Litauen sagte sich 1990 als erste Republik von der Sowjetunion los.
Damit sich das Trauma der Besatzung nie wiederholt, wollen die
Litauer nicht noch einmal zwischen zwei Machtblöcke geraten. Die
meisten sehen eine stabile Eigenständigkeit durch eine starke
Einbindung in Europa garantiert. Die EU-Skeptiker sehen darin zwar
eine paradoxe Argumentation, aber sie werden ohnehin immer weniger.
In Brüssel gilt Litauen – wie die anderen baltischen Republiken –
als folgsamer Schüler in der Beitrittsklasse. Und dennoch fällt
es den Litauern schwer, einige Forderungen zu akzeptieren, die das
Land stark verändern werden. Doch sie haben keine andere Wahl, wenn
sie über die EU-Zukunft mit entscheiden wollen.
“Auch wir sind Europa”, titelte eine sowjetlitauische Zeitung im
Sommer 1989. Das klang trotzig, fordernd und zugleich illusionär.
Kaum jemand in Wilna, Kaunas und Klaipeda glaubte damals, dass die
kleine baltische Sowjetrepublik bald ihre Unabhängigkeit
wiedererlangen könnte. Doch dann setzte eine unerhörte Dynamik
ein: Noch 1989 wagten die litauischen Kommunisten als Erste den
Austritt aus der KPdSU, 1990 deklarierte die Republik Litauen die
Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit, 1991 folgten die weltweite
Anerkennung und die Aufnahme in die UNO, 1993 zog das ehemals
sowjetische Militär endgültig ab.
Ähnlich rasch verliefen die Entwicklungen in den baltischen
Schwesterrepubliken Estland und Lettland. Als Estland im März 1998
“bevorzugt” in die erste EU-Beitrittsrunde aufgenommen wurde,
stachelte das nur den Wettbewerb unter den baltischen Republiken an –
übrigens zum Nutzen Lettlands und Litauens, wie die derzeitigen
Zwischenberichte zeigen. Litauen hat kräftig aufgeholt und konnte
im Juli 2002 genau wie Estland 28 der geforderten 30
Verhandlungskapitel abschließen. Nun ist der EU-Beitritt für das
Jahr 2004 vorgesehen.
Die “Bevorzugung” Estlands hatte in Litauen für viel Aufregung
gesorgt, denn seit jeher lodert ein kleiner, zäher Konkurrenzkampf
zwischen den drei baltischen Staaten, und Litauen bildet sich nicht
wenig darauf ein, im Gegensatz zu den anderen Republiken schon auf
eine eigenständige Geschichte im Mittelalter verweisen zu können.
1253 ließ sich der Fürst Mindaugas zum litauischen König
krönen und schuf das “Großfürstentum Litauen”, das durch
Gebietseroberungen im 14. Jahrhundert seine größte Ausdehnung
erreichte: von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Auf diese Tatsache
sind die Litauer bis heute stolz. Doch aufgrund der anhaltenden
Bedrohung durch den Deutschen Orden an der Westgrenze schloss das
Großfürstentum am Ende des Jahrhunderts eine Union mit Polen:
1386 heiratete Großfürst Jogaila die polnische Königin Jadwiga
und erhielt die polnische Königskrone. Ganze 150 Jahre spielte das
Großfürstentum eine eigenständige Rolle in der
polnisch-litauischen Union, dann sank seine Bedeutung, und mit der
dritten Teilung Polens 1795 verschwand es vollständig von der
politischen Landkarte. 120 Jahre war das Gebiet unter zaristischer
Herrschaft, bevor es am Ende des Ersten Weltkrieges zeitgleich mit
der Entstehung von Estland und Lettland am 16. Februar 1918 wieder
unabhängig wurde. 1920-22 folgte die internationale Anerkennung,
1921 wurde Litauen in den Völkerbund aufgenommen. Polnische
Freischärler besetzten jedoch 1920 die litauische Hauptstadt Wilna.
So musste Kaunas bis 1939 als Interimshauptstadt herhalten. Das
litauische Parlament, der Seimas, initiierte große Reformen,
führte die Lita als Landeswährung ein – ein reges Kultur- und
Bildungsleben entstand in der Hauptstadt. Anfangs verfügte die
jüdische, sehr staatsloyale Minderheit (8,6 Prozent) über eine
Kulturautonomie.
Die Zwischenkriegszeit wird vielfach als die “goldenen Jahre” der
litauischen Kultur bezeichnet, obwohl es eine politisch äußerst
schwierige Zeit war, zumal nach dem Militärputsch von 1926 ein
autoritäres Regime an die Macht kam und die Spannungen mit Polen
die kulturelle Abschottung begünstigten. Das Litauische wurde zur
Landessprache, und es entstand eine eigenständige Nationalkultur,
die sich nicht nach Europa orientierte, obwohl die Protagonisten
oftmals im Ausland studiert hatten. Viele Künstler spürten die
nationale Enge und verließen das Land.
Heute blickt man mit Nostalgie auf jene Zeit zurück. Doch erst
nachdem die grundlegende Verbesserung der polnisch-litauischen
Beziehungen in den Neunzigerjahren den Litauern die nationalistische
Enge der Zwischenkriegszeit einsichtig gemacht hat, konnte das Land
Kurs auf Europa nehmen. Die Vorboten der Annäherung mehren sich.
Dazu gehört auch, dass Litauen zum 1. Februar 2002 endlich die
Anbindung seiner Währung von US-Dollar auf Euro umgestellt hat.
Wirtschaftlich gesehen wurde es höchste Zeit, denn europäische
Investoren und Partner klagten schon mehrere Jahre über die
fiktiven Kursverhältnisse (seit 1992: 1 Dollar = 4 Lita), die das
finanzielle Engagement in Litauen immer unattraktiver machten.
Allerdings zögerte die Regierung die Aufhebung der Dollarbindung so
lange wie möglich hinaus, denn ein Großteil der Bevölkerung
trägt seine Ersparnisse nicht auf die Bank, sondern tauscht sie in
Dollarscheine und versteckt sie unter der Matratze.
In diesem Sommer trug die Jugend in Klaipeda bevorzugt Taschen und
T-Shirts mit dem Eurozeichen. Regelmäßig bringen die Zeitungen
Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute zum Thema “Der Litauer und
die EU”. Die letzte große Umfrage im Mai 2002 (2 523 Befragte)
ergab, dass 54,3 Prozent der Befragten für den Eintritt ihres
Landes in die EU sind. Dazu zählen vor allem Jugendliche,
Besserverdienende, Geschäftsleute und Menschen mit
Hochschulbildung. Euroskeptiker finden sich vor allem unter den
Niedrigverdienern, Arbeitslosen, Landbewohnern sowie unter der
russischen und polnischen Minderheit. Die polnische Minderheit lebt
mehrheitlich auf dem Land und hat ein unterdurchschnittliches
Einkommen, was ihre Zurückhaltung gegenüber den europäischen
Ambitionen erklärt.
35 Prozent der Bevölkerung befürchten vor allem, dass sich die
Lage der Landwirtschaft durch den Eintritt in die EU verschlechtern
würde, was nicht verwundert, da der Agrarsektor mit 8 Prozent einen
erheblichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leistet und knapp 20
Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt. Allerdings hat die
große Trockenheit dieses Sommers viele vor allem kleine Bauern in
den Ruin getrieben. Nur 5 Prozent der litauischen Bauern
bewirtschaften Höfe mit 50 Hektar oder mehr (EU-Durchschnitt: 8,5
Prozent, Polen: 0,8 Prozent) und können beim Staat Ansprüche auf
Unterstützung geltend machen. Vor allem die Kleinbauern fürchten
die scharfe Konkurrenz und die hohen Qualitätsstandards innerhalb
der EU.
Die Frage, ob es ein Referendum zum EU-Beitritt geben wird, ist noch
offen, doch viele Litauer äußern, dass ihr Votum von der Position
einzelner Politiker, vor allem aber von einem (bisher nicht
vorhandenen) Votum der Kirche beeinflusst werden könnte.
Staatspräsident Valdas Adamkus, ein Litauer aus dem
US-amerikanischen Exil, der seit 1998 an der Macht ist und sich im
Dezember zur Wiederwahl stellt, unterstreicht vor allem Litauens
Bestrebungen, der Nato beizutreten. Diesem Bündnis misst er
persönlich weitaus mehr Bedeutung bei als der EU. Dafür gibt es
historische Gründe.
Litauen hat das Ende seiner “goldenen Jahre” als traumatische
Erfahrung verbucht. 1939, nach dem Zusatzprotokoll des
Hitler-Stalin-Paktes, erzwang die UdSSR mit einem Beistandsvertrag
die Einrichtung sowjetischer Militärstützpunkte im Baltikum. Nach
der Besetzung durch die UdSSR am 15. Juni 1940 folgte ein Jahr
gnadenloser Sowjetisierung: Im Juni 1941 begannen die Deportationen.
Die letzten Züge mit Verbannten standen abfahrbereit, als die
deutsche Wehrmacht in das Land einmarschierte. Die Litauer hofften
auf eine neuerliche Unabhängigkeit, doch das Land wurde in das neu
gebildete Reichskommissariat Ostland eingegliedert. 95 Prozent der
litauischen Juden wurden ermordet, zigtausende Zwangsarbeiter
rekrutiert.
Doch auch nach dem Kriegsende blieb die Unabhängigkeit ein Traum:
die baltischen Republiken wurden sowjetische Teilrepubliken. Die
Amtssprache war Russisch, die Landessprache Litauisch. Bis 1953
dauerte der bewaffnete Kampf, doch während der gesamten Sowjetzeit
ist der Widerstand nie völlig erloschen.
Heute genießen in Litauen die einstigen Unabhängigkeitskämpfer
großes Ansehen. Der derzeitige Premierminister Algirdas Brazauskas,
der die Regierungskoalition von Sozialdemokraten und der
sozialliberalen Neuen Union anführt, gilt als eine Galionsfigur der
Unabhängigkeitsbewegung. Er ermunterte die litauischen Kommunisten
1989, die KPdSU zu verlassen. Seit er sich offen für den
EU-Beitritt erklärt hat, haben sich auch viele seiner
Parteianhänger, der früheren Kommunisten und jetzigen
Sozialdemokraten, zu gemäßigten Europragmatikern gewandelt.
Zank um den Atommeiler
Knackpunkt in den Verhandlungen mit der EU ist das Kernkraftwerk
Ignalina in Ostlitauen mit seinen Reaktoren vom Typ Tschernobyl,
gegen das Ende der Achtzigerjahre heftig demonstriert worden war.
Heute soll der Meiler am Netz bleiben, weil er mehr als drei Viertel
des Energiebedarfs des Landes deckt und durch Stromverkäufe an
Weißrussland und nach Kaliningrad zusätzliche Einnahmen bringt.
Kein anderes Land der Welt ist derart abhängig von atomar erzeugtem
Strom. Der litauische Präsident hat zugesagt, Block I von Ignalina
bis 2004 unter einer Bedingung stillzulegen: die EU-Mitgliedschaft
bis 2004. Der zweite Meiler könnte bis 2009 stillgelegt werden,
aber nur wenn Brüssel die entsprechenden Fördergelder sowie die
Mittel für die Entwicklung alternativer Energien zur Verfügung
stellt. Gegenüber den litauischen Forderungen nach Aufschub bleibt
die EU hart. Bisweilen wird diese Haltung von litauischen Politikern
als “Beschädigung der nationalen Interessen” ausgelegt, was Wasser
auf die Mühlen der Euroskeptiker sei.
Die EU-Gegner machen sich vor allem stark, wenn es um Regelungen des
Grundstückskaufes für Ausländer oder deren Rückgabe an
ehemalige Besitzer bzw. deren Erben geht. Hier herrscht immer wieder
die Angst vor, Litauen könne von Ausländern aufgekauft werden,
denn die Litauer hegen bis heute eine überaus starke Bindung an den
Landbesitz. Nicht umsonst sagt man in Litauen von einem Menschen,
über den es anderswo heißt, dass er mit dem linken Fuß
aufgestanden sei: “Er läuft herum, als habe er sein Land verkauft.”
Außerdem machen die Euroskeptiker geltend, dass die
EU-Mitgliedschaft das Verhältnis zu Russland beeinträchtigen
werde. Das befürchten jedenfalls 26,5 Prozent der Befragten, die
damit sicher nicht nur das gegenwärtig breit diskutierte Problem
des russischen Transits nach Kaliningrad im Auge haben.
Gerade in dieser Frage gibt es beträchtliche Differenzen zwichen
den regierenden litauischen Sozialdemokraten, die im Rahmen der
Privatisierungen russisches Kapital ins Land ließen, und den eher
russophoben Konservativen, die aber noch keine Aktivitäten
entwickeln konnten. Im Gegensatz zu Estland und Lettland hat Litauen
jedenfalls keine Probleme mit seiner russischen Minderheit, die
mehrheitlich die litauische Staatsbürgerschaft besitzt und sich
überaus loyal verhält.
Russland und Litauen sind wirtschaftlich stärker verflochten, als
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Russische Aktionäre
besitzen etwa große Anteile an litauischen Energiebetrieben.
Litauische Exporte nach Russland machen derzeit etwa 9 Prozent aus.
Die künftige Zollgrenze zu Russland wird den gesamten
Nachbarschaftshandel grundlegend verändern. Der Import von
Dünger, Erdgas, Chemikalien und Fahrzeugen wird sich verteuern. Die
Geschäftsleute geben sich zwar einstweilen betont gleichgültig,
befürchten aber, dass die Erzeugerpreise in Litauen in die Höhe
schnellen und so den Handel gefährden werden. Im
privatwirtschaftlichen Sektor werden die absehbaren Veränderungen
den Gebrauchtwagenhandel besonders hart treffen. Ganze Regionen in
Litauen leben praktisch nur vom Autohandel in die GUS-Staaten. Hier
werden Gebrauchtwagen aus Westeuropa in unzähligen kleinen
Werkstätten repariert, neu zusammengeschraubt, lackiert und
poliert, bis sie dann russischen und häufig auch usbekischen und
kasachischen Käufern angeboten werden. Um die riesigen Automärkte
herum hat sich eine ganze Dienstleistungspalette entwickelt, von
Wechselstuben über Hotels bis hin zu glitzernden Striptease-Shows.
Ohne die Kunden aus Russland droht Stillstand und ein rapides
Ansteigen der Arbeitslosigkeit.
Aus Russland hingegen kommen erste Zeichen, die darauf hindeuten,
dass auch die litauischen Joint Ventures in Kaliningrad von den
Veränderungen betroffen sein werden. Offiziell arbeiten derzeit
etwa 3 000 Arbeitskräfte im Nachbargebiet, vor allem auf dem Bau,
in Werften und in der Landwirtschaft. Alle repräsentativen
Bauvorhaben in Kaliningrad werden seit einigen Jahren von litauischen
Firmen ausgeführt, da diese besser arbeiten als die einheimischen
Anbieter. Jetzt hat Moskau angekündigt, dass die ausländischen
Arbeitskräfte ab Januar 2003 quotiert und auf insgesamt maximal 8
000 festgelegt werden.
Insgesamt sind die offiziellen Beziehungen der Administrationen in
den Grenzregionen gut und recht eng. Hinzu kommen die zahlreichen
persönlichen Verbindungen. Es gibt viele familiäre Kontakte
zwischen Litauern im Kaliningrader Gebiet und ihren Verwandten in
Litauen sowie Russen in Klaipeda und ihren Angehörigen jenseits der
Grenze. Litauen ist jedenfalls an dauerhaft guten Beziehungen
interessiert. Nun hat Dänemark signalisiert, dass die derzeitige
Transitfrage zwischen Russland und der EU geklärt werden müsse,
da Litauen gegenüber der EU bereits alle diesbezüglichen
Vereinbarungen unterzeichnet habe. Litauen solle sich deswegen nicht
von Moskau unter Druck setzen lassen.
Zweifellos wird das Wirtschaftsgefälle an der litauisch-russischen
Grenze künftig noch größer werden als bisher. Dabei blüht
schon jetzt der Schmuggel, verstopft der Ameisentourismus die
Grenzübergänge in Kybartai und Panemune, denn die vielen
Arbeitslosen in den litauischen Grenzregionen versuchen, mit dem
Einkauf von billigem russischem Benzin, Schnaps und Zucker ihr Budget
aufzubessern.
Trotz allem überwiegt in den Umfragen über die Perspektiven eines
EU-Beitritts ein vorsichtiger Optimismus. 56 Prozent der Befragten
hoffen auf bessere Arbeitsmöglichkeiten und einen Rückgang der
Arbeitslosigkeit, und insbesondere auf bessere Lebens- und
Lernbedingungen für die Jugendlichen. Sehr viele junge, gut
ausgebildete Litauer sind in den letzten Jahren ausgewandert, da es
zu Hause an attraktiven und gut dotierten Arbeitsplätzen mangelt
und Eigeninitiative immer noch durch eine irrwitzige Bürokratie
nachgerade erstickt wird. Litauische Experten für Europapolitik
rechnen der Bevölkerung immer wieder vor, dass gerade in den ersten
Jahren der EU-Zugehörigkeit der Geldstrom aus Brüssel größer
wäre als die Beiträge, die das Land zu entrichten hätte. Nur
trauen die Litauer solchen politischen Versprechungen nur zögernd.
Die größten Hoffnungen setzen Besserverdienende, Geschäftsleute
und die Intellektuellen auf die Einführung europäischer
Standards, die jetzt schon für die EU-Mitgliedschaft erforderlich
sind. Dazu gehören vor allem die Bereiche Rechtssicherheit und
Strafverfolgung. In diesem Zusammenhang hoffen die Bürger auch auf
das Zurückdrängen der Korruption. Zwar hat das litauische
Parlament im Zuge der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft eine
Strategie zur Bekämpfung von Korruption ins Leben gerufen und ein
entsprechendes Gesetz verabschiedet. Trotzdem konnte diese gerade im
Verwaltungsbereich bisher nicht eingedämmt werden. Nach einer
internationalen Studie in 102 Staaten belegt Litauen gemeinsam mit
Weißrussland, Südafrika und Tunesien die Plätze 36 bis 39 in
der Reihe der korruptionsanfälligsten Länder.
Es gibt viele Skandale und Skandälchen. Zu den Letzteren gehörte
eine Immobilienauktion im Sommer dieses Jahres, bei der ein
Schwiegersohn des amtierenden Premierministers Brazauskaus ein
großes Hotel auf der Kurischen Nehrung ersteigern wollte. Obwohl er
von drei Mitbietern überboten wurde, erklärte er nach Ende der
Auktion ganz unverfroren, dass ihm die Immobilie gehöre, da sie dem
zustünde, der die Summe am schnellsten bezahlen könne. Die
Veranstalter bestätigten, eine solche Regelung sei zwei Tage zuvor
eigens für diese Auktion erlassen worden. Ein glatter Verstoß
gegen das Auktionsgesetz, was aber weder den Veranstalter noch den
Begünstigten störte. Viele Litauer zucken bei solchen Nachrichten
resigniert mit den Schultern, sagen aber: “Gäbe es nicht die
Vorgaben aus Brüssel, würde die Korruption in den Himmel wachsen
und der Filz nie ein Ende finden.”
Die russisch-sowjetische Tradition, Potemkin’sche Dörfer zu
errichten, ist auch in Litauen noch nicht ausgestorben. Ein neueres
Beispiel dafür ist eine Maßnahme zur Verbesserung der
Umweltbedingungen in der litauischen Hauptstadt “im Zuge der
Angleichung an europäische Strukturen”. Per Erlass Nr. 327 vom 23.
Mai 2000 ließ der damalige Bürgermeister Rolandas Paksas einen
Fahrradweg in der Altstadt einrichten. In Wirklichkeit wurde kein
halbwegs befahrbarer Streifen gebaut, sondern auf das
Kopfsteinpflaster der Altstadtstraßen einfach nur weiße
Markierungslinien ausgemalt und ein paar Schilder im gänzlich
unbefahrbaren Straßengraben angebracht. Zum Vorzeigen reicht es.
Die Stadtführer in Wilna weisen die Touristen immer gern darauf
hin.
Published 24 October 2002
Original in German
Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine
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