Wer hat Angst vor Europa?
Opening address at the 14th European Meeting of Cultural Journals
Ich lebe abwechselnd in Schweden, Kroatien und Österreich. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als vor ein paar Jahren die Grenzkontrollen an der österreichisch-italienischen Grenze aufgehoben wurden, und wir bei Klagenfurt die Grenze passierten und es kaum glauben konnten, daß wir nicht mehr von Grenzposten aufgehalten wurden. Weit und breit kein Gendarm, nur verlassene Zollstationen. Was für ein herrliches Gefühl der Erleichterung! Vor allem, wenn ich an das seltsame Gefühl denke, als ich 1991 zum ersten Mal den neugeschaffenen Grenzposten zwischen Slowenien und Kroatien passierte. Als Osteuropäerin weiß ich auch, wie man sich fühlt, wenn man sich bei der Einreise am Flughafen in der Warteschlange unter dem Schild “Nicht EU-Staatsbürger”, manchmal lapidar als “Andere” bezeichnet, einreihen muß.
Als jemand, der diesseits und jenseits wirklicher und gedachter europäischer Grenzen lebt und sie ständig in beiden Richtungen passiert, muß ich gestehen, daß ich noch vor einem Jahr weit mehr an das Projekt eines vereinten Europas geglaubt habe als heute. Das war aber natürlich vor den Wahlen in Österreich, Norwegen und der Schweiz und in Antwerpen und vor dem dänischen Referendum zur Einführung des Euro – und natürlich auch vor Vorfällen wie dem in Malaga, bei dem eine von einer neonazistischen Website aufgepeitschte Meute drei Tage lang marokkanische Arbeiter angriff. Die Liste beunruhigender Zwischenfälle in ganz Europa ist noch viel länger. Es ist, als würde plötzlich das Muster eines anderen Europa vor meinen Augen erstehen, und beim Hinsehen bekomme ich eine Gänsehaut. Es ist kein deja vu-Erlebnis, denn ich gehöre einer Generation an, die den Faschismus nicht mehr miterlebt hat, aber ich sehe überall wachsenden Fremdenhaß, Nationalismus und Rassismus. Außerdem weiß ich aufgrund meines Herkunftslandes, wann die Angst vor dem Anderen ins Kalkül gezogen werden muß. Und ich frage mich, ob es sich um Einzelvorkommnisse handelt oder ob es bereits Anzeichen dafür sind, daß das Projekt der europäischen Integration Gefahr läuft, seinen Schwung zu verlieren?
Ich wurde nach dem zweiten Weltkrieg geboren und wuchs auf einem verschlafenen, durch den eisernen Vorhang geteilten Kontinent auf, im Schatten eines möglichen Atomkrieges. Als Schulkinder mußten wir üben, wie man sich im Falle eines derartigen Angriffs zu verhalten hatte. Wir lernten die Anzeichen dafür auswendig: zuerst würde sich am Horizont eine riesige pilzförmige Wolke zeigen, gefolgt von einer gewaltigen Hitzestrahlung und einem Aschenregen. Man muß sich hinter irgendeinem Hindernis verstecken, die Gasmaske über das Gesicht stülpen und darf unter gar keinen Umständen Wasser trinken (die Sache mit dem Wasser wurde uns ganz besonders eingebleut, und ich habe mich immer nach dem Grund dafür gefragt). Obwohl wir noch Kinder waren, verstanden wir, daß uns diese Vorbereitungen im Ernstfall eines derartigen Horrors, wie er in unseren Büchern beschrieben war, nur wenig Schutz bieten würden.
Trotzdem übten wir fleißig. Es half uns nichts. Als viel später der nächste Krieg, der Balkankrieg ausbrach, wurden wir von ihm überrascht. Freilich konnten wir in den späten fünfziger Jahren nicht wissen, daß der Krieg, den wir miterleben würden, ein lokaler, begrenzter Krieg von geringer Intensität sein würde – der Krieg, der uns vollkommen unvorbereitet traf.
Meine Generation wuchs mit dem Gedanken auf, daß ein solcher Krieg, mit Genozid, Konzentrationslagern und Zwangsumsiedlung einer ganzen Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg einfach nicht mehr möglich war. Europa hatte seine Lektion gelernt, so sagten unsere Geschichtelehrer, und solche schrecklichen Dinge konnten nicht mehr passieren. Heute, nach dem Krieg in meinem Heimatland und in Bosnien und dem Kosovo, glaube ich nicht mehr, daß Europa diese Lektion gelernt hat. Aber vielleicht irre ich mich. Schließlich geschah der letzte Krieg nicht wirklich in Europa, sondern am Balkan. Gehört der Balkan zu Europa? Heute scheint es so, obwohl die Entscheidung schon morgen anders ausfallen könnte. Aber wenn das der Fall ist, was ist dann Europa und wo hört es auf?
Damals, zu meiner Schulzeit, war selbst das irgendwie klarer. Europa war dort, wo die Sowjetunion nicht war. Die großen politischen Umwälzungen während der letzten zehn Jahre haben diese kindische Sicherheit hinweggefegt. Das heutige Europa ist nicht länger eine Frage der Geopolitik und der definierten Grenzen gegen den Osten, und nicht einmal mehr eine Frage der wirtschaftlichen Einheit – sondern mehr eine Frage der Einstellungen, Definitionen, Institutionen, einer bestimmten geistigen Landschaft. Es gibt keinen “eisernen Vorhang” mehr, der die Definitionen einfacher macht. In den letzten zehn Jahren haben die Völker Europas den Zusammenbruch des Kommunismus miterlebt und das Verschwinden des gemeinsamen Feindes, die Beschleunigung des Integrationsprozesses innerhalb der EU, die geplante Osterweiterung und den Krieg auf dem Balkan. Gleichzeitig scheint der Globalisierungsprozeß die ganze Welt zu verschlingen. Aber diese Veränderungen erfolgten zu rasch, um sie wirklich begreifen und ganz verstehen zu können. Die Menschen reagierten wie sie immer auf das Unbekannte reagieren, mit einem Gefühl der Unsicherheit und Angst. Während sich die bekannte Welt vor ihren Augen auflöst, ist die neue im Entstehen begriffene Welt noch nicht faßbar. Was ist Europa wirklich, und wie weit kann es sich nach Osten ausdehnen und trotzdem noch Europa bleiben? Gehört die Türkei zu Europa? Und wenn ja, was ist dann mit Rußland?
Das sind keine abstrakten Fragen. Das Wesentliche daran ist, wie diese Veränderungen das Leben der Europäer, ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Bildung, Sprache etc. beeinflussen werden. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, daß ihnen die Kontrolle über ihr eigenes Leben entgleitet. Ein Gefühl der Angst untergräbt ihr Vertrauen in die Welt um sie und ihr Gefühl der Sicherheit. Diese Angst ist allerdings vage. Aber obwohl sie nicht klar identifiziert oder benannt wird und häufig nicht einmal als Angst erkannt wird, ist sie doch da und spürbar, ist sie in Meinungsumfragen, Volksbefragungen, Wahlergebnissen meßbar, und äußert sich in Zweifeln an der Notwendigkeit einer gemeinsamen Währung, der Integration und Osterweiterung oder an der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Mit anderen Worten, wie vage diese Angst auch sein mag, so hat sie doch bereits Auswirkungen auf das politische Leben einiger Länder und wird vielleicht bald wesentliche Veränderungen in der politischen Landschaft Europas mit sich bringen.
Der Mechanismus der Ausbeutung der Angst ist einfach und allgemein bekannt. Als Einzelner kann man sich leicht verlassen und verwirrt fühlen, hinweggefegt von der Rasanz und den Dimensionen historischer Ereignisse. Plötzlich ist da jemand, der dir Schutz bietet, ein Gefühl der Zugehörigkeit, die Zusicherung von Sicherheit. In unseren Adern fließt dasselbe Blut, wir gehören demselben Landstrich an, unser Volk kommt zuerst, soweit die Rhetorik. Für verängstigte Ohren ist es beruhigend, Worte wie Blut, Boden, Gebiet , wir, die anderen zu hören. Wenn man das hört, fühlt man sich stärker, man ist nicht mehr allein gegenüber den Anderen – den viel zu vielen Einwanderern, Moslems, Türken, Flüchtlingen, Afrikanern, Asylwerbern, Roma und Sinti oder dem Übermaß an Bürokratie, die von Brüssel aus unser Leben regieren will. Wenn man einmal das angenehme Gefühl des Dazugehörens gefunden hat, ängstigen einen die Anderen nicht mehr. Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt von der Angst vor dem Unbekannten zur Schaffung eines “bekannten” Feindes. Es braucht nicht viel mehr als dieses vage Gefühl der Angst, und einen politischen Führer, der es entsprechend zu nutzen weiß. Und die Medien werden ein übriges dazutun.
Es sieht so aus, als ob das neue, dunklere Bild Europas mit dem Sieg der Freiheitlichen Partei und Jörg Haiders in Österreich vor einem Jahr zum Vorschein gekommen wäre. Die Wahrheit ist jedoch, daß sein Wahlerfolg die Angst nur deutlicher sichtbar gemacht hat. Haider war bis jetzt der erfolgreichste, aber andere wie Umberto Bossi, Christoph Blocher, Karl Hagen, Edmund Stoiber, Filip Dewinter, Pia Kjaersgaard oder Jean-Marie LePenn holen rasch auf.
Vor kurzem feierte die Rechte Flämische Nationalistische Partei “Vlaams Blok” den größten Sieg für die Rechtsextremisten in Europa seit der Regierungsmitwirkung der Freiheitlichen Partei in Österreich. Sie erzielte bei landesweiten Wahlen zehn Prozent der abgegebenen Stimmen. In Antwerpen gelang es ihr, durch das gezielte Ausnutzen ausländerfeindlicher Gefühle ihr Wahlergebnis im Lauf der letzten zwölf Jahre von 18 auf 33 Prozent zu steigern. Ihr erfreuter junger Fraktionsvorsitzender, Filip Dewinter, gestand, daß selbst er nicht von einem solchen Ergebnis zu träumen gewagt hatte. Die italienische Lega Nord erreichte in den Wahlen 1996 zehn Prozent, ein weiterer Erfolg aufgrund ausländerfeindlicher Einwanderungspolitik. Die “Dänische Volkspartei” erreichte aufgrund ihrer sehr aggressiven ausländerfeindlichen Propaganda in den letzten Wahlen ein Ergebnis von 18 Prozent. Pia Kjaersgaard sagt offen, daß Einwanderer, vor allem Moslems, eine Bedrohung für die Sicherheit der Familien und die christlichen Werte der echten Dänen darstellen, für “ihr Dänentum”, wie sie sich ausdrückte. Sie ging sogar soweit, den kulturellen Pluralismus mit dem Holocaust zu vergleichen. Daher war die Volksbefragung in Dänemark, die den Euro ablehnte, keine große Überraschung. Die “Nationale Front” in Frankreich ist nicht mehr so stark wie sie war, aber sie erzielte immerhin noch 15 Prozent der abgegebenen Stimmen. Andererseits erlitt der deutsche Premierminister Gerhard Schröder im letzten Frühjahr bei Umfragen eine Niederlage, nachdem er vorgeschlagen hatte, 10.000 Computerfachleute, vor allem aus Indien, zu “importieren”. Obwohl Deutschland geschätzte 70.000 Computerexperten benötigt, um mit den internationalen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationstechnologie Schritt zu halten, waren 56 Prozent der Bevölkerung gegen diesen Plan. In einer anderen Meinungsumfrage zeigten sich nur 4 Prozent der Deutschen begeistert über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Die steigende Beliebtheit von Norwegens “Fortschrittspartei” zeigt dieselbe Tendenz, die Grenzen dicht zu machen und neue Mauern zu errichten. Dasselbe gilt für Blocher und seine “Schweizerische Volkspartei”, die in den landesweiten Wahlen im vergangenen Oktober auf 22,6 Prozent der Stimmen hinaufschnellte (von 14,95 Prozent im Jahr 1995). Ein anderer Schweizer Vorfall ist ebenfalls sehr aufschlußreich: die Wähler von Emmen, einem Industrievorort von Luzern, nutzten eine Abstimmung, um gegen Einbürgerungsgesuche für Ausländer zu stimmen. Nur vier italienischen Familien wurde die Einbürgerung gewährt. Blocher schlägt nun ein Referendum über die Einbürgerungsgesuche als Modell für das ganze Land vor. “Die Menschen fühlen sich in der neuen, globalisierten Welt unsicher und haben das Gefühl, daß ihnen eine stärkere Isolation größere Sicherheit gibt”, erklärte ein Beamter der Eidgenössischen Ausländerkommission.
Selbst dieser sehr oberflächliche Überblick zeigt den wachsenden Erfolg der rechtsextremistischen Parteien in ganz Europa. Was dabei zum Vorschein kommt, ist nicht unbedingt wieder ein Muster von Braun- und Schwarzhemden, sondern ein neues Muster einer steigenden Angst. Die rechten Parteien, die die Angst der Menschen mit populistischer Rhetorik schüren, machen sich diese Angst dann zunutze. Die Wahrheit ist jedoch, daß die rechten Parteien die einzigen sind, die den Finger am Puls des Volkes haben und diese Angst wahrnehmen. Natürlich benützen sie sie für ihre eigenen Ziele – um an die Macht zu kommen. Es wäre aber unwahr, zu behaupten, daß die Angst von diesen Parteien gemacht oder erfunden wird. Eine solche Behauptung würde bedeuten, daß man die Angst einfach wegleugnen möchte. Mit der willigen Hilfe der Medien verleihen diese Parteien lediglich dem vagen Gefühl der Unzufriedenheit Ausdruck. Es in Fremdenhaß zu kanalisieren ist einfach, denn in jeder Gesellschaft gibt es die Anderen. Solange sich dieser Fremdenhaß nur auf der Ebene der Polemik über diesen oder jenen Gesetzesantrag bezüglich Einwanderergesetzen ausdrückt (wie 1998 in Deutschland), kann man ihn noch als nicht beängstigend gelten lassen. Aber es ist alarmierend, daß eine in Der Spiegel veröffentlichte Meinungsumfrage in diesem Sommer gezeigt hat, daß die Mehrheit der Deutschen mit manchen Meinungen der Rechtsextremisten übereinstimmt, vor allem, was die Einwanderungspolitik betrifft. Und es ist alarmierend, daß diese Art der Rhetorik konkrete politische Wahlergebnisse zur Folge hat – vor allem im vergangenen Jahr. Seit damals ist es schwierig, sie beiseite zu schieben und arrogant, sie nur als Randerscheinung zu betrachten.
Die Angst überflutet auch das nachkommunistische Europa. Die Begeisterung der ersten Jahr nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat einer Enttäuschung Platz gemacht. Wieder einmal scheint ein vereintes Europa in weite Ferne gerückt: es gibt heute andere Mauern als die Berliner Mauer, die Bedingungen für die Aufnahme in die EU sind schwer zu erfüllen und der Zeitpunkt wird immer weiter in die Zukunft verschoben. Das öffnet den Nationalisten und Gegnern der EU Tür und Tor, die argumentieren, daß die neugewonnene Souveränität nicht so leicht aufgegeben werden sollte. Sie verbreiten die Angst vor multinationalen Konzernen, die ihr Land aufkaufen werden, vor der Amerikanisierung ihrer Kultur, vor der Globalisierung. Es ist nicht überraschend, wenn sich jemand wie Slobodan Milosevic einer solchen Sprache bedient. Dennoch äußern sich auch Demokraten wie der frühere tschechische Premierminister Vaclav Klaus kritisch gegenüber der EU: “Europa stellt nun den Nationalstaat grundsätzlich in Frage, und besonders seine Souveränität, ” sagte er bei einer Ansprache in Österreich im Juni dieses Jahres. Er hat damit recht – aber genau das ist ja der Gedanke der europäischen Integration. Auch Klaus spricht von Assimilierung und dem Verlust der nationalen Identität: “Wir wollen keine Eurotschechen werden!” Der ungarische Premierminister Viktor Orban steht der EU ebenfalls skeptisch gegenüber, vom slowakischen Populisten Vladimir Meciar oder dem ungarischen Nationalisten und Antisemiten Istvan Csurka ganz zu schweigen. In einem anderen Sinne ist das postkommunistische Osteuropa ebenfalls weit entfernt von einem vereinten Europa: 67 Prozent der Polen glauben z.B., daß sie nach einem EU-Beitritt Bürger zweiter Klasse sein würden.
Der Erfolg der rechtsgerichteten, nationalistischen, fremdenfeindlichen und anti-europäischen Parteien und ihrer populistischen Anführer scheint sowohl in West- als auch in Osteuropa. eine Gefahr darzustellen. Durch die Ausweitung ihres Einflusses durch ein Sichzunutzemachen von Ängsten, die niemand sonst anspricht, können sie tatsächlich den Integrationsprozeß untergraben. Ihre Anführer erzählen dem Volk, daß es seine nationale Souveränität, seine Kultur, seine Sprache etc. verlieren wird. Ihre nationale, kulturelle und soziale Identität sei in Gefahr. Nicht nur daß ihnen die Ausländer ihre Arbeit wegnehmen, sondern – und das scheint von größerer Wichtigkeit – die Gesellschaft selbst wird bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. In der Sprache des rechten Flügels ist eine multikulturelle Gesellschaft gleichbedeutend mit kultureller Desintegration. Das klingt für die Menschen bedrohlich. Es ist nicht wichtig, ob wir das politische Egozentrik, regionalen Nationalismus oder neuen Regionalismus nennen, das Ergebnis ist überall dasselbe: Homogenisierung, Mobilisierung der Abwehrmechanismen und eine isolationistische Politik.
In Umfragen bezüglich der Angst, in einem vereinten Europa ihre Identität zu verlieren, die im März (am Institut für Demoskopie, Allensbach) durchgeführt wurden, antworteten mehr als 50% der Deutschen, daß sie tatsächlich der Meinung sind, die deutsche Identität würde verlorengehen – verglichen mit 35% im Jahre 1994. Was ist das aber für eine Identität, die sie so sehr beschützen wollen? Gewöhnlich gibt es keinen Grund, diese Frage zu stellen, weil das nicht notwendig ist, bis diese Identität irgendwie herausgefordert oder bedroht wird. Vom Standpunkt des Einzelnen sieht die nationale Identität wie etwas Vorgegebenes und Bestimmtes aus, etwas, das so “natürlich” ist wie die Augenfarbe. Kultur, Geschichte, Sprache, Mythos, Erinnerung, Mentalität, Werte, Gewohnheiten, bestimmte Speisen… All das ist Teil der nationalen Identität, und die nationale Identität beeinflußt stark unsere persönliche Identität. Vor kurzem wurde in der kleinen französischen Stadt Millau ein Mann eingesperrt, der ein im Bau befindliches Restaurant der McDonald’s-Kette zerstört hatte. Der Prozeß wurde jedoch zu einer Sympathiekundgebung für José Bové. Er wurde zum Nationalhelden, weil es ihm gelungen war, die französische Angst vor einer amerikanischen Vorherrschaft zu artikulieren. In diesem Fall protestierten die Menschen gegen die Globalisierung des Geschmacks und die Franzosen sind ebenso gegen McDonalds Fast Food wie sie ihr Recht verteidigen, Käse aus nicht-pasteurisierter Milch herzustellen. Alles andere würde ihre nationale Identität gefährden. Man kann von den Deutschen nicht verlangen, daß sie aufhören, Bier zu trinken oder von den Holländern, keine Tulpen mehr zu züchten. Als die Schweden über ihren EU- Beitritt verhandelten, war es ihnen wichtig, sicherzustellen, daß es für sie kein Verbot von Kautabak geben würde – denn er gehört zu ihrer nationalen Identität.
Andererseits konnte man in neu gegründeten Staaten wie z.B. Kroatien beobachten, wie eine nationale Identität gebildet wird und entsprechende Symbole erfunden werden – hauptsächlich aus Mythen und einer Neuinterpretation der eigenen Geschichte. Das beweist nur, was auch die moderne Anthropologie argumentiert, daß nationale Identitäten nicht ewig gültige, fix und fertige, kulturelle, historische oder soziale Charakteristiken sind. Mit anderen Worten, was wir für eine fundamentale Stütze für den Einzelnen halten, ist in Wirklichkeit nur ein kulturelles Konstrukt – d.h. es ist erfunden und keineswegs “natürlich”.
Aber die alte populistische Rhetorik Franjo Tudjmans wollte nichts davon wissen, daß die Identität immer in Beziehung zu den Anderen geschaffen wird, sie wollte nur diese Anderen, d.h. die Serben, ausschließen. Dennoch beweisen Anthropologen an Hand des Beispiels von Einwanderern, Mischehen und Menschen, die nahe einer Grenze leben, daß es durchaus möglich ist, sich mit mehr als einer Nation und Kultur zu identifizieren.
Als ich im Zug in Deutschland einen türkischen Gastarbeiter traf, beklagte er sich: “Wenn ich in Deutschland bin, gelte ich als Türke, wenn ich aber in der Türkei zu Besuch bin, sehen sie mich nicht als einen der Ihren an, sondern als Ausländer, als Deutschen. Ich habe immer das Gefühl, daß ich zwischen den beiden wählen muß und das mag ich nicht.” “Nun, als was fühlen Sie sich selbst, was glauben Sie, daß Sie sind?” fragte ich ihn. Darauf er: “Ich bin beides.” Für ihn selbst war seine Identität kein Problem – sie war es nur für die anderen. In einer Kultur des Nationalismus besteht die Identität aus Grenzen, Territorien und Blutszugehörigkeit, und man ist gezwungen, eine Nation zu wählen. Aber die Menschen zu zwingen, auszuwählen, führt manchmal zu überraschenden Ergebnissen. Vor einigen Jahren fanden sich zwei kleine Dörfer in Istrien in einem Disput zwischen den beiden neu gegründeten Staaten Kroatien und Slowenien. Als slowenische Journalisten die Bevölkerung fragten, ob sie Slowenen seien, bejahten die Leute das. Als sie jedoch dann von kroatischen Journalisten gefragt wurden, ob sie Kroaten seien, bejahten sie ebenfalls. Das war natürlich verwirrend, und die Journalisten suchten nach einer Erklärung. Schließlich sagte ihnen jemand, daß ein “entweder/oder” einfach die falsche Fragestellung war. Ihre Identität ist diesen Menschen wichtig, aber sie definieren sie nicht national, sondern regional: sie fühlen sich als Istrier. Tatsächlich bezeichneten sich in einer Volkszählung 1991 etwa 20 Prozent der Bevölkerung dieses Landstrichs als Istrier; nach den Vorschriften hätten sie sich als “andere” bezeichnen müssen. Das war eine Art anti-nationalistischer Demonstration gegen Franjo Tudjmans Regierung, und die Botschaft war eindeutig: Im Falle der Istrier decken sich Nationalität und Identität nicht unbedingt. Die Nation als politische Kategorie ist nur ein Aspekt ihrer Identität. Für sie war die grenzübergreifende regionale Identität stärker als die nationale. Die Istrier waren nicht bereit, einer Nationalität gegenüber einer anderen den Vorzug zu geben, sondern sie erfahren ihre Identität als Summe der kulturellen, nationalen, politischen etc. in ihrer Region vertretenen Identitäten. “Die EU wird nur dann eine solide Basis der Legitimität erreichen, wenn die Europäer eine europäische politische Identität anerkennen. Das bedeutet nicht, daß sie sich nicht mehr als Schweden, Finnen, Franzosen, Portugiesen, Tschechen, Polen oder Ungarn fühlen, sondern daß das Gefühl eines gemeinsamen europäischen Schicksals zu diesen Identitäten hinzukommt.” schreibt Ingmar Karlsson.
Ich erinnere mich an die vorhergehende Volkszählung von 1981 in Jugoslawien, als sich beinahe zehn Prozent der Bevölkerung als Jugoslawen deklarierten. Weitere Analysen ergaben, daß dies die Stimme der Nachkriegsgeneration war, der jungen städtischen Bevölkerung. War dies der Beginn der jugoslawischen Nation? Ich glaube nicht. Ich glaube, daß sich die Menschen noch sehr ihrer ethnischen Identitäten bewußt waren. Meiner Erfahrung nach war das ein Fall, in dem einfach eine weitere Identität zu einer bisherigen hinzukam, der serbischen, kroatischen oder bosnischen Identität war eine weitere hinzugefügt worden.
Wenn Nationen nicht ewig dauern und die nationale und persönliche Identität etwas Konstruiertes ist, dann kann sie auch neu konstruiert werden. Eine andere gedachte Gemeinschaft kann geschaffen werden. Vielleicht ist das der richtige Zeitpunkt, um über ein neues Paradigma des Verständnisses von Identität nachzudenken, um ein Gegengewicht zur wachsenden Angst in Europa zu schaffen. Anstatt kulturelle Ausschlußmechanismen zu benutzen, ist es vielleicht möglich, Identitäten zu schaffen, indem man ethnische, regionale, nationale und transnationale Elemente der Identität zusammenfaßt? Wenn sich die Identität zu einer mehrfachen Identität umkonstruieren läßt, wäre das ein Weg zur Schaffung einer europäischen Identität? Nicht als standardisierte und globalisierte Gemeinschaft, sondern als nicht-hierarchische Gemeinschaft verschiedener Kulturen. Die Menschen hätten das Gefühl, daß sie einer bestimmten Kultur, aber nicht einem Staat angehören – genau so wie die Istrier. Kann das Gefühl, einer länderübergreifenden Region anzugehören, zur Überwindung der Angst vor der Integration beitragen?
Aufgrund meiner persönlichen Lebensweise ist ein vereintes, aber vielfältiges Europa eine Möglichkeit, die mich bereichert und mir größere Freiheit bietet. Um aber ein solches Europa zu schaffen, muß man die Menschen überzeugen, daß auch sie etwas gewinnen und nichts verlieren. Wir befinden uns an einem Punkt, wo die Verluste offensichtlicher scheinen und die Angst vor der Zukunft die Oberhand über die Hoffnung gewinnt. Wer hat Angst vor Europa? Bronislaw Geremek, der frühere polnische Außenminister, hat diese Frage großartig beantwortet, als er meinte, “Europa hat Angst vor sich selbst!”
Published 11 September 2001
Original in English
Translated by
M. E. Clay
© Slavenka Drakulic / Eurozine
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