkerung aufhelfen. Die entwickelte Welt hat nicht viel getan, um dem Elend abzuhelfen. Die offizielle Entwicklungshilfe der OECD-Länder belief sich im Jahr 1998 auf 0,24 Prozent ihres Bruttosozialprodukts, und die privaten Spenden sind ebenfalls dürftig. Die vielen Anläufe der Weltgesellschaft, die Ressourcen für die Entwicklung armer Länder zu erhöhen, haben bisher zu keinen konkreten Folgen geführt.13

Sogar die Bush-Regierung kann über diese moralische Notwendigkeit nicht einfach hinweggehen. Der von den UN finanzierten Konferenz zum Wiederaufbau Afghanistans im Januar 2002 konnte sie nicht fernbleiben – anders als bei der Rassismus-Konferenz im August 2001, die die Vertreter der USA ebenso verließen wie die Klima-Konferenz im Dezember. Auf der Zusammenkunft im Januar sagten die USA gerade mal 300 Millionen Dollar fürs erste Jahr, Japan und Europa jeweils weitere 500 Millionen für die ersten zweieinhalb Jahre zu. Noch vor dem Erdbeben im März 2002 schätzte die Weltbank, dass in den ersten zweieinhalb Jahren mindestens 4,9 Milliarden Dollar nötig würden, um Afghanistan auf dem untersten Niveau wieder aufzubauen. Sogar in solchen krisenhaften Zeiten bleiben die reichen Länder der Welt unglaublich knausrig, und die armen Völker der Welt sehen dies.
Die Welt kann sich nicht in Richtung eines fairen, umfassenden und effektiven politischen Gemeinwesens entwickeln, ohne dass ökonomische, technologische und organisatorische Ressourcen in großem Umfang umverteilt werden, um die jetzigen Ungleichheiten an Lebensqualität und institutioneller Ordnung zu verringern. Dazu brauchen wir neue und gestärkte internationale Organisationen, in denen die Stimmen aller Völker besser vertreten sind als in den derzeitigen internationalen Finanz- und Entwicklungseinrichtungen, wie beispielsweise der Weltbank, und durch die eine Umverteilung besser gewährleistet ist. Ohne ein globales Äquivalent zum Marshall-Plan können auch die ausgefeiltesten Anstrengungen, das transnationale Verbrechen zu bekämpfen, immer nur defensiv und sporadisch erfolgreich sein.

Fazit

Die Terrorangriffe vom 11. September bedeuten eine gewaltige Herausforderung für die USA, für ihre europäischen Verbündeten und für den Rest der Welt. Die Bush-Regierung und ihre Verbündeten entschieden sich, Vergeltung an einem Land zu üben, statt die individuellen Schuldigen zu bestrafen. Wer das kritisierte, wurde oft gefragt: Was hätten die USA denn sonst tun sollen? Diese Frage haben wir hier zu beantworten versucht: Es gab einen alternativen Weg, den Terror zu bekämpfen. Wir behaupten nicht, dass auf diesem Weg alle Schuldigen gefangen und vor Gericht gestellt worden wären; wir glauben auch nicht, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen ausgereicht hätten, um das transnationale Netzwerk von Killern zu zerschlagen. Genauso wenig allerdings hat der Krieg eines dieser Ziele erreicht. Sicherlich wäre die Zahl der “Kollateralschäden” aber viel geringer gewesen, wäre man der vorgeschlagenen Alternative gefolgt. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Man hätte der Weltbevölkerung bewiesen, dass die mächtigsten Regierungen in der Lage sind, sich auch außerhalb ihrer Staatsgrenzen der Rechtsordnung und gesetzlicher Vorgehensweisen zu bedienen.
Unsere Vorschläge beziehen sich auf einen längeren Zeitraum und haben nicht an Wert verloren, nachdem nun der blutigste Teil der Militäroperationen gegen Afghanistan abgeschlossen ist. Sie verdanken sich einer allgemeinen Perspektive auf die Weltpolitik, die lange vor die tragischen Ereignisse vom 11. September zurückreicht. Wir gehen davon aus, dass es sowohl möglich als auch notwendig ist, globale demokratischen Strukturen zu entwickeln.14 Die demokratischen Staaten dieser Welt sollten eine neuartige Bedrohung von solchem Ausmaß, wie sie der Terror vom 11. September darstellt, nutzen, um den Aufbau einer globalen Rechtsordnung voranzutreiben, statt es zu einem Zusammenprall der Fundamentalismen kommen zu lassen.

Die niedrige und die höhere Schätzung stammen von dem "Project on Defense Alternatives" beziehungsweise von Marc Herold (University of New Hampshire), nachzulesen unter www.cursor.org/stories/civilian_deaths.htm

Siehe Richard Falk: "In Defense of ,Just War' Thinking", The Nation vom 4.12.2001, S. 23-25.

Brian Knowlton : "How The World Sees the U.S. and Sept. 11th", International Herald Tribune vom 20.12.2001.

Siehe David Held und Mary Kaldor:"Justice in a Global Age", Constellations Bd. 9/Nr.1, März 2002.

Es überrascht kaum, dass in der Petition zahlreicher bedeutender amerikanischer Intellektueller, die den Konflikt als einen gerechten Krieg bezeichnet, Afghanistan mit keinem Wort erwähnt wird. Nicht einmal diese Stellungnahme konnte eine eindeutige Verbindung zwischen den Ereignissen (den terroristischen Angriffen) und der Reaktion darauf (dem Krieg gegen Afghanistan) herstellen. "What We're Fighting For", hrsg. v.Institute for American Values im Februar 2002, nachzulesen unter www.propositionsonline.com/Fighting_for.html Zu den Unterzeichnern gehören Amitai Etzioni, Francis Fukuyama, Samuel Huntington, Robert Putnam und Michael Walzer

Siehe David Zweshimo und Sbastian Rotella: "Interpol Hopes Terror Investigators Keep in Touch", Los Angeles Times vom 23.12.2001.

In William H. Luers (Hrsg.): Combating Terrorism: Does the U.N. Matter ... and How. UNA-USA, New York 2002, S. 5.

Siehe Phil Williams:"Crime, Illicit Markets, and Money Laundering",in P. J. Simmons und Chantal de Jonge Oudraat (Hrsg.): Managing Global Issues: Lessons Learned. Carnegie Endowment for International Peace, Washington D.C. 2001, S. 106-150.

Diesen Fall erörtert Christopher Greenwood: "International Law and the War against Terrorism", International Affairs, Bd. 78/Nr.2, 2002, S. 301-317.

Nach einem Bericht des International Herald Tribune, 16.11.2001, S. 5.

Christopher Greenwood, a. a. O., S. 317.

Zahlen zu den weltweiten Ungleichheiten werden untersucht im United Nations Development Program: Human Development Report, Oxford University Press, New York 2002. Mit den ethischen Implikationen befasst sich eine wachsende Zahl von Publikationen, unter anderem Thomas Pogge (Hrsg.): Global Justice. Blackwell, Oxford 2001.

Helmut Anheir , Marlies Glasius , Mary Kaldor (Hrsg.): Global Cicil Society. Oxford University Press, Oxford 2001.

Siehe beispielsweise David Held: Democracy and the Global Order. Polity Press, Cambridge 1995. Richard Falk: Law in an Emerging Global Village. A Post-Westphalian Perspective. Transnational Publishers, Ardsley 1998.

Published 14 June 2002
Original in English
Translated by Hilal Sezgin
First published by an abridged version in Frankfurter Rundschau

© Daniele Archibugi, Iris Marion Young

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Read in: EN / DE / SV

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