Wodurch unterschied sich Nijole Sadunaite von Antanas Snieckus?

Gedanken zum Konzept des "Kollaborateurs"

Anhand der Geschichte Litauens während der Sowjetära, analysiert Egle Wittig-Marcinkeviciute den Begriff der “Kollaboration”: Wodurch zeichnet sich Kollaboration aus und welche politischen und geschichtlichen Gegebenheiten müssen dafür erfüllt sein? Ist es möglich, “gute” und “schlechte” Kollaborateure zu unterscheiden – und wenn ja, unter welchen moralischen Gesichtspunkten? Das Fallbeispiel Litauen zeigt, wie dehnbar der Begriff “Kollaboration” aufgefasst werden kann.


I

Der Begriff des “Kollaborateurs”, ist ein kontinuierlich verwendeter Begriff in Bezug auf die Länder, die unter der Sowjetdiktatur litten. Um das damalige Lebensgefühl vermitteln zu wollen, ist eine Beschreibung dessen was man normalerweise unter Kollaboration versteht, unumgänglich. Aber auch um über aktuelle Probleme der Gegenwart nachdenken, oder um eine Grenze zwischen jetzt und gestern ziehen zu können, um überhaupt imstande zu sein, das neue Gesicht der Kollaboration zu erkennen, bleibt dieser Begriff nicht ohne Belang. Es fragt sich bloß, ob der so grundlegende Begriff auch gleichermaßen plausibel ist. Und es scheint, dass er wie kein anderer nebulös bleibt.

Auch ein Blick auf die lateinische Herkunft des Wortes “Kollaborateur” lichtet den Nebel nur wenig. Buchstäblich gelesen bedeutet die lateinische Verbkonstruktion collaborare doch einfach, dass man “zusammenarbeitet”. Und obwohl es manchmal in anderen Sprachen möglich ist, diese ursprünglich lateinische Bedeutung des Wortgebrauchs zu entdecken, meint doch die spezifische und gebräuchlichste Bedeutung dieses Wortes (wie in den anderen Sprachen so auch im Litauischen) eine unmoralische und verräterische Form der Zusammenarbeit.

Man könnte nun natürlich von “Zusammenarbeit” zwischen dem Fleischer und Bäcker oder zwischen dem Bäcker und Bierbrauer sprechen. Und was wäre daran unmoralisch? Die schwedischen Diplomaten arbeiten mit den dänischen Diplomaten zusammen, und bald kommt ein Haufen litauischer Diplomaten nach Brüssel, um “zusammenzuarbeiten”. Doch kein Mensch würde diese Form von Zusammenarbeit als “Kollaboration” bezeichnen. Die naheliegende Antwort, warum man diese Form der Zusammenarbeit in der Regel nicht als Kollaboration bezeichnet, liegt an dem Umstand, dass hier weder von Gewaltanwendung noch von anderen unrechtmäßigen Handlungen die Rede sein kann. Wenn dies der Fall ist, dann könnte man vielleicht den begrifflichen Nebel ein wenig lichten, wenn man die Kollaboration als eine bestimmte Form von Zusammenarbeit definieren würde. Kollaboration könnte man die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Okkupationsmächten nennen, wobei der unmoralische Charakter solch einer Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht aus einer unmoralischen Handlung heraus erklärt werden könnte. Damit wäre die Bedeutung des Wortes klar umrissen: Kollaborateur wäre ein Helfer der Okkupationsmacht, der mit ihr zusammen und zu ihren Gunsten arbeitet.

Aber ist diese Definition wirklich schon imstande, alle Unklarheiten zu beseitigen? Kann man aufgrund dieser begrifflichen Beschreibung etwa bestimmen, welche Personen Kollaborateure genannt werden dürfen? Vermutlich ist diese Definition nicht deutlich genug um einen solchen Selektionsprozeß1 zu ermöglichen. Hierfür muss man die Frage noch einmal anders formulieren: Was bedeutet(e) eigentlich die “Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht”? Welche Handlungs- und Verhaltensform sind ein Zeichen dafür, dass ein Fall der Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht vorliegt? Welche Kriterien sind anzuwenden, um die biographischen Fakten im Lebenslauf einer Person als Indizien für die Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht auszulegen?

II

Wenn man bedenkt, wie diese Frage heutzutage in Litauen diskutiert wird, und welche (öffentlichen oder politischen) Aussagen diesbezüglich gemacht werden2, so kommt man zu der Schlußfolgerung, dass es zwei deutliche Richtungen gibt. Die erste Richtung möchte ich als engere Interpretation bezeichnen. Für diese Richtung ist es typisch, dass die Kollaboration, als Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht, mit klar erkennbaren Handlungs- und Verhaltensweisen gleichgesetzt wird. Einige Repräsentanten dieser Richtung bezeichnen die Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht als Teilnahme in den von der Okkupationsmacht installierten Organisationen. Meistens wird eine derartige Teilnahme mit der Arbeit in KGB-Strukturen verglichen. Doch weil den Repräsentanten dieser Denkweise klar ist, dass KGB-Mitglieder nicht die einzige Sorte von Kollaborateuren war, versuchen sie, den Begriff des Kollaborateurs ein wenig auszudehnen – von den festen Angehörigen der Institution KGB bis zu ihren episodischen Mitarbeitern. Oft versucht man auch, diese Liste durch Funktionäre der kommunistischen Partei zu vervollständigen. Andere wiederum sind der Meinung, dass man in die Reihen der Kollaborateure auch noch die Aktivisten der Gewerkschaften (oder wenigstens deren führende Ideologen) sowie die Vorsitzenden von Kolchosen und die Direktoren von Fabriken oder von anderen Unternehmen aufnehmen würde.

Betrachtet man jedoch jede der hier aufgezählten Gruppen etwas gründlicher (eine Ausnahme könnte höchstens die Gruppe der festen und dauerhaften KGB-Mitarbeiter bilden), dann ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Aufzählung zusammenhängen. Auch unter jenen, die auch nur kurz für den KGB gearbeitet haben, gibt es diejenigen, auf die Druck ausgeübt wurde. Es gab unter ihnen außerdem noch naive und schwache Menschen, die aus Angst oder Leichtsinn als Informanten mitgewirkt hatten, doch später bei der nächsten Gelegenheit ihren “Dienst” quittierten. Es gab unter Kommunisten auch Menschen, die nicht der Meinung waren, dass diese Partei ein Werkzeug der Okkupationsmacht ist. Jene Kommunisten traten in die Partei aus allgemeinen sozialdemokratischen Erwägungen heraus ein (solche Fälle sind besonders häufig in der DDR – der Heimat des Marxismus – vorgekommen). Andererseits (insbesondere nach Stalins Tod) kamen in die Partei auch Menschen, die damit sich selbst und ihre Familie schützen wollten, die also überhaupt nicht aus Überzeugung heraus handelten. Nicht selten begrenzte sich die mit der Partei zusammenhängende Aktivität dieser Personengruppe damit, dass man sich in einer Parteiversammlung körperlich präsent zeigte, und dass man am Ende der Versammlung, wie es sich gehörte, mit den anderen gemeinsam die “Wacht auf, Verdammte dieser Erde” Melodie anstimmte. Ich glaube einige ehemalige Kommunisten zu kennen, die in der Öffentlichkeit die “Internationale” sangen und abends zu Hause immerzu “Lietuva brangi” 3(“Litauen, teures Land”) pfiffen oder gar den Kindern die Geschichte Litauens von Antanas Sapoka4 vorlasen.

Dass es viele Menschen gab, die aus einen Selbstschutzreflex heraus die geforderte politische Aktivität und Treue zeigten, sieht man deutlich, wenn man die Biographien von
Mitgliedern der Gewerkschaften oder anderen halb politischen Kreisen studiert. Wir wissen allzu gut, dass es solche oder ähnliche Fälle5 im Überfluß gab. Und obwohl sie uns weder sehr sympathisch erscheinen, noch moralisch hoch anzusiedeln sind, so zwingen sie uns doch, diese engere Strategie der Interpretation ein wenig mehr unter die Lupe zu nehmen. Denn nicht alles, was menschliche Schwäche und Leichtsinn zeigt, ist schon automatisch mit Kollaboration gleichzusetzen.

Man könnte damit natürlich nicht einverstanden sein. Man könnte sagen, dass jegliche Zugehörigkeit zu den durch die Okkupationsmacht installierten Strukturen ein Verrat war, egal wie wenig ihre Teilnehmer aktiv gewesen sind. Und man könnte tatsächlich einige vernünftige Gründe nennen, so zu denken. (So zu denken, bedeutet, sehr nahe an die Haltung zu kommen, die in diesem Text als “breitere” Interpretationsstrategie beschrieben wird). Sie rettet uns jedoch nicht vor der Notwendigkeit, einen Unterschied zwischen den unehrlichen “Internationale”-Sängern und solchen wie Antanas Snieckus6zu ziehen, die fleißig die Deportationslisten der Mitbürger zusammenstellten. Daher könnten die Repräsentanten dieser Meinung im weiteren die hier gestellte Frage “Wodurch unterscheidet sich ein “Kollaborateur” von einem “Nicht-Kollaborateur7“?” in die Frage umformulieren “Wodurch unterscheidet sich der “große” Kollaborateur von dem “kleinen”? Doch auch wenn man die Fragestellung so verändert, würden uns diese Überlegungen nicht erspart bleiben.

Die engere Interpretation des Kollaborateurs ist also ungerecht gegenüber den Personen, die nicht kollaboriert haben. Andererseits würde man alle, die nicht in der Partei (oder in einem vergleichbaren halb-politischen Verein) waren, dadurch auf die Seite der Nicht-Kollaborateure einteilen und somit einen genauso großen Fehler begehen. Wirft man einen Blick auf die Geschichten der verschiedenen okkupierten Länder, so merkt man bald, dass die Okkupanten keineswegs immer die eigenen politischen Vereine und Parteien etablierten. Viel häufiger ist es vorgekommen, dass sie sich den gierigen und ehrgeizigen Personen bedienten, (ohne sie mit irgendeiner Ideologie zu “bearbeiten”) die für dreißig Silberlinge alle Aufgaben erledigten. Haben Sie schon einmal von einer Gewerkschaft von Auftragsmördern gehört? Wohl nicht. Warum wollen wir dann denken, dass es sich mit Kollaborateuren anders verhalten muß? Heutzutage, da es scheinbar keine früheren Strukturen mehr gibt, haben die Politiker mit “sauberen” Biographien grünes Licht, um mit Nachbarländern unterschiedliche Vereinbarungen zu treffen, die eine reinste Kollaboration ausstrahlen. Solch eine Möglichkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass es in der Gesellschaft ein falsches Bild von politischer “Sauberkeit” und ein Bild des Kollaborateurs herrscht, das nicht ausreichend in Frage gestellt wird.

Nun aber zu denen, die dazu neigen, die “Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht” breiter zu verstehen. Welche Vorannahmen zeichnen diese Gruppe aus? Es kommt zuweilen vor, dass hier die unausgewogene Heftigkeit der engeren Interpretation durch eine Art von Toleranz ersetzt wird, die letztendlich sehr heuchlerische Züge hat. Ich möchte nun erklären, wie dies zu verstehen ist.

Die Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht breiter aufzufassen, bedeutet, sie als Leben in jenen Zonen zu verstehen, die von der Okkupationsmacht mehr oder weniger kontrolliert gewesen waren. Die Bedeutung der von der Okkupationsmacht installierten “Organisation” (die enger gesehen mit der Kommunistenpartei oder KGB gleichgesetzt wird) dehnt man hier stärker aus. Unter installierten “Organisationen” wird das gesamte öffentliche Leben verstanden: Sport, Kultur, Wissenschaft, Apotheken, Zeitungskioske und Straßenlaternen. Die Zusammenarbeit wäre demnach nichts anderes als Dasein in einem der von der Okkupationsmacht überwachten Bereiche des alltäglichen Lebens. Dass die Menschen solch eine Auffassung von der Kollaboration besitzen, können einige weitverbreitete Sätze eindeutig bestätigen. Ich denke hier an Sätze wie “Wir waren alle Kollaborateure” oder “Ganz Litauen hat kollaboriert”. Wenn man die Kollaboration so versteht, dann könnte man annehmen, dass alle, die nicht erschossen oder deportiert worden sind, alle die nicht ausgewandert sind, sondern die irgendwie in der sowjetischen Realität existierten, “ein Einheitsbrei” gewesen sind: man hat hier gelebt und gearbeitet, also hätte man auch die Kollaboration nicht vermeiden können.

Der Hauptvorteil dieser Interpretationsstrategie, im Vergleich zu der engeren Interpretationsweise, ist ganz offensichtlich der, dass man hier die schwierige (und womöglich praktisch undurchführbare) Trennung zwischen den Zonen der sowjetischen Realität, die die Okkupationsmacht kontrollierte und ideologisch überwachte, und Zonen, die angeblich nicht kontrolliert und nicht überwacht gewesen sind, vermeiden kann. Dabei kontrollierte die Sowjetmacht tatsächlich nicht nur wissenschaftliche Einrichtungen und Universitäten, sondern sie kontrollierte in einem gewissen Sinne auch Zeitungskioske und Straßenlaternen – dort die Portraits von Antanas Smetona8 anzukleben war unmöglich. Wie aber soll man die andere grundlegende Annahme der weiteren Interpretationsstrategie einschätzen – die Annahme, dass es in einem gewissen Sinne unmöglich war, in den überwachten Zonen zu existieren, ohne sich (im moralischen Sinne) zu “beschmutzen”? Kann man so etwas tatsächlich behaupten?

Diese Denkweise – wie schon jene, die ich zuvor erörtert habe – kann unseren Gerechtigkeitssinn genauso stark verletzen. Wie wir schon sagten, um das Phänomen der Kollaboration breiter zu interpretieren, sollte man doch wenigstens eine Unterscheidung zwischen “kleinen” und “großen” Kollaborateuren treffen. Das heißt, man sollte die Handlungen der KGB-Aktivisten oder Personen, die ihre Mitbürger gezielt gemordet oder deportiert haben, nicht in gleicher Weise bewerten wie die Handlungen eines Lastwagenfahrers, der einmal eine Dose Heringe geklaut hat9, um sein Weihnachtsmenü etwas ansehnlicher erscheinen zu lassen. Doch das Hauptargument gegen die Annahmen der breiteren Interpretation betrifft ausgerechnet die Implikation, dass es in der sowjetischen Lebensrealität unmöglich war, sich in einem gewissen Sinne moralisch nicht zu beschmutzen. Der springende Punkt ist hier der, dass es zahlreiche Fälle gibt, wo die Berührungen mit den von der Okkupationsmacht überwachten Zonen nicht einmal als die “kleinere Kollaboration” zu verstehen sind, einfach weil sie keinerlei unmoralische Züge tragen.

So nutzten beispielsweise viele Kranke die sowjetische medizinische Versorgung, womit sie unausweichlich in Berührung mit den Zonen treten mußten, die von der Fremdmacht kontrolliert gewesen sind. Dabei ist die Bitte der Bedürftigen um medizinische Hilfe sicher kein Verbrechen, egal wer diese Hilfe leistet. Nicht einmal das Stehlen von Lebensmitteln wird dort, wo Menschen hungern, als unmoralisch angesehen. Die Bedürfnisse von Kranken und Hungernden trägt nie unmoralische Züge allein aus dem Grund, dass Nahrung und medizinische Hilfe zu den grundlegenden Menschenrechten zählen. Unmoralisch ist lediglich die Verletzung dieser Rechte. Es gibt jedoch auch andere Berührungspunkte. Die Regimegegner beispielsweise, die es in Litauen unter der Sowjetherrschaft gab, bedeutet für uns im normalen Sprachgebrauch genau das Gegenteil der Haltung eines Kollaborateurs. Auch diese Personen konnten nicht umhin, die von der Fremdherrschaft kontrollierten Zonen zu berühren. Auch sie mußten medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, Fahrkarten, kaufen und die Straßen benutzen. Drittens, denken wir an die Touristen, die in der Sowjetzeit Litauen besuchten. Wer würde auf die Idee kommen, diese Menschen als Kollaborateure zu bezeichnen, einfach weil sie ein paar Tage mit der von Kontrolle und Überwachung durchtränkten Realität in Berührung kamen? Fazit: nicht jede Berührung mit den kontrollierten Zonen kam einer moralischen Beschmutzung gleich, und damit ist auch nicht jede der Berührungen (nur weil sie eine Berührung war) für die Auffassung von Kollaboration relevant.

Diese Fälle zeigen einen groben Fehler der breiteren Interpretationsstrategie: Man versucht die Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht als eine Berührung mit den von der Okkupationsmacht kontrollierten Zonen zu beschreiben, ohne genauer zwischen den Arten dieser Berührungen noch zwischen den Zonen selbst zu unterscheiden. Für eine derartige Unaufmerksamkeit kann man auch teuer mit der Wahrheit bezahlen müssen.

Es wird klar, dass der Ausdruck “Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht”, der die unmoralische Haltung zu entlarven sucht, weder mit der Tätigkeit in den von der Okkupationsmacht installierten Organisationen noch mit der Existenz in den von der Okkupationsmacht kontrollierbaren Zonen synonym und ohne Vorbehalte gleichgesetzt werden kann. Wenn dem so ist, dann könnte man annehmen, dass die naheliegende Lösung des Dilemmas womöglich in einem Kompromiß gefunden werden kann. Es gilt, nach einer Interpretation des Ausdrucks “Zusammenarbeit mit der Okkupationsmacht” zu suchen, die irgendwo zwischen den beiden – den zu engen und zu breiten – Denkweisen zu finden ist. Es gilt, eine Bedeutung dieses Ausdrucks zu finden, die zwischen den beiden falschen Thesen liegt, und die weder besagt, dass nur Kommunisten, KGB-Mitglieder oder die Vorsitzenden von Kolchosen, Städten und Bezirken kollaborierten, noch dass absolut alle Kollaborateure waren. Keine leichte Aufgabe.

In Litauen existiert heutzutage neben den verbreiteten engen und breiten Denkweisen noch ein anderer (viel verstrickterer) Gedanke, der zu der verblüffenden These führt, dass es in Litauen überhaupt keine Kollaboration gegeben habe! Weder habe man in den 1940er Jahren kollaboriert, noch irgendwann später. Demnach ist es tatsächlich sinnlos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl die Erkennungsmerkmale der Kollaboration in Litauen waren, wenn man gleichzeitig behauptet, dass es keine Kollaboration gegeben habe. Deshalb sollte man die Prämissen dieses Gedankens aufmerksamer betrachten.

Dass sich letztere Denkweise in bestimmten Kreisen in Litauen großer Beliebtheit erfreut, hat eindrucksvoll eine Diskussion10 litauischer Historiker gezeigt, die dem Thema der Kollaboration gewidmet war. Dort versucht der Historiker Liudas Truska, seine Ausführungen über die “Besonderheiten der Kollaboration” in Litauen in den Jahren 1940-194111 mit der Behauptung zu vereinbaren, dass die Litauer – insbesondere die litauischen Intellektuellen – derartig unterwürfig mit Moskau kollaborierten, dass Stalin eigentlich nichts anderes übrig blieb, als Litauen zu besetzen. Er schreibt: “Ich denke sogar, dass es Gründe gibt anzunehmen, dass es von Moskau zuerst gar nicht vorgesehen war, neue Sowjetrepubliken zu schaffen. Vielleicht war ein Modell vorgesehen, das dem Status der Mongolei glich. Nur als deutlich war, dass es absolut keinen Widerstand gab, dass sich alles unglaublich harmonisch entwickelte, hat man dann die Entscheidung getroffen: Wozu den Status der Mongolei, wenn wir problemlos neue Sowjetrepubliken haben können?”12 Ferner behauptet der Historiker, dass es in Litauen überhaupt keine Okkupation gegeben habe, weil die Wahlen zur Volksversammlung (sogenannter Liaudies seimas13) mit den 85% des Bevölkerungsanteils (L. Truska behauptet, die hier angeführten Zahlen selbst “berechnet” zu haben) unterstützt wurden. Die Idee der Okkupation sei den Litauern als Sündenbock willkommen gewesen, um die Tatsache zu verdecken, dass die Entscheidung, zum Sowjetimperium zu gehören eine freiwillige war. Truska argumentiert, dass die selbstzerstörerische Haltung der litauischen Intellektuellen außergewöhnlich groß war und versucht, diese selbstzerstörerische Haltung aus der “moralischen Krise” herzuleiten, die die litauischen Intellektuellen und das litauische Volk angeblich in den späten vierziger Jahren erlebt hätten. In seinem Aufsatz schildert er die ausgeklügelten Methoden, die von einem überwiegend großen Teil der litauischen Intelligenz erdacht und eifrig angewendet worden waren, um Stalin und das Sowjetimperium zu ehren. Er weist auch darauf hin, dass die französischen Intellektuellen wohl nie Deutschland um Aufnahme gebeten haben, was in den Augen des Historikers ein Zeichen der unglaublich starken selbstzerstörerischen Haltung der Litauer sei.

Liudas Truska’s Hauptgedanke,- die These der litauischen Selbstdestruktivität – interessiert mich in diesem Kontext weniger, um so mehr, weil es tatsächlich gute Gründe gibt, ihm zuzustimmen (nur der Vergleich mit Frankreich ist nicht besonders gut gewählt – es reicht ja, bloß einen Blick auf die geographischen Unterschiede zu werfen). Was auch immer im Jahr 1940 geschehen war, fällt auf, dass die heutige intellektuelle Elite Litauens tatsächlich alle Symptome der Selbstzerstörung aufweist. Dies bestätigt auch der fest verwurzelte Haß gegen die Hauptfigur der jüngsten litauischen Unabhängigkeitsbewegung, Vytautas Landsbergis. Diesen unerklärlichen Haß empfindet tatsächlich eine überwiegende Mehrheit der litauischen Bevölkerung, unter ihnen auch viele Intellektuelle. Auch dass die Geschichtsschreiber des Landes an der Tatsache der Okkupation zweifeln, kann man erfolgreich als Fall der intellektuellen Selbstzerstörung interpretieren. Und wenn man dazu noch an die entsetzlich hohe litauische Selbstmordrate denkt…

Man kann zwar noch diskutieren, ob denn das litauische Volk gegen 1940 nun wirklich in eine “moralische Krise” geriet, doch es liegt außer Zweifel, dass es nach 1940 kaum Gelegenheit gab, diese Krise zu überwinden.

Truska macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der Kollaboration mit dem in Verbindung steht, was wir unter Okkupation verstehen. Wenn man versucht, Menschen zu beschreiben, die mit den Okkupanten zusammenarbeiteten, dann muß man doch letztendlich wissen, wie diese Okkupanten erkannt werden können, und ob sie überhaupt existierten. Die These, dass Litauen gar nicht okkupiert war, würde implizieren, dass es auch kein Phänomen der Kollaboration gegeben hatte – wo es keine Okkupation gibt, dort kann es logischerweise auch keine Kollaboration geben. Daraus kann man sehen, welch grundlegende Rolle der Begriff der Okkupation für das Verständnis der Kollaboration spielen kann.

Ich definiere “Okkupation” in Folgenden schlichthin (aus dem lateinischen occupare, was so viel wie “besetzen” heißt) in seiner gängigen Bedeutung als unrechtmäßige und gewaltsame Besatzung eines anderen Landes. Truska kann kaum ein anderes Verständnis von der Bedeutung des Wortes “Okkupation” vorausgesetzt haben, wenn er an der Tatsache der Okkupation zweifelt und über die “Schuld” der Litauer sinniert. Letztendlich basiert doch seine ganze Argumentation diesbezüglich auf der Behauptung, dass es, erstens, im Sommer 194014 keine Gewalt gab (“Es gab keinen Terror, keine Gewalt im Sommer 1940, und keiner zwang jemanden etwas zu tun.”15 ). Er weist nachdrücklich darauf hin, dass die von der Bevölkerung ausgehende Unterstützung der Allianz mit dem Sowjetimperium gravierend war (und die Einstellung der Mehrheit ist normalerweise etwas, was in demokratischen Gesellschaften als Garantie der Rechtmäßigkeit angesehen wird). Man kann natürlich noch diskutieren, was dabei als gravierende Unterstützung für die Allianz aufgefaßt werden kann (die Zahl der Stimmen oder der Wähler etc.). Auch ist damit noch nicht gesagt, ob diese Rechtmäßigkeit nicht in Verbindung mit anderen Aspekten gebracht werden kann (z. B. ist es nicht schwer einzusehen, dass eine Unterstützung – wie sehr gravierend sie auch sein möge – keine Rechtmäßigkeit gewähren kann, wenn sich die Endergebnisse und das, was man eigentlich unterstützen wollte, deutliche Unterschiede aufweisen. Selbst wenn es also stimmen sollte – so könnte man dann weiter argumentieren – dass die Unterstützung von der Bevölkerung tatsächlich groß war, haben sie immerhin nicht den eigenen Genozid unterstützt, sondern eine gleichberechtigte Mitgliedschaft.) All diese Aspekte dessen, was “rechtmäßig” ist, sollte (zusammen mit historischen Tatsachen) in Erwägung gezogen werden, um eine richtige Antwort auf die Frage zu geben, ob Litauen okkupierte Zone war oder nicht.

Doch kehren wir zurück zu dem Gedanken, der sich hier quasi beiläufig ergibt. Wenn Truska daran zweifelt, das das gewaltsame Vorgehen des Sowjetimperiums als Okkupation aufzufassen sei, wenn er eher dazu neigt, dieses gewaltsame Vorgehen des Nachbarstaates als Antwort auf die grenzenlose litauische Manie der Selbstzerstörung zu interpretieren, dann müßte er doch wohl logisch denkend diese Manie der Selbstzerstörung nicht als Kollaboration ansehen. Dennoch tut er es, und sogar nachdrücklich! Er sagt: “Ich denke, dass man vielleicht auch unbewußt kollaborieren kann, jedoch bin ich fest davon überzeugt, dass unsere Regierungsstrukturen kollaborierten, wie auch die Intellektuellen. Wie ist das Verhalten der einfachen Leute zu bezeichnen? Ich denke, dass man es ebenso als Kollaboration deuten kann.”16

Was soll das alles heißen? Bedeutet es, dass der Historiker der Meinung ist, es hätte in Litauen Kollaboration ohne Okkupation gegeben? Oder bedeutet es vielleicht, dass die Bevölkerung Litauens einfach so lange miteinander kollaborierte, bis das Nachbarland beschlossen hatte, ihnen einen Grund für Kollaboration zu geben? Wie wäre es aber zu begreifen? Wir bezeichnen doch normalerweise niemanden als Komplizen eines Verbrechens, wenn fest steht, dass der Person, der Schaden zugefügt wurde, nicht existiert. Die logische Grundlage der Argumentation scheint hier ein wenig zu schwanken.

Doch vielleicht gibt es eine andere Lesart dieser Gedankengänge, als solche, die uns dazu führt, zu unterstellen, der bekannte Wissenschaftler sei nicht ganz gründlich in der Folgerichtigkeit seiner Argumentation gewesen. Deshalb würde ich viel eher vermuten, dass Truska jene selbstzerstörerischen Handlungen prinzipiell nicht als Kollaboration gelten lassen will. Dies würde auch gleichzeitig erklären, warum der Historiker oft so hilflos von einer zur anderen Beschreibung springt, um die angebliche litauische Neigung zur Selbstzerstörung zu artikulieren (“Was ist das – eine Kollaboration oder keine Kollaboration?”17 ). Dies würde auch beantworten, warum seine Begriffe so undeutlich sind (manchmal wird die selbstzerstörerische Haltung der Litauer als “unbewußte Kollaboration”, manchmal als “Ausdruck der moralischen Krise, die das litauische Volk am Ende des vierten Jahrzehnts erfahren hat” beschrieben).

Doch die Idee, dass es in Litauen keine Kollaboration gegeben habe, kann auch mit ganz anderen Argumenten gestützt werden, wie ein anderer Beitrag dieser Diskussion zeigt, nämlich der Aufsatz von Algis Kasperavicius: “Kollaboration: chronologische Grenzen”18 Während in Truskas Text der Gedanke der abwesenden Kollaboration, der logisch aus der Behauptung folgt, dass es keine Okkupation gab, sich auf die sogenannte “erste sowjetische Periode” (um 1940) bezieht, behauptet Kasperavicius, dass es Kollaboration in der “ersten Periode” durchaus gegeben habe, jedoch in den Jahren 1956-1957 gänzlich verschwand. Er schreibt: “Bis wann gab es überhaupt diese Kollaborateure? Bis wann kann man den Begriff des “Kollaborateurs” anwenden? Vielleicht bis 1956-1957. Ich will damit natürlich nicht sagen, dass jene, die es verdienen, dass man auf sie diesen Begriff anwendet, dadurch noch nicht vom Namen des Kollaborateurs sowie vom Schmutz der Kollaboration befreit sind. Man kann jedoch ihre Tätigkeit schon kaum Kollaboration nennen.”19

Hier stößt man wieder auf einen Widerspruch, der schon in den Thesen von Truska existierte: dort – Kollaboration, die keine Kollaboration war, hier – Tätigkeit, die man nicht als Kollaboration bezeichnen kann, obwohl derjenige, der sie ausübte, den Namen des Kollaborateurs verdient – ein Widerspruch in sich. Um zu begreifen, wie derartige Widersprüche im Kopf ein und desselben Wissenschaftlers koexistieren können, muß man sich fragen, was Kasperavicius daran zweifeln lässt, dass es in Litauen nach 1957 noch Kollaboration gab. Erstens behauptet er, dass der Zustand nach 1957 nicht als Okkupation, sondern als Annexion zu beschreiben ist. Zwischen beiden Zuständen scheint der Historiker einen Unterschied zu sehen, den er nie ausreichend erklärt (was auch die Diskussion nach Erscheinen des Aufsatzes verursachte20). Womöglich ist dieser Unterschied auch ihm nicht ausreichend klar. So oder so, die typisch lexikalischen Beschreibungen dieser Begriffe weisen keine gravierende Unterschiede aus. Annexion (vom lateinischen Wort annectere – “verbinden”, “verknüpfen”) wird normalerweise als gewaltsame und unrechtmäßige Aneignung des fremden Territoriums verstanden. Kasperavicius, der einen derartigen Unterschied zu sehen meint, spricht gerne und oft von der Dauer der unrechtmäßigen und gewaltsamen Aneignung (“Ist es denkbar, dass eine Okkupation mehrere Jahre dauern könnte?”21 ). Doch die Periode zwischen 1940 und 1957, die für Kasperavicius eine Periode der Okkupation darstellt, ist auch nicht gerade kurz. Man kann vielleicht einen Unterschied zwischen kürzeren Okkupation und längeren Annexion machen, aber es bleibt völlig unklar, wie so ein Unterschied (von sich aus) dazu führen sollte, dass man die Zusammenarbeit mit bestimmten Personen bis 1957 als Kollaboration auffassen könnte, während sich die Zusammenarbeit mit gleichen Personen nach 1957 schlicht und einfach als Zusammenarbeit bezeichnen ließe. So Kasperavicius: “Man kann doch wohl nicht hundert Jahre kollaborieren?”22 Nur läßt sich so etwas verteidigen? Wenn eine Person bei den gewaltsamen und unrechtmäßigen Handlungen mitwirkt, so ändert sich die moralische Einschätzung einer derartigen Teilnahme normalerweise nicht je nachdem, ob nun die betreffende Person zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre daran beteiligt war.

Eine andere Ursache, die für Kasperavicius (und nicht nur für ihn; spontan und nicht ausführlich artikuliert, ist diese Überzeugung für viele Meinungen charakteristisch) bedeutsam erscheint, ist sein Argument, dass aufgrund des veränderten Stils der Kollaboration nach 1957, sie als Phänomen nicht mehr existierte, d.h, die Tatsache, dass die Massentötungen, Folter und andere Gewaltakte zu der Zeit ein wenig schwächer geworden waren, ist für Kasperavicius ein Grund, den Begriff der Kollaboration nicht weiter anzuwenden. Solche Zurückhaltung in der Anwendung des Begriffs entsteht wahrscheinlich aus dem Wunsch, zu zeigen, dass der Charakter der Kollaboration variiert, je nachdem, ob man mit der “großen” oder mit der “kleinen” Gewalt kollaborierte.

Und man muß teilweise zugeben, dass es in der Tat ein gravierender Unterschied ist, nach dem Messer zu greifen, um sich vor einem Gewalttäter zu schützen oder ob es genügt, nur den Fernsehapparat anzuschalten. Der Unterschied, den man in diesem Fall macht, ist der Unterschied zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen schlechthin. Die Art der vorherigen Gewalttaten macht aus einem Kollaborateur einen Verbrecher gegen die Menschlichkeit (nicht weniger als es “Judenmörder” waren, die weltweit als Verbrecher gegen die Menschlichkeit angesehen werden). Jedoch soll der Unterschied zwischen den Arten der begangenen Verbrechen noch nicht dazu führen, dass man die Verletzungen anderer Rechte nicht als Verbrechen beurteilt und bestraft.

Damit ist klar, dass der Gedanke über den veränderten Stil der Gewalt in Litauen nach 1957 noch nicht zu der Schlußfolgerung führen sollte, die Kollaboration sei gänzlich verschwunden. Es ist sinnlos, beweisen zu wollen, dass die Mitwirkung bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die einzige Form der Kollaboration ist.

Ein weiterer Punkt, der für die Thesen von Kasperavicius relevant scheint, ist seine Annahme, dass sich das Phänomen der Kollaboration mit der nachlassenden Welle der Gewalt aufgelöst hatte, ist der Umstand, dass es keine andere Wahl gab. Anscheinend denkt er, dass die Abwesenheit der Entscheidungsfreiheit genau der Grund ist, warum man die Verhaltensformen der Litauer nicht als Kollaboration kategorisieren kann. Setzen wir das oben angeführte Zitat fort: “Man kann doch wohl nicht hundert Jahre kollaborieren? Welche Alternative bleibt? Die bewaffnete Widerstandsbewegung ist doch schon gelöscht, und es gibt keine realen Möglichkeiten, sie wieder aufzunehmen…”23

Grundsätzlich sollte man einräumen, dass der Gedanke der Entscheidungsfreiheit, und des freien Willens für die Idee der Kollaboration grundlegend ist. Und nicht nur für die Idee der Kollaboration. Weiter gefaßt, sind es sehr wichtige Fragen für eine viel breitere Fragestellung in der Moralphilosophie, die sich mit Themen wie Schuld und Verantwortung beschäftigt. Der Umstand, dass man keine andere Wahl hatte, wirkt als “entlastender” Umstand, sowohl in den Diskussionen zu ethischen Themen, als auch in der Praxis, z. B. in den Gerichtshöfen. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass die Abwesenheit der freien Entscheidungsfähigkeit die Diskussion über Kollaboration nicht automatisch überflüssig macht. Die Abwesenheit der Entscheidungsfreiheit setzt der Diskussion noch kein Ende. Die Frage ist, welche Situation als Situation ohne Entscheidungsfreiheit zu verstehen wäre, und welche Situation ohne Entscheidungsfreiheit für die Idee der Kollaboration von Belang ist.

Die Litauer hatten tatsächlich keine andere Wahl, als in dem politischen und ökonomischen System, das ihnen aufgezwungen war, zu leben. Und eben deswegen darf man die Menschen nur aus dem Grund als Kollaborateure betrachten, wenn sie in diesem System lebten (hier lag der Fehler der breiteren Interpretationsstrategie). Aber andererseits erlaubte dieses unfreie System unterschiedlich freie Entscheidungsformen, beispielsweise, in welchem Bezirk und mit wem man wohnen möchte, welche Verkehrsmittel man benutzt, um die Arbeitsstelle zu erreichen etc. Doch wir würden sicherlich nicht behaupten wollen, dass eine derartige Entscheidungsfreiheit für den Begriff der Kollaboration wichtig ist. Es gab allerdings auch andere Entscheidungsformen, die eine (moralisch gesehen) unsympathische, konforme Haltung der Menschen demonstrierten, jedoch auch keinen Einfluß auf die Idee der Kollaboration hatten. Man konnte etwa wählen, das Leben als Putzfrau zu verbringen und dabei die Religionsfreiheit bewahren, oder im Tausch für einen angenehmeren Job auf seinen Glauben verzichten. Und es sind Fälle denkbar, in denen eine Person, die äußerlich konform lebte, im ethischen Sinne durchaus sympathisch bleiben könnte, so wie der Fall des “Internationale”- Sängers. Es gab auch (wirkliche oder angebliche) Nicht-Kollaborateure und auch Nicht-Konformisten, die jeglichen Bemühungen, die nationale Identität zu wahren mit Verachtung entgegentraten. Wäre denn eine solche Einstellung moralisch betrachtet höher einzustufen oder menschlich gesehen sympathischer? Man kann natürlich Beispiele der reinsten Kollaboration finden, die sich in den freien Entscheidungen manifestieren, die durchaus möglich gewesen sind, wie etwa eine Entscheidung, sich das Leben angenehmer zu gestalten und dabei im Kreis von Freunden und Kollegen zu schnüffeln, anstatt unbequem aber anständig zu leben.

So schwanken wir von einer Benennung zur anderen, die sich ausgerechnet danach ergibt, was und wie eine Person in jenen Rahmen gewählt hatte, die ihr zur Verfügung stand: Kollaborateur, Nicht-Kollaborateur, Konformist, Nicht-Konformist, sympatischer Konformist, unsymphatischer Nicht-Konformist… Wie der Entscheidungsstil benannt wird, hängt von vielen Aspekten ab: wieviel hatte man zu verlieren, woher kam der Zwang (aus den Machtstrukturen oder aus dem Freundeskreis, gar aus Notwendigkeit, wie etwa einer angeschlagenen Gesundheit etc.), wie wichtig waren für einen Dinge, auf die man Verzicht leisten sollte und wie schädlich waren die Handlungen… All diese Umstände spielen eine Rolle, wenn man einen passenden Namen zu dem Entscheidungsstil einer Person sucht. Und all diese Umstände sollten nicht nur besser historisch fixiert, sondern auch genauer theoretisch definiert werden, um das gesuchte Handlungsschema eines Kollaborateurs besser zu verstehen und zu definieren.

Dies mag schwer erscheinen. Dennoch würde solch ein Schema viele neue Erfahrungen bringen – zumindest würde es der komplizierten Vielfalt der Blickwinkel gerecht werden. Und obwohl man dadurch noch nicht sagen kann, wie die Idee des Kollaborateurs genau zu definieren ist, so könnte dieser Versuch uns nichtdestotrotz einige Einsichten verschaffen.

So zum Beispiel zu einer etwas kritischeren Haltung gegenüber den Ausführungen über “positive Kollaborateure” die heutzutage besonders häufig, sowohl in der Politik als auch in den Medien, anzutreffen sind. Es heisst, die Kollaborateure hätten angeblich “viel Gutes” getan. Heißt das, wenn irgendeiner KGB-Mörder Tante Martha eine Geburtstagstorte geschenkt hat, dann war er vielleicht “nicht übel”? Wir sprechen ja tatsächlich von guten und schlechten Konformisten oder von Nicht-Dissidenten. Aber kann man in gleicher Art und Weise auch Kollaborateure in gute und schlechte sortieren? Zu Beginn unserer Überlegungen zum Thema Kollaboration stand doch die Prämisse, dass die Kollaboration ausgerechnet durch den schlechten (oder unmoralischen) Stil von den anderen Formen der Zusammenarbeit getrennt ist. Vielleicht war es ein Fehler? Womöglich sollte man diesen Grad der moralischen Verworfenheit aus dem Begriff der Kollaboration ausradieren? Dann könnte man als Kollaborateure einfach Personen bezeichnen, die mit den Okkupationsmächten zusammenarbeiteten. Bloß was sollte man dann mit der Verworfenheit der Okkupationsmacht tun? Wie könnte man den Schatten des Unmoralischen aus den Verbrechern gegen die Menschlichkeit ausradieren? Und, viel wichtiger: wodurch würde man dann die Okkupation von anderen Formen der zwischenstaatlichen Verbindungen unterscheiden? Ich glaube nicht, dass die Okkupation irgendwann nicht mehr auf der Liste der kriminellen Handlungen stehen wird. Selbst wenn, aus welchem Grunde sollte man die Zusammenarbeit mit dem Okkupanten als nichtkriminelle Tätigkeit ablehnen, während man eine andere Teilnahme an der kriminellen Tätigkeit als Verbrechen ansieht? Hier stimmt wieder etwas nicht.

Zum einen bleibt zu beachten, dass es große und kleine Verbrecher gibt. Zweitens, ist der Begriff des Verbrechens nicht ganz glasklar. Drittens, kann man unter Verbrechern tatsächlich sympathische Personen finden (hier könnte man vielleicht den Fall von Ostap Bender24 vor Augen haben). Ferner, man könnte bestimmt Kollaborateure finden, die auch gutes getan haben. Einer mag eine effiziente Firma, der andere eine neue Fakultät gegründet haben. Der dritte war vielleicht ein vorbildlicher Familienvater. Warum auch nicht? Unter den Nazis gab es viele vorbildliche Ehemänner und Familienväter, und auch besonders viele ausgezeichnete und fleißige Buchhalter.

Nur wie weit soll man gehen, wenn man von Aktivitäten der “guten Kollaborateure” spricht und urteilt? Heute wird beispielsweise sehr oft und gerne darauf hingewiesen, dass Snieckus, der – wie es allgemein bekannt ist – viele Tausende Litauer auf dem Gewissen hat, auch sehr viel Gutes getan hat, um den Interessen Litauens zu dienen. Das muß nicht falsch sein. Man weiß ja auch, dass, nachdem die Nazis im dritten Jahrzehnt die Macht ergriffen hatten, die ökonomische Situation in Deutschland sich verbessert hat und die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Dennoch, wer würde aus diesem Grunde auf die Idee kommen, Hitler als “guten Diktator” zu bezeichnen oder gar ihm zu Ehren eine Gedenkfeier veranstalten25? Man darf ja nicht vergessen, dass man nicht alle schlechte Taten so einfach durch “gute” ersetzen kann, dass die Anwesenheit dieser “guten” Taten in der Biographie eines Kriminellen, diesen Kriminellen noch nicht unbedingt “besser” erscheinen läßt. Es wäre daher wünschenswert, dass solche merkwürdige Ideen, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, wenigstens mit Reflexionen darüber verbunden werden, wie jene gute Taten zu definieren sind, um die moralische Einschätzung der Handlungen eines Verbrechers tatsächlich zu transformieren.

Hier möchte ich darauf hinweisen, dass es nicht das Ziel dieses Aufsatzes ist, zu beweisen, dass ein derartiger Selektionsprozeß nötig ist. Auch wird hier nicht die Frage beantwortet, was der Sinn dieses Selektionsprozesses denn überhaupt wäre - die Namen der Kollaborateure lediglich in den Geschichtsbüchern zu fixieren oder sie zu richten. Mein Leitgedanke ist hier der, dass es in beiden Fällen (ob man die Kollaborateure zur Verantwortung zieht oder ob man sie lediglich historisch katalogisiert) nicht erwünscht ist, Fehler zu machen, Personen mit Bezeichnungen etikettieren, die sie nicht verdienen, die Kollaborateure als Patrioten und umgekehrt zu bezeichnen. Solche Fehler können aber nur dann vermieden werden, wenn es gelingt, gerechtere und genauere Kriterien zu bestimmen, die unseren Klassifikationen zugrunde liegen können.

Jene Aussagen werden weder gründlich reflektiert, noch ganz bewußt gemacht. Oft werden diese Aussagen auch nicht expliziert, sondern werden irgendwo im Hintergrund der anderen Aussagen stillschweigend vorausgesetzt. Ich versuche hier nun diese vorausgesetzten Annahmen aus dem Hintergrund "herauszuholen", damit eine Diskussion über diese Frage überhaupt möglich ist.

Lietuva brangi - ein zu Beginn des XX. Jahrhunderts geschriebener Gesang, der oft parallel zu der litauischen Nationalhymne gesungen wird. Da die sowjetische Regierung diesem Lied keine Bedeutung zugeschrieben hatte, die der Nationalhymne ähnlich wäre, erfüllte Lietuva brangi während der Sowjetzeit (wie auch danach) insgeheim die Funktion der litauischen Nationalhymne.

Ein Buch über die Geschichte Litauens, das 1936 von dem Historiker A. Sapoka herausgegeben wurde. In der Sowjetära fast das einzige Beispiel für unverfälschte Geschichtsschreibung und somit ein Buch, das man selbstverständlich nicht besitzen, geschweige denn propagieren durfte.

Wenn ich sage "Fälle", meine ich damit keine konkreten und historisch fixierten Fälle oder Biographien, weil es sich dem Stil dieses Textes - die Kriterien des Begriffs der Kollaboration als solche zu verstehen versuchen - widersetzen würde. Die Analyse der imaginären Fälle ist ein legitimes Mittel, das wir nachdenkend häufig einsetzen, um die Konturen der "verschwommenen" Begriffe deutlicher sehen zu können. Wichtig ist hier nur, dass die Verbindung zwischen imaginären und faktischen Fällen erkennbar bleibt.

Antanas Snieckus (1903-1974) - erster Sekretär der, von der kommunistischen Partei in der Sowjetunion installierten und geleiteten, litauischen kommunistischen Partei (von 1936 bis zu seinem Tode im Jahr 1974); in den Jahren 1944-1953 erwarb er sich den "Ruhm" eines fanatischen Stalinisten und außergewöhnlich fleißigen Handlangers der Kreml-Politik. Den bewaffneten Widerstand der litauischen Freiheitskämpfer unterdrückte er mit Hilfe der sowjetischen Streitmacht.

Nijole Sadunaite (geb. 1938) - Lehrerin; hat sich an der Herausgabe der subversiven antisowjetischen Presse (u. a. "Chronik der litauischen katholischen Kirche"/ Lietuvos Kataliku baznycios kronika) beteiligt; 1975-1980 politische Gefangene.

Antanas Smetona (1874-1944) - Unterzeichner des Aktes über die Unabhängigkeit Litauens von 1918; Geisteswissenschaftler und Publizist; litauischer Präsident (1919-1920 und 1927-1940).

Hier schildert die Autorin ein Beispiel des "kleinen Kollaborateurs": Um zu implizieren, dass in der Sowjetära das Stehlen von staatlichem Eigentum allgemein verbreitet und stillschweigend akzeptiert war, ist "die Dose mit Heringen" im litauischen Sprachgebrauch zu einer Metapher für die defizitäre sowjetische Ökonomie geworden. Nicht zu vergessen ist, dass Hering eines der Hauptgerichte für das traditionelle litauische Weihnachtsmenü ist. Das Beispiel zeigt, dass eine kollaborative Haltung, auch tapfere Elemente des Protestes enthält, denn das Feiern des Weihnachtsfestes an sich wurde ja ebenfalls verfolgt.

Diese Diskussion ist abgedruckt in: Genocidas ir rezistencija, 1(9), Vilnius 2001.

Liudas Truska, Kolaboravimo ypatumai pirmuoju sovietmeciu, ebenda, S. 79-84.

ebenda, S. 82

Liaudies seimas ("Volksgewählte" oder "Volksversammlung"): diesen Namen gaben die Sowjets die 1940 Litauen besetzten, dem litauischen Parlament, das unter den Bedingungen der Besatzung "gewählt" wurde und welches den Beitritt von Litauen in die Sowjetunion verkündete.

Hier sei der Leser daran erinnert, dass es auch andere Statistiken über die Teilnahme an den Wahlen von Liaudies seimas gibt: "...Es ist zweifelhaft, ob sich die Teilnehmerzahl auf die 20% des Bevölkerungsanteils belaufen hatte, ganz zu schweigen davon, dass die größere Mehrheit der Teilnehmer in die Briefumschläge keine Liste mit den Namen der Kandidaten steckte, sondern irgendwas anderes, um dadurch ihren Protest zu dokumentieren.", Lietuviu enciklopedija, Bd. VIII, s. 524. - Anmerkung des Hrsg.

ebenda, S. 80.

ebenda, S. 82.

ebenda.

Algis Kasperavicius, Kolaboravimas: chronologines ribos, ebenda, S. 85-90.

ebenda, S. 87.

ebenda, S. 88-90.

ebenda, S. 89.

ebenda, S. 87.

ebenda.

Ostap Bender - die Hauptperson der Kultbücher von I. Ilf und J. Petrov. Die Handlungsweisen von O. Bender besaßen zwar nicht den hohen moralischen Anspruch der Dissidenten, doch sie entblößten und verspotteten sarkastisch die Absurdität des sowjetischen Systems.

Hier spielt die Autorin auf die jüngsten Ereignisse in Litauen an: im Januar 2003 hat man in Litauen eine Jubiläumsveranstaltung (100 Jahre für Antanas Snieckus) organisiert.

Published 24 February 2004
Original in Lithuanian
Translated by Egle Wittig-Marcinkeviciute

Contributed by Kulturos barai © Eurozine

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