Für die ehemaligen Sowjetrepubliken stellte das Jahr 1989 nicht das Ende ihrer sowjetischen Geschichte dar und wird dort auch nicht als revolutionärer Einschnitt betrachtet, obwohl in diesem Jahr die ersten halbfreien Wahlen in der Sowjetunion stattfanden und diese, wie der Historiker Serhii Plokhy später schrieb, »mit dem weiteren Bestehen des sowjetischen Staates unvereinbar waren«: Imperien vertrügen sich nicht mit auf Wahlen basierender Demokratie, und der Konflikt zwischen beiden habe schließlich zum Zusammenbruch des »letzten Imperiums« geführt.1 Es war 1989, als die sowjetische Regierung den Krimtataren – als der letzten ethnischen Gruppe, die 1944 deportiert worden war – erlaubte, auf die Krim zurückzukehren. Im selben Jahr wurde die Ukrainische griechisch-katholische Kirche legalisiert, die seit 1946 verboten war und in der Westukraine im Untergrund fortbestanden hatte. Ebenso erklärten einige Sowjetrepubliken in diesem Jahr ihre Souveränität – Estland bereits am 16. November 1988, Litauen am 18. Mai 1989, Lettland am 28. Juli 1989 und Aserbaidschan am 23. September 1989. Zugleich war es das Jahr, in dem in der georgischen Hauptstadt Tbilissi eine Protestkundgebung brutal niedergeschlagen wurde, wobei 19 Menschen ums Leben kamen.
Zeichen eines Regimeversagens gab es bereits früher, aber nur wenige waren in der Lage, sie zu deuten. 1965 schrieb der Dissident Andrei Amalrik einen Essay mit dem Titel »Wird die Sowjetunion bis 1984 überleben?«, in dem er die Krise des sowjetischen Systems voraussagte und über die gleichzeitige Auflösung des »sozialistischen Lagers« und die Wiedervereinigung Deutschlands spekulierte.2 Amalrik erlebte das Wahrwerden seiner Prophezeiung nicht, er starb 1980 bei einem Autounfall in Spanien. 1981 räumte Leonid Breschnew ein, dass sich der »Sowjetmensch« als neues soziales und nationales Wesen nach wie vor nicht herausgebildet habe. Zwei Jahre später gab Juri Andropow zu: »Bis heute haben wir die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, nicht richtig erforscht.« 1985 kündigte Michail Gorbatschow eine Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft an. Dies sollte auf der Grundlage »sozialistischer Werte« geschehen, gepaart mit einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft, einem eingeschränkten politischen Pluralismus und einer friedlichen Außenpolitik. »Perestroika« wurde zu einem international anerkannten Begriff.
Gorbatschow leitete die Perestroika in einem Land ein, das formell eine Föderation aus fünfzehn Republiken war. Diese waren nach ethnischen Kriterien definiert und hatten das Recht auf Sezession. Freilich schien angesichts der geballten Macht von KPdSU, KGB und Armee jeglicher Gedanke, geschweige denn Versuch einer Abspaltung oder eigenmächtigen Revision von Grenzen undenkbar. Dennoch wurden im Laufe der 1960er und 1970er Jahre immer wieder lokale territoriale und kulturelle Ansprüche laut. Im April 1978 fanden in Georgien große – und erfolgreiche – Demonstrationen für die Beibehaltung des Georgischen als einzige offizielle Sprache der Republik statt. Solche Tendenzen intensivierten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit dem Schwächerwerden der Zentralgewalt. Im Dezember 1986 gab es in Kasachstan Jugendproteste gegen den Versuch, einen ethnischen Russen, der keinerlei Beziehung zur Republik hatte, zum Ersten Sekretär der KP Kasachstans zu ernennen. Im August 1987 fanden in allen drei baltischen Republiken Demonstrationen zur Verurteilung des Molotow-Ribbentrop-Paktes von 1939 statt, welcher der Sowjetunion damals erlaubt hatte, die drei Länder zu annektieren. (Es sollte hinzugefügt werden, dass die westeuropäischen Staaten und die USA diese Annexion nie offiziell als solche anerkannt haben und die UdSSR selbst die Existenz geheimer Abmachungen mit Hitler bis 1989 leugnete.) Im Februar 1988 kam es im aserbaidschanischen Sumgait zu anti-armenischen Pogromen. Wie konnte all das in einem Land passieren, das voller Stolz verkündete, die nationale Frage gelöst und »Frieden zwischen den Menschen aller Nationen« gestiftet zu haben?
Das föderale System der Sowjetunion hatte eine weitere Komplikation, denn Russland war die einzige Republik, die selber eine Föderation darstellte – eine Föderation innerhalb der Föderation. Diese Konstruktion stellte sich als tickende Zeitbombe heraus. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begannen einflussreiche russische Intellektuelle, über die wirtschaftlichen Nachteile eines Systems zu sprechen, in dem »entwickelte Republiken für weniger entwickelte zahlen müssen«, und über die Gefahren, die eine Auflösung Russlands in der Sowjetunion mit sich bringen würde. Das Problem wurde zum Ernstfall, als mehrere ethnisch definierte autonome Gebiete innerhalb Russlands ihre Unabhängigkeit erklärten. Ein solcher Fall – Tschetschenien – eskalierte bereits im Herbst 1991 zu einem besonders dramatischen und gewalttätigen Konflikt.
Und die Ukraine? Ihr Oberster Rat (die Werchowna Rada) nahm die Souveränitätserklärung am 16. Juli 1990 an, nachdem die russländische am 12. Juni 1990 verabschiedet worden war. Die entscheidende Rolle der ukrainischen Parteielite bei der Auflösung der Sowjetunion wird von Serhii Plokhy in seiner Untersuchung zu den letzten Tagen der UdSSR betont: »Es war die Beharrlichkeit, mit der die ukrainischen Eliten auf der Unabhängigkeit ihres Landes bestanden, und der Widerstand und die Unfähigkeit der russländischen Eliten, den Ukrainern eine attraktive integrative Alternative (…) anzubieten, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten.«3 Einer der Anführer des sogenannten »nationaldemokratischen Lagers«, das damals die Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützte, bestätigte kürzlich, dass in den frühen 1990er Jahren Unabhängigkeit als solche nicht das Ziel der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung war und dass die Entstehung des ukrainischen Staates nur dank eines »Kompromisses zwischen den Nationaldemokraten und einem großen Teil der Nomenklatura der Kommunistischen Partei«4 möglich war.
Dieser Kompromiss verhinderte einen echten Elitenwechsel. Somit ist der neue Staat nicht aus einer Revolution hervorgegangen – ob samten oder nicht –, sondern wurde auf dem Fundament der alten sowjetischen Institutionen errichtet. Einerseits garantierte das die Kontinuität der wichtigsten Machtinstitutionen in einem neuen sozio-ökonomischen Kontext; andererseits führte es unweigerlich zur Reinkarnation der Nomenklatura als Herrscherin eines neugeschaffenen Staatskapitalismus, die dann zu einer allmächtigen Oligarchie werden sollte. Die Schwächen der ukrainischen spät- und postsowjetischen Eliten offenbarten sich recht früh. Sie konzentrierten sich darauf, ihre politische Macht in Geld zu verwandeln und Eigentum und Ressourcen zu ihren Gunsten umzuverteilen.
Dieses wirtschaftspolitische Modell erwies sich vor dem Hintergrund des weitverbreiteten (und bewusst genährten) Glaubens, dass die politische Unabhängigkeit der Ukraine alle wirtschaftlichen Probleme der späten Sowjetunion lösen würde, als besonders problematisch. Heute wird gerne vergessen, dass die Bergarbeiter aus dem Donbas (eine Industrieregion in der Ostukraine) in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zu den aktivsten Gegnern der Zentralwirtschaft zählten. Die Legende vom unverzüglich eintretenden Wohlstand, die von den Nationaldemokraten verbreitet wurde, stellte sich als fatal für die Entwicklung der jungen postsowjetischen Ukraine heraus. Als die versprochenen Segnungen ausblieben, waren Unabhängigkeit und Demokratie für einen großen Teil der Bevölkerung schnell diskreditiert und wurden zum Sündenbock für die Mühen und Fehlschläge der Transformation.5 Anstatt das Niveau Westdeutschlands zu erreichen, wie es die Befürworter der Unabhängigkeit versprochen hatten, durchlebte die postsowjetische Ukraine eine Phase der Entmodernisierung in Bezug auf Wirtschaft und Infrastruktur, eine demographische Rückwärtsentwicklung und ein Absinken des Nationaleinkommens.
Während der Zustand der ukrainischen Wirtschaft 1989 noch vergleichbar mit der Polens oder Bulgariens war, wuchs die Diskrepanz in der Folgezeit stetig. Die Privatisierungspolitik in der Ukraine schloss – im Gegensatz zur polnischen oder tschechischen, also in Ländern mit einer realistischen EU-Beitrittsperspektive – westliche Investoren aus und legitimierte die Übernahme der attraktivsten Wirtschaftszweige durch einheimische (und russländische) Oligarchen. Die Abwesenheit einer klaren Integrationsperspektive in das europäische Wirtschaftssystem hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der postsowjetischen ukrainischen Wirtschaft.
War der Traum von einem »wiedervereinten« Europa ein Wahn? In seinem Buch Perestroika sprach Michail Gorbatschow nicht nur von einer »Vermenschlichung« der internationalen Beziehungen, von der nuklearen Abrüstung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und von Garantien für eine »vollständige Unabhängigkeit« der sozialistischen Länder; er entwickelte auch die Idee eines »gemeinsamen europäischen Hauses«, das sich vom »Atlantik bis zum Ural« erstrecken würde.6 Gorbatschows Vision von Europa bezog den Osten des Kontinents mit ein. Das war in den intellektuellen und politischen Narrativen der ehemaligen sozialistischen Länder nicht immer der Fall. Hier stieß man eher auf Variationen des von Milan Kundera vertretenen Ansatzes, der »Mitteleuropa« zur Metapher für den Protest gegen die sowjetische Dominanz über Osteuropa gemacht hat.7 Für eine Reihe führender Intellektueller aus Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei war »Mitteleuropa« ein Synonym für den Teil des »Westens«, der vom »Osten« (in Kunderas Essay mit Russland gleichgesetzt) gestohlen wurde.8
Am 1. Mai 2004 traten die führenden Länder des ehemaligen »Ostblocks« – Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien und die drei baltischen Staaten – der Europäischen Union bei; sie waren schon zuvor NATO-Mitglieder geworden. Mit dieser Verschiebung der Grenzen der Europäischen Union nach Osten, »befindet sich« – wie Timothy Snyder beobachtete – »nunmehr kein Quadratzentimeter des europäischen Territoriums, welches zur Sowjetunion der Zwischenkriegszeit gehörte, innerhalb der Europäischen Union«. Seine Schlussfolgerung ist nicht weniger treffend: »Die Grauzone (…) der neuen Nationalstaaten von 1918 markierte, fast genau, die Grenzen des neuen externen Sowjetimperiums von 1945 und wurde anschließend, fast genau, zum Gebiet, auf welches die EU sich in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ausdehnte.«9
Die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten – was manchmal etwas zu optimistisch als »Wiedervereinigung Europas« bezeichnet wird – schloss Belarus, die Republik Moldau und die Ukraine aus. Die Idee einer EU-Erweiterung zu gleichen Bedingungen wurde, wie Tony Judt bereits 1996 bemerkte, in einer Situation propagiert, in der die EU nicht einmal ihren damaligen Mitgliedern eine Zukunft versprechen konnte, die genauso sicher und blühend sein würde, wie ihre Vergangenheit.10 Das trug erheblich zur öffentlichen Stimmung zehn Jahre später bei, als die EU vor einer tiefen strukturellen Krise stand.
War die friedliche – und gescheiterte – Orange Revolution von 2004, die kurz nach der Osterweiterung der EU stattfand, ein verspätetes Aufholen der Revolutionen von 1989? Selbst wenn, so fand sie in einem ganz anderen geopolitischen Kontext statt. In den frühen 1980er Jahren wurde die polnische Solidarność-Bewegung in Westdeutschland von vielen als Bedrohung für Willy Brandts »Ostpolitik« und als Beispiel für »typisch polnische Realitätsferne« betrachtet.11 Nach 1989 wurde Polens Integration in die EU und NATO jedoch nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Mit der Ukraine verhielt es sich gänzlich anders: Selbst nach der Orangen Revolution war die EU unwillig, der Ukraine die Perspektive einer EU-Integration zu bieten, selbst einer symbolischen. Diese Haltung hatte einen großen Einfluss auf die Bereitschaft der ukrainischen Eliten, grundlegende Reformen einzuleiten, und auf ihre Fähigkeit, sich die geopolitische Zukunft ihres Landes vorzustellen. 2010 wurde Viktor Janukowytsch – dessen auf Wahlfälschung beruhender Sieg in den vorangegangenen Präsidentschaftswahlen die Orange Revolution provoziert hatte – zum Präsidenten gewählt, diesmal demokratisch.
Die nächste ukrainische Revolution begann im November 2013 als Reaktion auf die Entscheidung Janukowytschs, das Assoziationsabkommen mit der EU nicht zu unterschreiben – ein wirtschaftspolitisches Dokument, das jegliche Perspektive auf eine EU-Integration sorgsam vermied. Der Maidan entzündete sich am Assoziationsabkommen, erweiterte seine Forderungen aber rasch weit darüber hinaus. Der Philosoph Taras Liuty schrieb auf Facebook: »Wir suchten Europa, aber fanden die Ukraine.« Der Maidan wurde – teilweise gegen den Willen der Politiker, die versuchten, sich an seine Spitze zu setzen – zu dem Versuch, eine neue Ukraine zu imaginieren. In diesen Vorstellungen spielte der positive Mythos von Europa als einem Ort der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit, der Freizügigkeit und des Wohlstandes eine große Rolle.
Es war eine tragische Ironie der Geschichte, dass sich der Maidan an eine Europäische Union wandte, die es so nicht mehr gab. Es gab dort keine Instanz mehr, die die Ukraine tatkräftig unterstützen und ernsthaft einen Beitritt in Betracht ziehen würde. Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität spiegelte sich in der Tatsache wider, dass die Menschen auf dem Maidan unter EU-Flaggen als Symbol der Freiheit starben, während für einen immer größer werdenden Teil der EU-Bürger dieselbe Fahne eher zu einem Symbol ineffizienter Bürokratie wurde.
Wie könnte man den Maidan definieren? Wie kann man seinen – zumindest teilweisen – Erfolg verstehen, die Ineffizienz des Staates durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft zu kompensieren? Wie geht man mit dem Phänomen der Selbstorganisation der Teilnehmer um? Ilya Gerasimov schlug vor, den Maidan als postkoloniale Revolution zu beschreiben, die darauf ausgerichtet war, neue gemeinsame Werte zu formulieren und zu fördern – »ein durch und durch kreativer Akt positiver Selbstbestimmung, der die Bedeutung externer politischer Einflüsse (ob einschüchternd oder ermutigend) weitgehend relativierte«.12 Ebenso wichtig ist, dass der Maidan eine inklusive Interpretation der ukrainischen Identität und politischen Loyalität propagierte, die nicht auf Ethnizität oder Sprache beschränkt ist. Und nicht zuletzt bot und bietet der Maidan den Bürgern der Europäischen Union eine doppelte Chance: sich auf eben jene, fast vergessenen Werte, auf denen die Union aufgebaut ist, zurückzubesinnen und ihnen neue Kraft zu verleihen; und von dem zivilgesellschaftlichen Engagement zu lernen, das dort einspringt, wo der Staat versagt. Im Hinblick auf die Flüchtlingskrise ist die Solidarität, die den 1,7 Millionen kriegsbedingten Binnenflüchtlingen in der Ukraine noch lange nach dem Maidan entgegengebracht wird, besonders beeindruckend.
Von 1991 bis 2013 war die ukrainische politische Entwicklung eher friedlich, niemand wurde bei Massenprotesten getötet. Auf dem letzten Maidan jedoch eskalierte die Konfrontation zwischen Demonstranten und Regierung und wurde gewalttätig. Wohl niemand auf dem Maidan hatte die Möglichkeit einer direkten Einmischung Russlands auf der Krim und deren schließlichen Annexion vorhergesehen. Ebenso wenig war man sich der Gefahr einer Destabilisierung des Donbas bewusst, der bereits im Frühling 2014 von einem offenen militärischen Konflikt erfasst wurde. Der Krieg im Donbas resultierte aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: der »neutralen Position« der lokalen Eliten, die in enger Beziehung zum Janukowytsch-Regime standen, den Fehlern und Fehleinschätzungen der neuen ukrainischen Regierung sowie der russländischen Intervention.13
Was bedeutet die Krise der Europäischen Union für die Ukraine? Beide Maidane – 2004 und 2013/14 – beriefen sich auf Europa als Symbol und Hüter liberaler Werte, doch beide Male gelang es nicht, der Ukraine eine klare Perspektive auf EU-Integration zu eröffnen, wie sie den ostmitteleuropäischen Ländern angeboten wurde – damals ein kaum zu überschätzender Faktor für die Modernisierung ihrer Gesellschaften. (Dasselbe galt schon für die alten Mitglieder der EU und deren Vorgängerorganisationen: Ihr Zusammenschluss war entscheidend für die Nations- und Staatsbildung in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg.)
Es scheint also, dass die Ukraine als Nachzüglerin voll von der Krise der EU und der daraus resultierenden Handlungsunfähigkeit getroffen wird. Bedeutet das, dass sie ein Zwischenstaat, eine »Grauzone« oder eine »Brücke« zwischen der EU und Russland bleiben wird? Muss sich die ukrainische Nation ohne die Idee einer »Rückkehr nach Europa« neu erfinden? Wird die geopolitische Situation der Ukraine, verschärft durch wirtschaftliche Probleme und einen Krieg im eigenen Land, zu Radikalisierung und zum Aufstieg des Populismus führen?
Und umgekehrt: Was würde Europa mit der Ukraine verlieren? Territorial größer als jeder EU-Mitgliedsstaat stellt die Ukraine eine komplexe Gesellschaft dar, die sich der Außenwelt bisher anscheinend noch nicht erklären konnte. Es ist bezeichnend, dass die Rede über die Ukraine überall durchsetzt ist mit Stereotypen: das Land leide unter einem »Zusammenprall von Kulturen«, die Gesellschaft sei von »tiefen Gräben« durchzogen, der Konflikt im Donbas sei ein »Bürgerkrieg«. Kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt und Heterogenität können aber auch als Vorteil gesehen werden, nicht nur als Handicap. Die Ukraine gleicht einem großen Laboratorium. Eine pluralistische und hybride postsowjetische Gesellschaft, die nicht auf das schweizerische oder belgische Modell reduziert werden kann; die Idee der Ukraine als politischer Nation; eine flexible Zweisprachigkeit – all das sind Phänomene, die in der Ukraine zu beobachten sind und die es zu analysieren gilt. Das Land bietet mannigfache Anregungen, mit der vielbeschworenen – und neuerdings auf wachsendes Misstrauen stoßenden – Vielfalt Europas konstruktiv umzugehen. Stattdessen ist die Ukraine nach wie vor eher eine Projektionsfläche für jedermanns eigene ideologische Präferenzen. Man fragt sich, ob das offensichtliche Fehlen von Empathie für die Ukraine im Westen schierem Desinteresse für ihre Eigenheiten entspringt.
Man kann die Ukraine als zu groß beschreiben, zu komplex, zu nah an Russland, geographisch und historisch. Bis heute wird oft ihr Existenzrecht bestritten. Dennoch hat die Ukraine überlebt – trotz des »russischen Frühlings«, trotz gravierender wirtschaftlicher Probleme, trotz Energieabhängigkeit und eines schwachen Staats. Das Wunder, dass die Ukraine 2014 überlebte, wartet noch auf seine Untersuchung. Wichtig hierfür wird die Analyse der (oft informellen) Strukturen und Institutionen sein, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet haben und die stärker als die Maidan-Revolutionen zu sein scheinen. Diese Analyse erfordert eine tiefgehende, interdisziplinäre Forschung und wird die Diskussion hoffentlich aus der sinnlosen Alternative zwischen Untergangsszenarien und Selbstlob herausführen.
Serhii Plokhy, The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union, New York 2014, S. 394.
Andrei Amalrik, Will the Soviet Union Survive Until 1984?, Amsterdam 1969.
Plokhy, The Last Empire, a.a.O., S. 401.
Taras Stetskiy, »My zaprosyly Kuchmu do sebe – typu posydity, vypyty, pohomonity« (Wir haben Kutschma eingeladen, um mit uns zu sitzen, zu trinken und zu plaudern). http://hvylya.net/interview/politics2/taras-stetskiv-mi-zaprosili-kuchmu-do-sebe-tipu-posiditi-vipiti-pogomoniti.html
Vgl. Andrei Riabov, »Nasledie perestroiki: vzgliad cherez chetvert` veka« (Das Erbe der Perestroika. Ein Rückblick nach einem Vierteljahrhundert), in: Neprikosnovenyj zapas, no. 6 (2015); Boris Mezhuev, »Perestroika-2«. Opyt povtoreniia (Perestroika-2. Die Erfahrung einer Wiederholung), Moskau 2014; siehe auch sein Essay »Perestroika 2.0. Dilemmas der politischen Transformation in Russland«, in: Transit 43 (2012/13).
Michail Gorbatschow, Perestroika i novoe myshlenie dlia nashej strany i dlia vsego mira, Moskau 1987 (deutsch: Perestroika: Die zweite russische Revolution – Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987), S. 132, 170, 203-204, 233, 243.
Milan Kundera, »The Tragedy of Eastern Europe«, in: New York Review of Books, 1984, vol. 31, nr. 7 (deutsch: »Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas«, in: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie, Nr. 7 (1984), S. 43-52).
Vgl. Tony Judt, »The Rediscovery of Central Europe«, in: Daedalus, vol. 119, nr. 1 (Eastern Europe… Central Europe… Europe, Winter 1990).
Timothy Snyder, »Integration and Disintegration. Europe, Ukraine, and the World«, in: Slavic Review, vol. 74, nr. 4 (Winter 2015), S. 701.
Tony Judt, »Europe. The Grand Illusion«, in: Tony Judt, When the Facts Change. Essays 1995-2010, New York 2015, S. 41.
Vgl. Timothy Garton Ash, »The German Question«, in: Timothy Garton Ash, The Uses of Adversity. Essays on the Fate of Central Europe, London 1999, S. 88.
Ilya Gerasimov, »Ukraine 2014. The First Postcolonial Revolution«, in: Ab Imperio, vol. 15, nr. 3 (2014); Ilya Gerasimov, Ukraine’s Postcolonial Revolution and Counterrevolution, (Manuskript, zitiert mit Zustimmung des Autors).
Für mehr Details siehe Andrii Portnov, »How ›Eastern Ukraine‹ was lost«, https://opendemocracy.net/od-russia/andrii-portnov/how-eastern-ukraine-was-lost.
Published 23 January 2018
Original in English
Translated by
Fyodor Shulgin
First published by Transit 50 (2017) (German version); Eurozine (English version)
Contributed by Transit © Andrii Portnov / Transit / Eurozine
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