Wer im Glashaus sitzt
Die Ausläufer der arabischen Rebellionen im Golf
In weiten Teilen des Nahen Ostens ist der Arabische Frühling ermattet. Entweder hat er, wie in Ägypten, durch das Wiederaufleben des Ancien Regimes einen Dämpfer erfahren oder er wurde, wie in Syrien und Libyen, vom religiösen Fundamentalismus vereinnahmt und ging in der anhaltenden Gewalt unter. Sehr lebendig ist er jedoch nach wie vor in dem Zorn, den die Königreiche der arabischen Halbinsel, selbst fast unberührt geblieben, weiterhin auf alles niederregnen lassen, das nach Protest aussieht, auf den Wunsch nach politischer Organisation schließen lässt oder die Menschen einfach nur an die Hochphase der Rebellion erinnert, in der alles möglich erschien.
Am 21. März, während des Höhepunkts der jährlichen Kunstevents in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), der Dubai Art Fair, schloss die Kultur- und Kunstbehörde der Emirate eine Fotoausstellung, in der auch der Arabischen Frühling thematisiert wurde und die in einer der angesagten Galerien in Dubais Finanzzentrum DIFC zu sehen war. Die Ausstellung, die in Deutschland bereits auf Tour war und auf die wir später ausführlicher eingehen werden, galt als “Gefahr für die nationale Sicherheit”. Dies ist nur ein Beispiel, wenn auch eins der ungeheuerlichsten, das zeigt, dass über drei Jahre, nachdem die Region durch die Rebellion aus ihrem politischen Tiefschlaf geholt wurde, die Nerven immer noch blank liegen.
Die arabischen Golfstaaten hatten nie die tolerantesten und offensten Gesellschaften, doch in den letzten drei Jahren wurde bereits der leiseste Anflug von Kritik und die bescheidenste Forderung nach Wandel im Keim erstickt. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Index on Censorship können in den VAE, Saudi-Arabien und sogar dem angeblich progressiveren Katar über mehrere solcher Vorkommnisse berichten. Der arabische Frühling hat die Diskrepanz zwischen der von der Golfstaatenführung zielstrebig weiterverfolgten absolutistischen Herrschaft und dem Image, das diese Monarchien dem Westen von sich selbst vermitteln möchten, gern auch im Zusammenhang mit Kunst- und Kulturprojekten, nur in den Vordergrund gerückt.
Der Westen kämpft immer noch mit den scheinbar nicht enden wollenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Sparmaßnahmen sind mittlerweile ein fester Bestandteil der ökonomischen Landschaft, was nicht nur zu dramatischen Budgetkürzungen in der künstlerischen und kulturellen Infrastruktur geführt und jahrzehntelange kreative, intellektuelle und finanzielle Investitionen zunichte gemacht hat, sondern häufig auch in feindseligen Reaktionen auf alles mündet, was mit kulturellen und intellektuellen Fragestellungen zu tun hat. Unterdessen werfen die Golfstaaten im Kunst- und Kulturbereich mit verschwenderischen Geldsummen um sich.
Das winzige und an Öl reiche Katar hat eines der höchsten Pro-Kopf-BIPs und gehört zugleich zu den weltweit größten Einkäufern zeitgenössischer Kunst, wobei derzeit Sheikha Mayassa dank ihres Einkaufsbudgets von einer Milliarde Dollar die “Power 100”-Liste der ArtReview anführt. Die Prestigeprojekte von Saadiyat Island in Abu Dhabi, zu denen ein Guggenheim und ein Louvre zählen, natürlich von den Stararchitekten Frank Gehry and Jean Nouvel entworfen, riefen in Bezug auf potenzielle Besucherzahlen und Nachhaltigkeit viel Skepsis hervor und bekamen noch dazu wegen der miserablen Bedingungen der ArbeitsmigrantInnen in letzter Zeit ziemlich schlechte Presse. Interessengruppen wie Gulf Labor, ein Zusammenschluss internationaler KünstlerInnen und KunstarbeiterInnen, und G.U.L.F. (Global Ultra Luxury Faction) haben begonnen, Politik und Moral der westlichen Institutionen, die mit autokratischen Systemen gemeinsame Sache machen, durch Petitionen, Berichte, Boykotte und spielerische Aktionen zu hinterfragen.
Es ist einfach, die Entwicklungen in den Golfstaaten als, hochgetunte Stadtentwicklungsprojekte abzutun, die zeitgenössische Kunst nur als glamouröse Fassade für ihre ansonsten absolutistischen Monarchien und konservativen Gesellschaften missbrauchen. Es ist ebenso verlockend, den Boom in der zeitgenössischen Kunst zu glorifizieren und zu zelebrieren und darüber die Augen vor der zutiefst repressiven Politik der Golfstaaten zu verschließen, wie es viele chronisch klamme westliche MuseumsdirektorInnen und KuratorInnen tun, in der Hoffnung, am anderen Ende des Regenbogens einen Topf voller Gold zu finden. Beide Positionen sind in gleichem Maße pragmatisch, zeigen aber nicht unbedingt die vielen Widersprüche und komplexen Sachverhalte auf, die dem Problem zugrunde liegen.
In einer globalisierten zeitgenössischen Kunstwelt, die sich gern mit ihrer progressiven Politik, ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement und ihrer steten kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Institutionen brüstet, bedarf es einer scharfsichtigeren kritischen Einstellung. Das rigorose Vorgehen gegen Meinungsfreiheit und bürgerliche Grundrechte, das seit der 2011 begonnenen Rebellion in der arabischen Welt in den Staaten des Golf-Kooperationsrats zu beklagen ist, kann viel zur Klärung des Stellenwertes der Kunst an diesen Orten beitragen.
Welche Nervosität allgemein im Golf aus Angst vor einer – eher unwahrscheinlichen – Ausweitung der Rebellion herrscht, zeigte sich schon während der Eröffnung der 10. Sharjah Biennale 2011; jene unglückselige Biennale, die wegen der brüsken Entlassung ihres damaligen Leiters Jack Persekian im Gedächtnis bleiben sollte. Der Grund dafür war die Installation des algerischen Künstlers Mustapha Benfodil, Maportaliche / Ecritures sauvages (2011), die einen öffentlichen Aufschrei verursacht hatte.
Ein weniger bekannter Vorfall bei dieser Sharjah Biennale trug sich zu, als der Machthaber der Emirate die Ausstellung besuchte. Eine kleine Gruppe internationaler KünstlerInnen und KuratorInnen protestierte stumm gegen die Verlegung von Truppen der VAE und Saudi-Arabiens nach Bahrain zur Unterdrückung der dortigen Unruhen. Dabei hielten sie Schilder mit den Namen von Menschen aus Bahrain hoch, die während der Proteste umgekommen waren, und wurden prompt dafür verhaftet und stundenlang verhört. Sicher, dies war nur ein kleiner Vorfall, doch ein sehr bezeichnender, denn er zeigte, dass selbst das leiseste Anzeichen von Kritik oder Solidarität bei einer Kunstveranstaltung als direkte Bedrohung angesehen wird. Schließlich wird damit das sorgfältig konstruierte Narrativ von Offenheit und Toleranz gestört.
Die Herrschenden in den Emiraten und in Katar sowie andere staatliche RepräsentantInnen machten keinen Hehl aus den politischen Zielen ihrer enormen Investitionen in die Kunst. Sheikha Mayassa aus Katar erklärte, sie erhoffe sich, mit Hilfe der Kunst die westlichen Vorurteile gegen die muslimische Welt aufbrechen zu können: “Wir wollen mit unserer Kunst unter Beweis stellen, dass der Islam eine friedvolle Religion ist und die Grundlage der intellektuell und kulturell am höchsten entwickelten Gesellschaften der Geschichte.” In den VAE wurden von offizieller Seite ähnliche Ansichten geäußert. Man will dem Rest der Welt zeigen, dass die arabische Welt kein unzivilisiertes Ödland ist.
Hinter derartig nichtssagenden Beteuerungen von National- und Regionalstolz steckt eine sehr ernste politische Absicht. Die Golfstaaten möchten sich selbst zu salonfähigen Verbündeten des Westens und Partnern in einer großen Bandbreite an internationalen Geschäftsmodellen machen, sei es als Drehkreuz für den Handel, wie im Fall von Dubai, oder als führende internationale Investoren, wie bei Katar und Abu Dhabi. Könnte es einen besseren Weg geben, dem westlichen Unbehagen darüber, dass man mit oft widerwärtigen Regimes verbündet ist und diese manchmal sogar in Schutz nehmen muss, zu begegnen, als eben jene Intellektuellen und Kulturschaffenden mit einzubinden, die andernfalls am lautesten protestieren würden und deren Einfluss im Westen einen Multiplikatoreffekt hat?
In dieser Hinsicht war der Arabische Frühling für die Golfregimes ein zweifelhafter Segen. Einerseits konnten sie fortbestehen und durch ihre Stabilität ihren Wert für die westlichen Verbündeten unter Beweis stellen, wurden diese doch von den Aufständen völlig unvorbereitet getroffen und mussten daher gerade die Golfstaaten im Umgang mit der Region öfter um Rat und sogar um Führung bitten. Aus diesem Grund hatten Katar und Saudi-Arabien auch freie Hand in Syrien, wo sie unterschiedliche islamistische Gruppierungen unterstützt haben.
Andererseits fühlten sich die Golfstaaten von den Aufständen bedroht. Sie alle sind ultrakonservative, tief religiöse, autoritäre Stammesgesellschaften und Klientel-Monarchien. Und sie alle fürchten die Auswirkungen, die der Arabische Frühling auf ihre innenpolitische Situation haben könnte, selbst Katar, das die Aufstände in anderen Teilen der arabischen Welt unterstützt hat. Als die schiitische Mehrheit in Bahrain angeregt vom Arabischen Frühling 2011 rebellierte und mehr Freiheiten sowie die Beteiligung an der Führung des Landes forderte, zögerten Saudi-Arabien, die VAE und Katar nicht, ihre Panzer zu schicken, um den Herrschenden zu helfen, diese gefährlichen und noch dazu geografisch so nahe am eigenen Land stattfindenden Proteste zu zerschlagen.
Katars Unterstützung für die arabische Rebellion, die seinen eigenen Hinterhof gar nicht erreichte, konzentrierte sich auf die Muslimbruderschaft, eine Bewegung, die in den 1920er-Jahren in Ägypten ihren Ursprung hatte, sich aber seitdem auf die meisten Länder der Region ausgeweitet hat und eine vorwiegend anti-westliche Haltung einnimmt. Hauptmerkmale der Muslimbrüder sind sowohl ihre gute Organisation und ihr wohltätiges Engagement als auch ihr Anspruch auf Legitimierung durch den Islam. Aus diesem Grund werden sie von den Machthabern der VAE und Saudi-Arabiens als erhebliche Bedrohung angesehen. Letztere haben sie gar zu einer terroristischen Organisation erklärt. In keinem dieser Länder ist irgendeine Form der politischen Organisation erlaubt, auch in Katar nicht.
2012, nach den ersten demokratischen Wahlen in Ägypten, war die Muslimbruderschaft für kurze Zeit an der Macht. Während sie von Katar unterstützt wurde, lehnten Saudi-Arabien und die VAE, die das vorherige Regime unter Hosni Mubarak unterstützt hatten, sie vehement ab. Katar unterstützte die Muslimbrüder sowohl finanziell als auch durch seinen arabischen Satellitenfernsehkanal al-Dschazira, der im Westen oft als progressiv gilt, in Wirklichkeit aber regelmäßig als außenpolitisches Instrument des katarischen Staates fungiert. Nachdem die Armee die Muslimbruderschaft 2013 abgesetzt hatte, gingen die ägyptischen Behörden sowohl gegen die Bruderschaft als auch gegen al-Dschazira vor und verhafteten mehrere seiner JournalistInnen. Die VAE und Saudi-Arabien griffen auch in ihren Ländern hart gegen die Bruderschaft und ägyptische ArbeitsmigrantInnen durch, die sie als deren potenzielle UnterstützerInnen ansahen. Womöglich hat die fortdauernde Sensibilität in Bezug auf den Arabischen Frühling mit der Anwesenheit der vielen ArbeiterInnen aus anderen arabischen Ländern zu tun, die wahrscheinlich empfänglicher sind für den Geist der Rebellion als die EinwohnerInnen der Golfstaaten selbst.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten wird alles, was mit dem Arabischen Frühling zu tun hat, weiterhin zensiert, besonders im Rahmen von Kulturveranstaltungen unter der Ägide der Regierung wie der Dubai Art Fair. Interessanterweise werden Bilder, die weithin zugänglich sind und bereits online, über Lokalzeitungen und viele Satellitenfernsehkanäle verbreitet wurden, visuell unerwünscht, sobald sie ihren Nachrichtenwert verlieren und von der Kunst zweckentfremdet werden. 2012 wurde eine Reihe von Gemälden mit Szenen aus den Nachwehen der ägyptischen Rebellion von der Dubai Art Fair entfernt. Eines davon war ein fotorealistisches Gemälde des berühmten “Mädchens im blauen BH”, der mit einer Abaya bekleideten Demonstrantin, auf die ägyptische Soldaten am Tahrir-Platz in Kairo im Dezember 2011 gnadenlos eingeschlagen hatten. Ein anderes Bild zeigte eine Frau, die Männerunterwäsche mit der arabischen Aufschrift irhal (“geht weg”) hochhielt – eine während der Proteste häufig skandierte Parole. Konzeptionell oder ästhetisch gesehen waren beide Arbeiten nicht besonders spannend, aber die Bilder, auf denen sie beruhen, haben mittlerweile ikonischen Charakter. Doch diese Art von Ikonografie, so scheint es, möchten die Behörden der Emirate offenbar lieber ersticken als erlauben.
Die kommerziellen Galerien haben in den VAE bei den Ausstellungen, die sie zeigen und den Grenzen, die sie in Bezug auf “kulturelle Befindlichkeiten” (sprich: Religion, Politik und Sexualität) ausloten können, oft etwas mehr Spielraum. Was auch daran liegen mag, dass sie erheblich dazu beitragen, Dubai zu einem bedeutenden kommerziellen (Kunst-)Zentrum zu machen.
Erschreckender war die kürzliche Zwangsschließung der mit dem Arabischen Frühling assoziierten Eröffnungsausstellung von East Wing, einer auf Fotografie spezialisierten Galerie in Dubai. Die Ausstellung, die wir bereits zu Beginn des Artikels erwähnt haben, Cairo: Open City – New Testimonies from an Ongoing Revolution, kuratiert von Florian Ebner und Constanze Wicke aus Deutschland, wurde zwei Tage nach ihrer Eröffnung am 19. März 2014 von den Behörden geschlossen. Die nicht kommerzielle Ausstellung war davor in Braunschweig, Essen und Hamburg zu sehen und zeigte KünstlerInnen, AktivistInnen, Foto- und BürgerjournalistInnen vorwiegend aus Ägypten, die sich mit der Frage beschäftigen, wie die visuellen Medien durch die digitale Technologie verändert wurden.
Die Ausstellung präsentierte viele der vertrauten Bilder von Hoffnung und Verzweiflung, die dem ägyptischen Aufstand vom 25. Januar gefolgt waren, einer Revolution, die nun, da Ägypten sich erneut im eisernen Griff einer brutalen Militärherrschaft befindet, sehr weit entfernt scheint. Dabei ging es in der Ausstellung gar nicht so sehr um den Arabischen Frühling, sondern vielmehr um den elementaren Wandel in der Fotografie und die Macht des Bildes in einer Region, in der, laut der Wissenschaftlerin Lina Khatib, die Politik des Nahen Ostens nun gesehen wird. Das Bild, so Khatib, hat in den Prozessen, durch die politische Entwicklungen in der Region kommuniziert und erlebt werden, einen zentralen Platz eingenommen.
Die Schließung dieser umfassenden, musealen, internationalen Ausstellung wurde von der lokalen Presse der VAE, vielleicht auch aus Bequemlichkeit, vollkommen ignoriert. Nur die in Dubai lebende Bloggerin Hind Mezaina postete zwei Monate nach der Schließung etwas darüber in ihrem Blog The Culturist und meinte, sie könne sich nicht daran erinnern, dass in Dubai je zuvor eine komplette Ausstellung geschlossen worden sei. In einer Welt schnelllebiger Medienzyklen erschienen diese Bilder des Arabischen Frühlings bereits veraltet und wie aus einer anderen Ära. Sie mögen sich längst einen Platz in der Geschichte erkämpft haben, doch in den Augen der Behörden sind sie immer noch potentiell gefährlich.
Die Tatsache, dass East Wing eine in Dubai ansässige Initiative aus Katar ist, macht die Sache nicht einfacher. Wie bereits erwähnt wurden die Politik Katars in Bezug auf den Arabischen Frühling sowie sein Einsatz von al-Dschazira von den Nachbarstaaten im Golf nicht gutgeheißen. Die Schließung der East-Wing-Ausstellung erfolgte unmittelbar, nachdem diese Unstimmigkeit sich zu einer handfesten diplomatischen Krise mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten entwickelt hatte, wobei letztere von Katar die Beendigung jeglicher “Agitation” gegen seine Verbündeten im Golf forderten.
Der Widerwille der Bevölkerung und der Zensurbehörden im Golf gegen jegliche Art von Kritik deutet auf ein weiteres, tiefer liegendes Problem hin. Die einheimische, lokale Produktion von Kunst und Kultur steckt in den Ländern des Golf-Kooperationsrats mit wenigen Ausnahmen immer noch in den Kinderschuhen. Sultan Sooud Al-Qassemi, Berichterstatter, Kunstsammler und Mitglied der königlichen Familie von Sharjah, mag Dubai, Sharjah und Doha für die neuen Zentren der arabischen Welt halten, in Wirklichkeit jedoch finden die intellektuellen, künstlerischen und diskursiven Schaffensprozesse der arabischen Welt nach wie vor im Libanon, in Ägypten und Palästina statt. Andere traditionelle Zentren wie Bagdad und Damaskus sind zu sehr in Gewalt verstrickt.
Die Sharjah Art Foundation ist eine der wenigen Institutionen, die künstlerisches Schaffen in der Region gezielt fördert, doch könnte man noch sehr viel mehr tun. So gilt es beispielsweise, im konservativen Kontext der Golfstaaten eine lokale Kunst- und Kulturszene zu kultivieren, die nicht nur kommerziell ausgerichtet ist. Auch die Bereiche Bildung und Publikumsentwicklung müssen ausgebaut werden. Derzeit liegt die Hauptstrategie im Golf auf dem Import: von intellektueller und kreativer bis zu körperlicher Arbeit. Allerdings sollte der Import von Diskursen und Praktiken aus der internationalen Kunstwelt auch eine Anerkennung der Tatsache nach sich ziehen, dass die Kunst es nicht immer allen recht machen kann, auch mal etwas forscher daherkommt und ihre Grenzen auszutesten versucht.
In den meisten Fällen fehlt es an der nötigen Beherztheit, der Kunst zu erlauben, was sie am besten kann – in einer Vielzahl von unterschiedlichen Registern Bedeutung zu schaffen. Unlängst kam es zu einer leichten Kontroverse zwischen den Regierungen von Griechenland und Katar, als es darum ging, in Doha bei einer Ausstellung zu den Olympischen Spielen antike Statuen zu zeigen. Als die Kataris die nackten griechischen Skulpturen bedeckten, ging das selbst dem krisengeschüttelten Griechenland zu weit. Die Statuen wurden zurück nach Athen geschickt. Letzten Oktober wurde eine von dem französischen Künstler Adel Abdessemed geschaffene öffentliche Skulptur des französisch-algerischen Fußballers Zinedine Zidane eilig von der Küstenstraße in Doha entfernt, weil auf Twitter konservative Stimmen laut geworden waren, die sie als anti-islamische Abgötterei verurteilten.
Im Golf herrscht die Auffassung, dass all diese fremde Kunst und Kultur dazu beiträgt, die Bevölkerung weiterzubilden, was manchmal mit geradezu viktorianischer Strenge als eine “Erhebung” des Volkes formuliert wird, eine Überführung der Menschen in die Modernität, indem man sie allem aussetzt, was die Welt zu bieten hat.
Noch bleibt abzuwarten, ob die kleinen und konservativen Bevölkerungen von Staaten wie Katar und den VAE Tempel der Hochkultur, wie den Louvre und das Guggenheim, auch ausgiebig und regelmäßig besuchen und sich dort die Vorträge der dazugehörigen StarkuratorInnen anhören werden. Fragt sich allerdings, wie viel man von diesen erwartungsgemäß relativ sicheren und durch die Zensur bereinigten Programmen lernen kann. Die gleiche Frage stellt sich im Übrigen hinsichtlich der akademischen Freiheit, wenn man die vielen namhaften und in der Elfenbeinturm-Liga spielenden Universitäten betrachtet, die sich in der Region niedergelassen haben: NYU, Sorbonne, Cornell, Carnegie Mellon und Virginia Commonwealth, um nur einige zu nennen.
Derartig große Namen aus Kunst und Lehre mögen einer extrem wohlhabenden Bevölkerung zusagen, die es gewohnt ist, nur das Beste zu kaufen, sei es Gucci oder Guggenheim. Sie werden aber letztendlich wenig dazu beitragen, in diesen Ländern eine solide kulturelle und intellektuelle Szene von unten zu etablieren. Die Diskrepanz zwischen diesem Wunsch und den konservativen, religiösen, von Stammesbelangen und paternalistischen Ansichten geprägten Golfstaatengesellschaften bleibt immens.
Der Golf-Kooperationsrat ist zu einem sehr beliebten Gastgeber geworden, der seine Öldollar nur allzu freigiebig für Riesenveranstaltungen wie die Weltausstellung Expo 2020 in Dubai und die umstrittene Fußball-WM 2022 in Doha heraushaut. Auch das ISEA, das International Symposium on Electronic Arts, das Fachleute aus Wissenschaft, Kunst, Lehre und anderen Bereichen der Technologie-Community zusammenbringt, wird 2014 von Dubai ausgerichtet.
Traditionell hat sich das ISEA nie davor gescheut, im Zuge der Idee einer Netzwerkgesellschaft auch taktische und aktivistisch geprägte Medienpraktiken in sein Programm aufzunehmen. Fragt sich nur, ob es in Dubai daran festhalten wird. Ein Blick in das diesjährige Programm offenbart nur einen einzigen Unterpunkt in der Rubrik “Nomadic Highway / Bridging Media”, der sich mir den sozialen Medien und ihren Möglichkeiten für Kunst und Gesellschaft befasst.
Auch wenn ihr Einfluss oft übertrieben wurde, haben die sozialen Medien im Arabischen Frühling dennoch eine zentrale Rolle gespielt, und soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook und YouTube bieten AktivistInnen, BürgerjournalistInnen und anderen Gruppierungen auch weiterhin eine Plattform, um ihre Anliegen vorzubringen. Saudi-Arabien zeichnet sich durch eine der weltweit höchsten Pro-Kopf-Nutzungen von Twitter und YouTube aus. Für die Menschen in dem abgeschotteten Königreich sind beide zu einer Plattform geworden, auf der sie sich Luft machen, kennen lernen und diskutieren können (wenn auch ohne große Auswirkungen).
Das ISEA-Programm geht auf Nummer sicher, es umfasst (und zelebriert) Themen wie die Seidenstraße, den nomadischen Lebensstil der Bevölkerung in den Emiraten und den Beitrag der alten arabischen Welt zur Wissenschaft, anstatt, was passender wäre, die gegenwärtigen Realitäten in der Region in den Vordergrund zu stellen. An einem Ort, an dem ein kritischer Tweet eine dreijährige Haftstrafe nach sich ziehen kann und eine Ausstellung über soziale Medien, Technologie und das Bild soeben stillschweigend geschlossen wurde, bleibt abzuwarten, wie offen und kritisch die kreativen und emanzipatorischen Möglichkeiten von Technologie diskutiert werden können.
Tatsächlich sind in Ländern wie Saudi-Arabien und den VAE nach dem arabischen Frühling vor allem das Internet und die sozialen Medien von staatlichen Maßregelungen betroffen. Gemäß einem drakonischen neuen Internetgesetz, das 2012 in den VAE verabschiedet wurde, stellt es nun ein Vergehen dar, sich über die Führung des Landes und seine Verbündeten lustig zu machen. Leute wurden dort für Tweets verhaftet, die “Zwietracht säten” oder “Falschmeldungen verbreiten”. Natürlich beschränken sich die Maßregelungen nicht auf den Online-Aktivismus. In den VAE wurden mutmaßliche Muslimbrüder, Emiratis und ÄgypterInnen in Massenprozessen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Außerdem wurden unbequeme ausländische AkademikerInnen, wie beispielsweise 2012 der Journalistik-Professor Matt Duffy, gefeuert und des Landes verwiesen.
Während Katar den Arabischen Frühling anderswo augenscheinlich unterstützte, wurde der Dichter Mohamed Ibn al-Dheeb al-Ajami im Land wegen Beleidigung des Emirs zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem Videos, in denen er seine Poesie rezitiert, im Internet veröffentlicht worden waren. Darüber hinaus wurden, wie in vielen anderen Golfstaaten auch, Maßnahmen zur Katarisierung eingeleitet, die offenbar dazu dienen, eine striktere Kontrolle über die Medien und andere Institutionen zu kaschieren. Der palästinensische Leiter von al-Dschazira wurde durch ein Mitglied der katarischen Königsfamilie ersetzt. Auch das Führungspersonal des Doha Film Institute und sogar des Doha Center for Media Freedom fielen der Katarisierung zum Opfer.
Das gleiche Spiel ist auch in Saudi-Arabien zu beobachten. In einem im Dezember 2013 erschienenen Bericht von Human Rights Watch werden elf Fälle von Verhaftungen von Online-AktivistInnen genannt. Saudi-Arabien hat 2014 schon mehrere BloggerInnen und andere MenschenrechtsaktivistInnen zu langen Haftstrafen zwischen 10 und 15 Jahren verurteilt. Auch die neue saudische Anti-Terror-Gesetzgebung wurde von Human Rights Watch als Angriff auf die Freiheitsrechte kritisiert.
Vielleicht sind es auch die fortwährenden staatlichen Maßregelungen, die die Regierenden in Saudi-Arabien dazu bewogen haben, mittels Kunst und Kultur eine sanftere Seite ihrer Staatsmacht zu zeigen. Anders als in Katar und den VAE, wo ein Großteil der Kunst importiert wird, ist die junge Kunstszene hier vorwiegend von saudischen KünstlerInnen geprägt, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass es für AusländerInnen äußerst schwierig ist, in das Königreich einzureisen, und sich auch der Import von Kunstwerken eher problematisch gestaltet.
Dass sich die saudische Kunstszene ganz natürlich von unten entwickeln konnte, ist in erster Linie den bahnbrechenden Bemühungen der britisch-saudischen Plattform Edge of Arabia zu verdanken, die gemeinsam von den Künstlern Stephen Stapleton aus Großbritannien, Ahmed Mater und Abdelnasser Gharem aus Saudi-Arabien und der Athr Gallery in Jeddah ins Leben gerufen wurde. Obwohl die saudische Kunstszene noch in den Kinderschuhen steckt, wird sie bereits global gehyped und kommerziell völlig überbewertet; saudische Kunstwerke erzielen Preise von über 500.000 Dollar. Kürzlich gab der staatliche Erdöl-Riese Saudi Aramco Pläne zur Eröffnung eines Zentrums der Weltkultur in Dhahran im Jahr 2015 bekannt. Es laufen bereits Kooperationen mit dem British Museum, dem Natural History Museum in London und dem Centre Pompidou in Paris. Darüber hinaus haben die saudischen Behörden versprochen, demnächst auch Tourismusvisa auszustellen, womit die Möglichkeiten der sanften Diplomatie offenbar erkannt wurden. Bleibt abzuwarten, wie ein abgeschottetes Land, das eine derart strikte Geschlechtertrennung verfolgt, streng religiöse wahhabitische Überzeugungen teilt, weder Kunstakademien noch Kinos hat und Kunst nicht mal als Studienfach anbietet, zu einem kulturell attraktiven Tourismusziel werden soll. Auch wenn Chris Dercon, der Leiter der Tate Modern, eilig verkündete, dass Jeddah nun eines der wichtigsten Zentren der Kunst im Nahen Osten sei.
Wären die Golfstaaten ernsthaft daran interessiert, zum kulturellen und intellektuellen Zentrum der arabischen Welt zu werden, wie sie so oft beteuern und wofür sie solche Unsummen an Geld ausgeben, hätten sie den Arabischen Frühling als Gelegenheit wahrgenommen, wirklich Einfluss zu nehmen. Diese von Unruhen und Übergangsphasen gebeutelte Region benötigt mehr denn je freie und offene Räume für den künstlerischen, intellektuellen und politischen Ausdruck. Anstatt diese anzubieten, demonstrieren die Golfstaaten ihre Staatsmacht und schaden jedes Mal, wenn Arbeiten zensiert, öffentliche Diskussionen aus Angst vor Repressalien erstickt und Andersdenkende inhaftiert werden, im Grunde nur der eigenen Sache.
Published 23 July 2014
Original in English
Translated by
Gaby Gehlen
First published by springerin 3/2014
Contributed by springerin © Nat Muller, Ferry Biedermann / springerin / Eurozine
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