Von Nachbarn, Töchtern und Pistolen

Ein Streitgespräch über die Annexion der Krim

Am 16. Mai 2014 fand im Hamburger Institut für Sozialforschung eine Diskussion zur aktuellen Lage in der Ukraine statt, an der neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses auch Reinhard Merkel, Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Hamburger Universität, teilnahm. Vorausgegangen war der Debatte ein Leserbrief, mit dem Jan Philipp Reemtsma auf einen Artikel Merkels in der FAZ reagiert hatte. In der sich daraus entspinnenden Korrespondenz entstand die Idee, das Thema mit den Mitarbeitern des Instituts zu diskutieren. Grundlage der Diskussion war neben Merkels Beitrag und Reemtsmas schriftlich dargelegten Einwänden ein weiterer Artikel von Otto Luchterhandt, dem Direktor der Abteilung für Ostrechtforschung an der Universität Hamburg, der ebenfalls in der FAZ erschienen ist.

Jan Philipp Reemtsma: Ich darf Sie alle und insbesondere Reinhard Merkel als Gast und als Verfasser eines Textes, über den wir heute sprechen, vielleicht auch streiten wollen, herzlich begrüssen. Es geschieht zwar nicht allzu häufig, dass wir politische, in diesem Falle weltpolitische Aktualitäten zum Ausgangspunkt einer Diskussion machen, aber wir haben es in der Vergangenheit schon einige Male getan. In diesem Fall verbindet sich die politische Aktualität des Themas mit Fragen, die im Hause immer wieder diskutiert worden sind und die mit der völkerrechtlichen Bewertung von Politik zu tun haben.

Russian soldiers guarding an Ukrainian naval base on March 4, 2014 in Perevalne, Crimea, Ukraine. Photo: photo.ua Source:Shutterstock

Anlass unserer Debatte ist ein Artikel von Reinhard Merkel in der FAZ vom 7.April, “Kühle Ironie der Geschichte”.1 Es hat, wenn ich das hier einleitend interpretieren darf, sicher zwei Motive gegeben, diesen Text zu schreiben: einmal die Nonchalance hinsichtlich der völkerrechtlichen Begrifflichkeit, mit der Journalisten und Politiker die Vorgänge auf der Krim kommentiert haben. Es wird wahrscheinlich uns allen aufgefallen sein, dass in der öffentlichen Debatte kein besonderer Wert darauf gelegt wurde, das Geschehen zunächst einmal ordentlich zu sichten, ganz unbeschadet der Frage, welche politische Stellung man dazu dann einnimmt. Das zweite Motiv wird im letzten Teil des Artikels deutlich. Ich will nicht das Wort der Doppelzüngigkeit verwenden, weil es dort nicht vorkommt, aber es geht letztlich umdas, was man gemeinhin double standards in der west-östlichen Auseinandersetzung nennt.

Die Lektüre des Artikels hatte mich insofern gefreut, als ich die Mängel der öffentlichen Diskussion ganz ähnlich empfunden hatte und sehr froh war, dass jemand darauf hinwies und die Dinge zurechtrückte. Auf welcher Grundlage erfolgt die völkerrechtliche Bewertung von Referenden, was ist eigentlich eine Annexion, wann kann man diese Begriffe wie anwenden und wann nicht? Gleichwohl hatte ich meine Zweifel, auch an den Folgerungen, die Reinhard Merkel daraus zog. Vor allen Dingen beschäftigte mich, ob man nicht doch von einer Annexion sprechen muss, wenn die Intervention eines anderen Staates eine Regierung daran hindert, ihre innenpolitische Durchsetzungsmacht wirklich auszuüben. Wir werden in der Diskussion sehen, inwieweit sich das überhaupt klären lässt. Ich möchte jetzt gern Reinhard Merkel das Wort geben, damit er seine Position noch einmal zusammenfassen kann.

Reinhard Merkel: Schönen Dank. Ich habe mich gefreut, dass Herr Reemtsma auf meine etwas unerschrockene Anfrage, ob wir das nicht hier im Institut noch weiter diskutieren könnten, so freundlich und positiv reagiert hat.

Erlauben Sie mir, ein wenig auszuholen. Die Sachfragen liegen mir natürlich primär am Herzen. Aber Herr Reemtsma hat mit Recht auf mindestens eines meiner zusätzlichen Motive, den Artikel zu schreiben, hingedeutet. Ich habe das auch im Text gar nicht versteckt und am Ende einen vergleichenden Hinweis auf die Situation im Kosovo gegeben, auf die ich gleich noch kurz eingehen werde. Was mich an diesen Debatten ärgert, und das gestehe ich ganz ehrlich, ist – neben den, mit Verlaub, Schweinereien der Akteure aller Seiten in solchen Konflikten – die Doppelzüngigkeit, mit der die westliche Politik das Geschehen kommentiert, sobald sie wie in der Ukrainekrise im Wesentlichen in die Rolle des Zaungasts gezwungen wird und nicht selber maßgeblich mitgestalten, um nicht zu sagen intervenieren kann. An der unterschiedlichen Reaktion auch in den Tonfällen, und damit meine ich die Emphase der Empörung über das, was derzeit in der Ukraine abläuft, im Vergleich zu der Haltung zum Kosovo vor sechs Jahren, ist eine profunde Unehrlichkeit ablesbar. Ebenfalls ärgert mich die Diskussion in unseren Medien, die großenteils eine Mischung aus billigem Opportunismus und Ignoranz darstellt. Ich mag mich mit meinen eigenen Kommentaren in vielen Dingen irren, und so sicher, wie man erscheint, wenn man einen etwas apodiktisch anmutenden Zeitungsartikel schreibt – den man so schreiben muss, weil man die Argumente anders nicht unterbringt –, so sicher bin ich mir innerlich nicht. Ich habe auf Jan Philipp Reemtsmas erste Reaktion hin auch zunächst gesagt: “Der Einwand hat natürlich Hand und Fuß; gleichwohl sehe ich die Dinge so, wie ich sie sehe.”

Noch einmal zu unseren Medien: Ich habe eine langjährige, gute Beziehung zur Zeit-Redaktion, kenne auch einige ihrer Mitglieder persönlich als integre und kluge Menschen, und staune seit einigen Jahren ein bisschen über die generelle Orientierung des Politikressorts. Manchmal mutet mich die dort vorherrschende Haltung wie eine postpubertäre Kraftmeierei an, nach dem Motto: “Jetzt muss doch Deutschland auch mal bereit sein, ein bisschen Krieg zu führen.” Hier scheint mir eine gewisse Einsicht in das, was Krieg bedeutet, verlorenzugehen. Auch in der Diskussion über die Libyen-Intervention habe ich das als irritierend erlebt. Da konnte man ebenfalls über vieles streiten, aber was mich überrascht hat, war der Posaunenton, in dem plötzlich gesagt wurde: “Skandalös, dass Deutschland sich an der Bombardierung des Landes nicht beteiligt.” Übrigens wird das allen Ernstes noch heute gesagt, nachdem Libyen durch die Intervention zu einem failing state gemacht worden ist. So viel zu meinem Motivhintergrund, den ich gar nicht verbergen will.

Damit komme ich zu meinen Thesen und zur Frage des Dissenses mit Jan Philipp Reemtsma. Ich denke, dass über bestimmte Prämissen Einigkeit zwischen uns besteht. Russland hat sich völkerrechtswidrig verhalten, mindestens in zweierlei Hinsicht. So habe ich das auch geschrieben. Selbstverständlich handelt es sich um eine Intervention im Sinne von Artikel 2, Absatz 4 der UN-Charta, wenn die Russen ihre Militärpräsenz auf der Krim auf Regionen ausdehnen, in denen sie ohne Zustimmung der Regierung in Kiew nichts zu suchen haben. Das ist unstrittig. Etwas intrikater, aber auch noch klar zu beantworten, ist schon das Problem der vorschnellen Anerkennung eines sich abspaltenden Gebiets als unabhängiger Staat. Die stärkste Form der Anerkennung dürfte es sein zu sagen: “Ja, ihr könnt Mitglied in der russischen Föderation werden.” Genau das hat Russland zwei oder drei Tage nach dem Referendum – oder meinetwegen: nach dem sogenannten Referendum – auf der Krim getan. Das dürfte ebenfalls eine Verletzung der ukrainischen Souveränität gewesen sein. Hier sehe ich keinen Dissens.

Ich möchte aber annehmen, dass wir uns darüber hinaus auch in der Einschätzung einig sind, dass eine deutliche Mehrheit der Krimbewohner die Unabhängigkeit von Kiew und den Anschluss an Russland tatsächlich wollte. Zu dieser Frage hatte ich eine kontroverse E-Mail-Diskussion mit meinem Kollegen Otto Luchterhandt, der mir sinngemäß schrieb: “Ich darf Sie darauf hinweisen, dass der Menschenrechtsrat in Moskau, den Putin höchstpersönlich installiert hat, ausweislich eines Artikels in der Zeit Online selber festgestellt hat, die Wahlbeteiligung bei diesem Referendum oder die Referendumsbeteiligung habe nur zwischen dreißig und fünfzig Prozent gelegen, und zugestimmt zur Unabhängigkeit und zu dem Anschluss an Russland hätten nicht etwa neunzig oder über neunzig Prozent, sondern lediglich fünfzig bis sechzig Prozent.”

Als ich der Geschichte nachging, stellte sich Folgendes heraus, was übrigens auch die hiesige Mediendiskussion kennzeichnet, in der es unerwähnt blieb: Zwei Mitglieder des Menschenrechtsrats in Moskau, anerkannte Verteidiger der Menschenrechte und deswegen aus gutem Grund seit langem Putin-Kritiker, sind auf die Krim gefahren und haben nach eigener Auskunft mit genau zwanzig Leuten geredet – mit Rechtsanwälten, Ärzten und Intellektuellen, die tendenziell wohl auch auf der Krim Russland gegenüber kritischer eingestellt sein dürften als der Rest der Bevölkerung. Die Meinung dieser zwanzig Gesprächspartner haben sie (salopp) etwa so zusammengefasst: “Ach, da haben bestimmt keine 88 Prozent teilgenommen. Ich schätze nur dreißig”, so die eine Auskunft; eine andere, es seien wohl höchstens fünfzig. Geschrieben haben sie dann: “dreißig bis fünfzig Prozent Wahlbeteiligung”. Und dem Beitritt zu Russland zugestimmt habe zwar wohl die Mehrheit, aber vermutlich nur “fünfzig bis sechzig Prozent”.2Das wurde in Deutschland ernsthaft als verlässliche Auskunft des Menschenrechtsrats nach einer Untersuchung der Bevölkerungsmeinung auf der Krim dargeboten – übrigens nur von der Zeit. Andere Medien sind wohl skeptischer gewesen, ob die Meldung Hand und Fuß habe. Aber dazu gibt es nun tatsächlich eine verlässliche Auskunft: Vor etwa zehn Tagen hat das weltweit renommierte Pew Research Center in Washington eine ausgedehnte Befragung in der Ukraine sowie in Russland und auf der Krim durchgeführt, und deren Ergebnis für die Krim habe ich mir notiert. Diese Befragung ist übrigens in allen deutschen Zeitungen zitiert worden, weil sie das Ergebnis erbracht hat, dass eine deutliche Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung nicht wolle, dass das Land zerfalle oder dass die östlichen Provinzen zu Russland überträten, vielmehr dafür sei, dass die Ukraine ein einheitlicher Staat bleibe. Diesem allenthalben zitierten Befund folgt in dem Pew-Report allerdings ein weiterer Befund, der nicht zitiert worden ist: Auf der Krim hätten 93 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in Putin; 92 Prozent würden sagen: “Russia is playing a positive role in Crimea”. 91 Prozent würden die Aussage bejahen “that the referendum was free andfair”.3

Ich betrachte es daher als ein gesichertes Faktum, dass trotz der Unsauberkeit dieses Referendums eine große Mehrheit der Krimbewohner den Anschluss an Russland wollte und nach wie vor will. Man kann aus dem Umstand, dass das Referendum juristischen Kriterien der Adäquatheit oder formellen Korrektheit nicht genügt hat, ja nicht gut schließen, die Befragten hätten also das genaue Gegenteil dessen gewollt, was das Referendum ergab. Der von mir übrigens sehr geschätzte Reinhard Müller von der FAZ schrieb mir: “Woher wissen Sie denn, dass die Mehrheit der Krim-Bewohner wirklich einverstanden war mit dem Anschluss an Russland?”, was mir suggerieren sollte, man könne mit guten Gründen das Gegenteil vermuten. Das kann man jedoch nicht.

Und nun stellt sich eine spannende normative Frage: Wenn die Mehrheit der Bewohner eines Gebiets, das so zu einem anderen Staat übertritt, wie das mit der Krim geschehen ist, diesen Wechsel will, aber ihn nicht ohne externe Unterstützung hätte bewerkstelligen können, also nicht ohne militärische Unterstützung dieses anderen Staates – können wir dann von einer Annexion reden? Und das ist nun freilich keine bloß semantische, sondern eine grundsätzlich normative Frage. Ich skizziere ganz knapp die beiden Modelle, die mir in der Korrespondenz mit Herrn Reemtsma in den Sinn kamen. Man kann und sollte sie vielleicht noch etwas pointierter beschreiben, um zu veranschaulichen, wie sich solche Situationen bewerten lassen. Noch einmal als Prämisse: Der klare Fall einer sauberen Sezession ist das gewiss nicht gewesen. Eine solche erfordert, wie das etwa in Québec mehrfach versucht worden ist, eine organisierte Befragung beziehungsweise ein hinreichend vorbereitetes, offen, fair und unter neutraler Beobachtung durchgeführtes Referendum. In Kanada ist das jeweils gescheitert. Daraufhin hat man in der dortigen Provinzregierung von der Sezession abgesehen. Denkbar wäre auch ein Modus der Abspaltung, wie wir ihn vielleicht in Schottland im kommenden Herbst erleben werden. Eine solche Sezession folgt bestimmten demokratischen Prozeduren. Deren wichtigste hat der Supreme Court in Kanada in einer pointierten und klugen Entscheidung, die wegen ihrer grundsätzlich offenen Haltung zu Sezessionen gleichwohl oft kritisiert worden ist, mit Blick auf Québec ausformuliert. Dieser Richterspruch findet auch im positiven Völkerrecht sein Echo, da er dargelegt hat, wie eine saubere, demokratisch legitimierte Sezession aussehen muss. Unter anderem wird – wie ich meine, zu Recht – auch eine Pflicht des Zentralstaats postuliert, mit sezessionswilligen Regionen fair zu verhandeln, wenn diese den Minimalkriterien einer möglichen künftigen Staatlichkeit genügen. Solche Minimalkriterien der Staatlichkeit sind völkerrechtlich wirksam in der sogenannten Montevideo-Konvention von 1933 formuliert worden. Grob: Das Gebiet muss im Prinzip intern verwaltungs- und regierungsfähig sein; es muss eine Bevölkerung haben, die als Staatsvolk infrage kommt; und es muss in der Lage sein, in völkerrechtliche Verbindungen mit anderen Staaten zu treten. Das alles ist auf der Krim ganz unzweifelhaft der Fall gewesen, in wesentlich deutlicherem Maße übrigens als sechs Jahre zuvor im Kosovo. Die Krim ist mehr als doppelt so groß, und sie verfügt über funktionierende interne Verwaltungsstrukturen, während der Kosovo in jeder Hinsicht noch immer am finanziellen wie am verwaltungs- und polizeitechnischen Tropf der EU hängt.

Sind diese Grundvoraussetzungen gegeben (wie auf der Krim), so verweisen die Prinzipien des kanadischen Supreme Court die jeweilige Zentralregierung auf ihre Pflicht, mit den potenziellen Sezessionisten in Verhandlungen zu treten, und zwar selbst dann, wenn die eigene Verfassung Sezessionen verbietet. Die Zentralregierung darf diese gleichwohl nicht einfach mit Gewalt unterbinden. Aber auch die Sezedierenden sind zu solchen Verhandlungen verpflichtet und können nicht einfach sagen: “Wir machen, was uns gefällt.” Ich will das hier nicht im Einzelnen ausbuchstabieren. Nur wenn all diese Bedingungen erfüllt wären, ließe sich von einem sauberen Fall der Sezession sprechen. Umgekehrt liegt aber ebenso wenig ein klarer Fall von Annexion vor. Das wäre etwas, wie es Saddam Hussein 1991 in Kuwait vorgeführt hat: die räuberische Beschlagnahme eines Teils eines fremden Staates gegen den Willen der Zentralregierung dort – und freilich außerdem, so füge ich jetzt an (wiewohl es im Völkerrecht nirgendwo ausdrücklich steht), auch gegen den Willen der mitbeschlagnahmten Bevölkerung. Nun muss man dazusagen, dass im Völkerrecht die Begriffe Sezession und Annexion nicht besonders klar und kohärent verwendet werden, zumal die Staaten selbstverständlich mit beidem eigentlich nichts zu tun haben wollen. In meinem Text in der FAZ habe ich geschrieben: “Die internationale Staatengemeinschaft ist kein Club von Selbstmördern. ” Selbstverständlich wollen die Staaten keine Sezessionsrechte einräumen, und sie sind, wenn Sie so wollen, ja die Gesetzgeber des Völkerrechts. Bei der Annexion ist man sich einig. Echte Annexionen à la Saddam Hussein sind natürlich völkerrechtswidrig. Mehr als das: Sie liefern regelmäßig Kriegsgründe, eben den Grund der Verteidigung des geschädigten Staates gegen einen bewaffneten Angriff, und zwar auch ohne legitimierenden Beschluss des Weltsicherheitsrats, also im Modus zwischenstaatlicher Notwehr nach Artikel 51 der UN-Charta. In Kuwait war das der Fall, wiewohl der Sicherheitsrat damals den Einsatz außerdem autorisiert hat.

Auf der Krim ist beides nicht eindeutig gegeben, weder der Idealtypus einer demokratischen Sezession noch der einer gewaltsamen militärischen Annexion. Also wird man sich mit Modellen der unsauberen Sezession beziehungsweise Annexion zu befassen haben, wie wir sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten ebenfalls beobachten konnten. Der Kosovo ist durch eine unsaubere Sezession unabhängig geworden. An zwei Dinge sei hier erinnert: Erstens ging dieser Sezession kein Referendum voraus, die provisorischen Autoritäten des Kosovo haben das Land vielmehr einfach für unabhängig erklärt. In der Folge sind nahezu einhunderttausend Serben gewaltsambedroht und vertrieben worden. (Auf der Krim ist, beiläufig, niemand vertrieben worden.) Zweitens war im Kosovo die Erklärung der Unabhängigkeit ebenfalls nur deshalb möglich, weil eine fremde Militärpräsenz, nämlich die UNO-Truppe, die seit 1999 dort stationiert war, verhinderte, dass die serbische Zentralregierung ihrerseits die Sezession unterband. Das ist ein höchst unsauberer Fall von Sezession.

Ich möchte aber außerdem daran erinnern, dass der Kosovo bereits zwei Tage nach der Erklärung von den USA, England und Frankreich als unabhängiger Staat anerkannt worden ist, drei Tage nach der Erklärung dann auch von Deutschland. Auch dies waren vorschnelle Anerkennungserklärungen, die völkerrechtswidrig in das Recht Serbiens auf territoriale Integrität eingriffen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Sicherheitsrat eine Sezession des Kosovo ausdrücklich verboten hatte, und zwar in der Resolution, mit der er die internationale Verwaltung im Kosovo einsetzte. Auch darauf, auf den sofortigen westlichen Applaus für diese mindestens ebenso dubiose Sezession des Kosovo, bezog sich mein Vorwurf einer Doppelzüngigkeit des Westens. Was mit einer unsauberen oder prima facie unklaren Annexion gemeint ist, kann man am Fall Nordzyperns illustrieren, das 1974 von der Türkei militärisch besetzt wurde. 1983 hat sich Nordzypern für unabhängig erklärt. Der Rest der Welt hat das mit Recht nicht anerkannt, von der Türkei abgesehen. Denn vor dieser Erklärung hatte man zweihunderttausend griechische Zyprioten aus Nordzypern vertrieben und erst dann dort ein Referendum abgehalten, als sich genügend Türken aus dem südlichen Teil der Insel und aus der Türkei anstelle der vertriebenen Griechen in Nordzypern angesiedelt hatten. So ergab sich eine bequeme Mehrheit für die Unabhängigkeitserklärung. Wäre Nordzypern anschließend der Türkei beigetreten, hätte es sich wohl um nichts anderes als eine maskierte Annexion gehandelt.

Im Hinblick auf diese zur Orientierung halbwegs geeigneten Beispiele habe ich nun in meiner Mail an Jan Philipp Reemtsma zwei Zurechnungsmodelle konzipiert. Denn in unserer Frage geht es im Wesentlichen darum, wem eigentlich die Abspaltung der Krim primär zuzurechnen ist: ihrer Bevölkerung oder dem mit militärischer Drohgebärde anwesenden Russland? Stellen wir uns Folgendes vor: Jemand geht in das Haus eines anderen, hält der 16-jährigen Tochter eine Pistole an den Kopf und sagt “Mitkommen!”, woraufhin die Tochter aus Angst mitkommt. Das ist der klare Fall einer Entführung – wenn Sie so wollen, einer Annexion der Tochter. Wenn nun – mein zweites Modell – jemand in das Haus des Nachbarn geht, wissend, dass dessen Tochter aus dem Haus hinauswill, um zu ihm zu ziehen, und ebenfalls wissend, dass der Hausherr das nach Möglichkeit zu verhindern suchen wird, wenn er also in das Haus dieses Nachbarn geht, dem Hausherrn eine Pistole an den Kopf hält und sagt “Du hältst dich ruhig!”, womit er der Tochter ermöglicht, nach ihrem eigenen Willen mit ihm zu kommen, dann ist sein Verhalten selbstverständlich rechtswidrig – eine Nötigung per Androhung von Gewalt. Aber eine Entführung, eine Annexion, ist es nicht. Und das eben ist grossomodo das (selbstverständlich simplifizierende) Modell für die Krim. Russland hat die Macht des Hausherrn Ukraine blockiert, der verhindern wollte, dass seine Tochter Krim ihn verlässt und zu Russland zieht. Noch einmal: Dass die Tochter Krim zu Russland wollte, setze ich voraus, und warum das begründet ist, habe ich vorhin dargelegt. Russlands militärische Nötigung ist rechtswidrig gewesen; aber eine Entführung, eine Annexion, war es nicht. So lautet meine Behauptung. Dass es dagegen eine Reihe möglicher Einwände gibt, weiß ich.

Jan Philipp Reemtsma: Ich möchte nur noch zwei Bemerkungen machen. Die erste betrifft das Stichwort der Doppelzüngigkeit, das Sie ja akzeptiert haben. So ähnlich hat sich ja auch Gerhard Schröder geäußert, als er sagte: “Im Grunde muss man das Vorgehen Putins auf der Krim akzeptieren, denn wir haben im Kosovo ja auch das Völkerrecht gebrochen.” Es scheint mir eine bedrohliche Argumentation, zu sagen: “Wir haben erfolgreich die internationalen Standards gesenkt und sehen mit einer gewissen Zufriedenheit darauf, dass dies politisch nun der Normalfall geworden ist.” Das ist jetzt sicher ein bisschen grob gezeichnet, aber ich denke, dass es in einem solchen Fall erlaubt ist, so grob zu zeichnen.

Zweitens kann ich das Bild mit der 16-Jährigen nicht akzeptieren, weil das Beispiel eine wesentliche Dimension des tatsächlichen Vorgangs unterschlägt, nämlich das Recht der Minderheit auf der Krim, vor einem putschartigen Sezessionsbegehren einer wie auch immer großen Mehrheit geschützt zu werden. Diese Minderheit hat zumindest den Anspruch auf geordnete Debatten darüber, wie solche Übergänge geschehen sollen. Reinhard Merkel hat ja eben skizziert, wie so etwas aussehen könnte, Stichwort Québec. Bis es aber so weit ist, hat die Minderheit Anspruch auf Schutz durch die Zentralregierung. Dieser Schutz der Minderheit ist verhindert worden, indem die Mittel der Zentralregierung in Kiew, mit denen sie Schutz hätte gewähren können, in Kasernen und auch Polizeikasernen, blockiert wurden. Darum frage ich: Ist dieser Eingriff nicht so gravierend, dass man, wie unklar und problematisch die Begrifflichkeit auch sein mag, doch mit dem Begriff einer – quasi – Annexion operieren kann?

Gerd Hankel: Ich habe ebenfalls Bedenken, ob man Modelle aus dem deutschen Strafrecht auf Sachverhalte übertragen kann, die Millionen Menschen betreffen, wenngleich Kant gesagt hat, man solle Staaten ähnlich wie Individuen aus dem Naturzustand herausholen. Den Beitrag in der FAZ habe ich auch mit großem Interesse gelesen, weil er, wie ich zunächst fand, einen interessanten Kontrapunkt zur verbreiteten Hysterie setzte. Doch dann beschlich mich ein leises Unbehagen, als ich zum Beispiel las, dass es keine “Zwangswirkung der russischen Militärpräsenz” auf der Krim gegeben habe und [Einwurf
Reinhard Merkel: Doch – aber nicht auf die Bürger dort!] dass sie nur die “Möglichkeit des Stattfindens” eines Referendums absicherte; “auf den Ausgang nahm und hatte sie keinen Einfluss”.4 Dass die Zahlen des Menschenrechtsrats, denen zufolge es beim Referendum auf der Krim fünfzig bis sechzig Prozent Jastimmen gegeben habe bei einer Wahlbeteiligung von nur dreißig bis fünfzig Prozent, nicht stimmen, ist sicher richtig. Das steht auch in der FAZ vom 15. Mai in einem Artikel von Anne Peters, der Direktorin des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.5 Jetzt sprichst du von 93 Prozent Jastimmen. Da frage ich mich, wo die ganzen Krimtataren bleiben? Haben die auch zugestimmt? Man kennt solche Streits um Zahlen und dergleichen, ich bin da eher skeptisch. Ich bin auch skeptisch, wenn ich mir das gesamte Prozedere ansehe: Wiktor Janukowytsch, ein Oligarch schlimmster russischer Couleur – ich sage das als jemand, der russophil ist –, war ukrainischer Präsident. Er wird von heute auf morgen vertrieben; der geplante runde Tisch kommt ja nicht zustande. Als Janukowytsch fort ist, entsteht eine neue Situation, woraufhin man auf der Krim das Bedürfnis entdeckt, unabhängig zu sein. Die Chronologie ist hier von Bedeutung. Es ist richtig, es gibt die Sezession, wie es auch die Annexion gibt. Allerdings wäre es falsch zu sagen, das Völkerrecht sei neutral gegenüber der Sezession. Ein Staat wird ja gebildet aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Ein Staatsvolk ist also ein auf Dauer angelegter Verband von Menschen, über den der Staat seine Hoheitsgewalt hat. Veränderungen nach dem Motto “Heute hier, morgen dort”, um es salopp zu sagen, passen nicht zu dieser Definition des Staates als ein Gebilde, das auf Dauer funktionieren sollte, natürlich unter Berücksichtigung wechselseitiger Erwartungen, Rechte und Pflichten, die zu einem staatlichen Verband dazugehören. Auf der anderen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sodass es zu einem Spannungsverhältnis kommen kann. Dieses Recht ist mittlerweile auch gewohnheitsrechtlich anerkannt, das findet man in sehr vielen wichtigen völkerrechtlichen Deklarationen. Wichtig erscheint mir aber, dass 1970 eine UN-Resolution über freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten verabschiedet wurde, in der es zum einen unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch einmal heißt, dass alle Völker das Recht haben, “frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten”. Aber es heißt dort zum anderen auch: “Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten […] ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.”6

Wenn ich mich an Vorbereitung und Ablauf des Referendums erinnere, an bewaffnete Kräfte ohne Abzeichen, an die magische Zunahme russischer Staatsbürger auf der Krim kurz vor dem Referendum, dann gewinne ich die Überzeugung, dass dort gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, Artikel 2, Absatz 4, verstoßen worden ist. Dieses Gewaltverbot, das sagt der Internationale Gerichtshof auch in der Kosovo-Entscheidung, ist sehr, sehr weit gefasst, es darf also nicht nur nicht geschossen werden. Und wenn dieses Gewaltverbot, wie ich denke, übertreten wurde, dann ist das Ersuchen um Beitritt zur russischen Föderation sowie die russische Annahme dieses Ersuchens als völkerrechtlicher Vertrag nach Artikel 53 des Wiener Vertragsrechts nichtig. Ich fand den Kontrapunkt zur Debatte zunächst gut, aber angesichts dessen, was in weiteren Gebieten im Osten der Ukraine wie Donezk und Luhansk geschieht, scheint mir, das könnte doch eine etwas rigorosere Wiederholung dessen werden, was auf der Krim gelaufen ist. War das nicht eine Vorübung? Ich sage das, wie erwähnt, als jemand, der eigentlich große Sympathien für Russland hegt und auch als jemand, der mit der Kosovo-Entscheidung und der raschen Anerkennung des Kosovo durch westliche Staaten nicht einverstanden ist. Gerhard Schröder würde ich in diesem Zusammenhang antworten: Aus einem vergangenen Fehler sollte man keinen zweiten herleiten.

Reinhard Merkel: Über die Zahlen will ich jetzt nicht streiten. Es ist aber doch nicht zu leugnen, dass sich das, was Anne Peters da noch einmal zitiert, auf Gespräche mit zwanzig Personen beruft, während das Pew Center in Washington eine richtige Befragung von 1600 Leuten durchgeführt hat und zu ganz anderen Ergebnissen kommt. Zu den anderen Punkten, etwa der russischen “Gewaltanwendung”: Das mag man so sagen – im deutschen Strafrecht (und nicht nur dort) würden wir aber unterscheiden zwischen Drohung und Gewalt. Es handelte sich wohl um eine Drohgebärde. Dass die von Artikel 2, Absatz 4 der UN-Charta genauso verboten wird, ist richtig. Eine Intervention nennt man das im Völkerrecht. Ein Kriegsgrund nach Artikel 51 der UN-Charta war es aber jedenfalls nicht. Dafür war das Maß der allenfalls angewendeten Gewalt bei weitem zu gering. Nun sagt allerdings Gerd Hankel, dass mit der russischen Intervention alles Anschließende nichtig sei, die Erklärung des Beitritts, der Vertrag mit Russland usw. Daran habe ich erhebliche Zweifel, aber das kann für mein Argument dahingestellt bleiben. Denn auch das machte den Vorfall noch immer nicht zur Annexion. Dass alle anderen Staaten verpflichtet sind, den Beitritt jedenfalls vorderhand nicht anzuerkennen, betone ich selbst, und das werden die ohnehin nicht tun. Aber dass wegen der angeblichen Nichtigkeit des Beitrittsvertrags daraus eine Annexion würde, ist, wie Philosophen so was nennen, ein non sequitur. Das Völkerrecht – und darauf bezog sich dein zweiter Punkt, die anderen lasse ich dann aus dem Spiel – das Völkerrecht hat sehr wohl eine neutrale Haltung zur Sezession. Du hast die Resolution von 1970 zitiert, ich verweise auf die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs von 2010, also vierzig Jahre später, zur Kosovo-Abspaltung. Dezidiert sagt das Gericht: Ein Recht auf Sezession gibt es nicht, aber völkerrechtswidrig ist sie auch nicht. Das Völkerrecht verhält sich neutral zu dieser Frage; Sezessionskonflikte sind innerstaatliche Konflikte. Der Grund liegt auf der Hand. Wenn ein Bevölkerungsteil ein Plebiszit veranstaltet, wird er dadurch noch nicht zu einem Völkerrechtssubjekt, das jetzt das Völkerrecht brechen oder die territoriale Integrität des eigenen Zentralstaats völkerrechtswidrig antasten könnte.

Nach der ukrainischen Rechtsordnung und Verfassung ist das gewiss alles rechtswidrig, aber völkerrechtswidrig ist es nicht. Nun zum Begriff der Annexion. Was diese Frage angeht, hast du den Einwand von Jan Philipp Reemtsma aufgenommen, und wir heben uns diesen Punkt am besten für die weitere Diskussion auf, daher zunächst nur eine Anmerkung dazu: Du monierst, mein Beispiel des Nötigers und des Hausherrn mit der Tochter sei eine simplifizierende Übertragung eines fingierten Strafrechtsfalls auf die Ukraine, und das sei inadäquat, wenn es um Millionen Menschen gehe, unter denen Minderheiten besonders geschützte Rechte hätten. Mir ging es zunächst allein um die modellhafte Verdeutlichung von Zurechnungsbeziehungen, nicht um eine Lösung von Rechtsfragen. Hat Russland die Krim kassiert oder ist die Krim Russland beigetreten? Zuzurechnen wäre der Vorfall Russland, wenn es per Gewaltanwendung oder Drohung erzwungen hätte, dass die Krimbevölkerung gegen ihren Willen der russischen Föderation “beigetreten” wäre. Und ebendas, so behaupte ich nach wie vor, ist nicht der Fall. Nun hat Herr Reemtsma durchaus mit Recht gesagt, an dem Modell passe etwas nicht, da es Millionen Menschen einer nicht beitrittsgeneigten Minderheit auf der Krim gebe, die geschützte und von ihrem Zentralstaat zu schützende Rechte haben. Diese Leute hatten mindestens, da würde ich Ihnen zustimmen, einen Anspruch auf ein geordnetes Verfahren. Sie hatten und haben aber keinen Anspruch sub specie Völkerrecht, der Mehrheit zu sagen, diese dürfe keine Sezession anstreben, da die Minderheit dagegen und vom Zentralstaat geschützt sei, der verfassungsrechtliche Pflichten habe. Ein solches Recht, sagen Sie ganz richtig, möge es ja vielleicht nicht geben, wohl aber ein Recht auf ein geordnetes Verfahren. Dem würde ich zustimmen, würde aber erneut hinzufügen, dass auch die Verletzung dieses Rechts den Vorfall nicht zur Annexion macht. Dass er obskur, rechtswidrig und für andere Staaten nicht anerkennungsfähig ist, macht ihn noch nicht zur Annexion. Bei dieser Behauptung bleibe ich. Damit sind wir beim zentralen Punkt der Diskussion angelangt.

Lassen Sie mich auf die drei Formen der Sezession hinweisen, die das Völkerrecht jedenfalls anerkennt: erstens die antikoloniale Sezession; das ist weitgehend erledigt. Zweitens wird heute eine Art Notwehr-Sezession anerkannt. Wenn etwa ein Bevölkerungsteil, der in einer bestimmten Region lebt, mit schweren völkerrechtlichen Verbrechen überzogen wird, die der Zentralstaat begeht, dann haben die Betroffenen ein Recht zur Sezession. Das dritte Modell, und darüber diskutieren wir jetzt, ist das Selbstbestimmungsmodell. Natürlich sollte es da, mit Jan Philipp Reemtsma zu sprechen, ein bisschen geordneter zugehen als auf der Krim.

Jan Philipp Reemtsma: Nur ein kurzer Hinweis vor den nächsten drei Wortmeldungen: Die Frage, ob der Begriff Annexion anwendbar ist oder nicht, ist ja keine bloße Wortklauberei, sondern hat, wie auch in Merkels Artikel steht, gravierende Auswirkungen.Wenn etwas als Annexion deklariert wird, ist die militärische Notwehr und vor allen Dingen die militärische Nothilfe durch Dritte völkerrechtlich sanktioniert.

Klaas Voss: Mein Beitrag geht in eine ähnliche Richtung wie der von Gerd Hankel. Ich habe den Eindruck, Ihre ganze Argumentation, Herr Merkel, basiert zunächst auf der Prämisse, es habe eine Sezession stattgefunden, sei es auch eine unsaubere. Otto Luchterhandt argumentiert in seinem Artikel aber, dass überhaupt keine Sezession stattgefunden habe, und äußert schwerwiegende Bedenken gegen diese Annahme, etwa bezüglich des von Sicherheitskräften abgeriegelten Parlaments, das unter putschartigen Umständen in kurzen Abständen ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit mehrfach abgeänderte Beschlüsse verabschiedete. Das wirkt so, um bei Ihrem Beispiel aus dem Strafrecht zu bleiben, als ob die entführte Tochter vielleicht nur sagt, sie wolle mit ihrem Entführer mitgehen, weil sie Angst vor ihm hat. Das macht die Frage, wie man die unterschiedlichen Zahlen zu bewerten hat, die Sie genannt haben, natürlich um so schwieriger zu beantworten. Wenn man nun die Möglichkeit einräumte, das sei gar keine Sezession gewesen, dann wäre ja die Frage, ob es sich denn bei Russlands Verhalten um Annexion gehandelt hat, noch nicht vom Tisch. Denn dann hätte Russland eben doch einen Teil der Ukraine annektiert; auch das Militär war ja im Spiel.

Es ist eine Frage der Folgerichtigkeit: Das US-amerikanische Strafrecht kennt das Konzept der fruit of the poisonous tree. Übertragen auf unseren Kontext würde das bedeuten, dass wenn ein Teil der Ereigniskette kompromittiert ist, alle daraus folgenden Teile ebenfalls nichtig sind. Denn wenn keine Sezession stattgefunden hätte, wäre die Krim, wie gesagt, weiterhin ein Teil des ukrainischen Staatsterritoriums gewesen, und es würde sich um eine Annexion handeln.

Klaus Naumann: Die Diskussion dreht sich auch meinem Eindruck nach im Wesentlichen um zwei Punkte: erstens den unterstellten Mehrheitswillen, über den es vermutlich endlosen Streit geben wird. Ich will dazu gar nicht Stellung beziehen und mich auf diese oder jene Zahl festlegen, ich konstatiere vielmehr zunächst die Faktizität dieses Streits. Eben weil solche Fragen umstritten sind, bedarf es des Rechtsinstituts geordneter Verfahren. Der logische Schluss aus der Ungewissheit der Materie ist es, großes Gewicht auf geordnete Verfahren zu legen.

Wenn Sie, Herr Merkel, nun sagen, die Präsenz russischer Truppen sei eine Intervention, beseitige aber die Grundlage des Votums nicht, dann frage ich mich, ob nicht das russische Vorgehen dazu beigetragen hat, dass dieses Referendum nicht nachvollziehbar unabhängig gewesen ist. Zugänglichkeit, Wählerlisten, Übersicht über die Beteiligung, Formulierung der Fragestellung, Autorisierung der Fragestellenden, Geheimnis, Geheimwahlvorbehalt, durchsichtige Boxen und so weiter – ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Wahl den formalen Kriterien eines geordneten Verfahrens genügt. Ich will offenlassen, ob das indirektem russischem Druck oder Verfahrensproblemen, die die Akteure selber produziert haben, zuzuschreiben ist.

Der zweite Punkt, Herr Reemtsma hatte das in seinem Schreiben auch schon angesprochen, betrifft die Rechtsgarantien der territorialen Integrität durch das berühmte Budapester Memorandum von 1994. Obwohl auch dieses Memorandum natürlich nicht die Berechtigung eines Sezessionsbegehrens annulliert, stellt sich doch die Frage nach der Mitwirkung der Garantiemächte. Wer waren die Garantiemächte des Budapester Memorandums und wie hätten sie hier auftreten sollen oder müssen?

Bernd Greiner: Bevor auch ich noch einmal auf die juristischen Fragen zu sprechen komme, möchte ich zwei oder drei Bemerkungen zum politischen Kontext machen. Es ist mir sehr sympathisch, wenn jemand in eine Diskussion in der Absicht einsteigt, Emotionen zu dämpfen und zu verhindern, dass Dinge argumentativ aus dem Lot geraten, die eine merkwürdige Eigendynamik entfalten können. Andererseits muss man natürlich aufpassen, dass man durch die Art seiner Intervention keine Potemkin’schen Dörfer aufbaut. Es mag ja sein, dass am Speersort ein paar spätpubertierende Redakteure sitzen, die jetzt auf den Tisch hauen und sich in kriegerischen Sandkastenspielen gefallen. Grosso modo ist in der bundesdeutschen Öffentlichkeit aber doch eine bemerkenswerte Nüchternheit in dieser Frage zu beobachten.

Ich finde außerdem, Sie haben in Ihrem Artikel die Politik Putins, wohlgemerkt nicht die rechtliche Seite seines Handelns, sondern seine Politik, ein wenig weichgezeichnet, insbesondere bei der Frage, ob Russland dieses wie auch immer zu bewertende Abstimmungsverhalten auf der Krim zuzurechnen sei. Selbstverständlich ist das Russland in hohem Maße zuzurechnen. Es ist nicht Ausdruck einer indigenen Bewegung, wenn Bewohner der Krim nun der Meinung sind, sie müssten sich für Russland aussprechen. Nein, es ist seit mehreren Jahren zu beobachten – sei es zur Sicherung von Einflusszonen, sei es, um eine dem Westen unterstellte Offensive zurückzuweisen, die Ukraine in die NATO zu holen –, dass Moskau ganz offen einen stärkeren Einfluss auf Regionen reklamiert, die ehemals zur Sowjetunion gehört haben. Ob Putin das nun aus einer Position der Stärke oder der Schwäche heraus tut, wofür viel mehr spricht, er hat auf eine günstige Gelegenheit, ein window of opportunity gewartet, und als sich die Gelegenheit bot, hat er sich über sehr hohe juristische Hürden hemdsärmelig hinweggesetzt. Erstens die Budapester Erklärung: Die Ukraine verzichtete 1994 auf ihre Atomwaffen, im Gegenzug wurde ihr von der Sowjetunion, Großbritannien und den USA ihre territoriale Integrität garantiert. Zweitens hat er sich über die Verfassung der Ukraine hinweggesetzt. In dieser Verfassung, Luchterhandt hat das bemerkt, wird das Québec- Verfahren erwähnt. Ein Recht auf Sezession, beispielsweise der Krim, setzt ein gesamtukrainisches Referendum voraus, also nicht nur eine Abstimmung auf der Krim selbst.

Reinhard Merkel: Ich will zunächst einen Punkt aufgreifen, den Herr Naumann und Herr Greiner berührt haben. Das Budapester Memorandum ist ein völkerrechtlicher Vertrag, und solche Verträge werden jeden Tag gebrochen, auch von Deutschland übrigens oder von Amerika. Ich will das gewiss nicht herunterspielen, aber doch auf ein Problem der öffentlichen Wahrnehmung hinweisen. Für viele Laien hat der Ausdruck Völkerrecht etwas Ehrfurchtgebietendes: Wird innerstaatliches Recht verletzt, so ist das schlimm genug; wird aber das Völkerrecht verletzt, so ist das ganz und gar fürchterlich. Das ist aber völlig verkehrt, das Gegenteil ist der Fall. Das Völkerrecht wird jeden Tag irgendwo gebrochen, von großen wie von kleineren Mächten; das ist nachgerade eine der Formen seiner Weiterentwicklung. Das Budapester Memorandumhaben die Russen eindeutig verletzt, und zwar selbst dann, wenn man akzeptiert, dass das keine Annexion war. Die Anerkennung tangiert offensichtlich die territoriale Souveränität der Ukraine und verstößt darum gegen die vertragliche Verpflichtung. Russland hätte den Sezedierenden auf der Krim sagen müssen: “Bei uns kommt ihr nicht rein.” Die vorschnelle Anerkennung der Krim war völkerrechtswidrig. Doch einmal mehr: Das macht die Sache nicht zur Annexion. Sie sagten, Herr Greiner, meine Darstellung lege über Putins politische Silhouette einen unangemessenen Weichzeichner. Ich habe keine Sympathien für Putins Politik, um ehrlich zu sein, auch was innerrussische Angelegenheiten betrifft. Andererseits ist es nicht ganz falsch, was Klaus von Dohnanyi in der FAZ geschrieben hat. Entwicklungen in einem solchen Riesenland brauchen ihre Zeit, es dauert lange, bis sich hier demokratische Verhältnisse herausbilden. Ist Putin erst einmal weg, wird das vielleicht schneller gehen. Ich will gewiss nicht Herrn Putins Handeln weichzeichnen, aber eine Äußerung von Ihnen will ich aufgreifen. Sie sagten: “Selbstverständlich ist das Russland zuzurechnen.” Ich insistiere dagegen: Russland ist die Gewaltandrohung und deshalb auch die Ermöglichung des Wechsels der Krimbewohner zu Russland zuzurechnen. Aber dass Russland diesen Wechsel kausal ermöglicht hat, heißt nicht, dass es ihn selber vollzogen hätte. Der Nötiger meines Beispiels von vorhin, der ins Nachbarhaus eindringt und dem Hausherrn eine Pistole an den Kopf hält, wird ersichtlich kausal dafür, dass die Tochter gehen kann, und das ist ihm selbstverständlich zuzurechnen. Aber er entführt sie trotzdem nicht, denn sie geht, weil sie gehen will.

Damit komme ich zu einem weiteren Einwand, der vorgebracht wurde. Wenn, wie ich es voraussetze, eine große Mehrheit der Krimbewohner den Wechsel wollte, bleibt immer noch das Minderheitenproblem, nämlich der Schutzanspruch der Unwilligen, der mindestens ein geordnetes Verfahren erzwingen sollte. Was aber bedeutet es, wenn dieses Recht auf ein geordnetes Verfahren nicht respektiert wird? Ist dann alles null und nichtig? Vielleicht. Fruit of the poisonous tree ist schon im Strafverfahren kein sauber durchgehaltenes Prinzip – und bei uns schon gar nicht. Rechtswidrig gewonnene Beweismittel können in Deutschland weitgehend und auch in den USA in gewissen Grenzen verwertet werden. Dennoch, das konzediere ich Ihnen, genügte das Referendum keinerlei rechtlichen Kriterien. Am tatsächlichen Mehrheitswillen ändert das aber nichts.

Auf drei Dinge möchte ich noch hinweisen: Erstens steht nach wie vor die Frage im Raum, ob das Referendum und damit auch der Beitrittsvertrag zur russischen Föderation als nichtig betrachtet werden sollte. Ich meine, nein. Zweitens leuchtet Herrn Greiner und Herrn Voß nicht ein, dass die militärische Drohung auf der Krim keinen Einfluss auf das Ergebnis hatte. Dass die Tochter in meinem Modellfall aus Angst gesagt haben könnte, sie gehe mit, mag man ja für möglich erklären. Auf die Krim trifft es aber gewiss nicht zu. Davon hängt mein Argument in der Tat ab.

Jan Philipp Reemtsma: Und das ist letztlich eine Frage der politischen Bewertung.

Reinhard Merkel: Und der empirischen Faktizität.

Bernd Greiner: Ein Panzer steht vor der Tür und ich bin nicht beeindruckt?

Reinhard Merkel: Die Panzer standen nicht vor den Wahllokalen, sondern vor den Kasernen der ukrainischen Armee, und das ist ein riesiger Unterschied. Die ukrainischen Soldaten sind bedroht worden, nicht die Referendumsteilnehmer auf der Krim.

Jan Philipp Reemtsma: Und diese Faktizität ist tatsächlich eine Bewertung.

Reinhard Merkel: Das können wir ja jetzt hier nicht verbindlich auflösen. Ich möchte aber noch meinen dritten Punkt nennen. Ich bestreite, dass die Drohung der Russen irgendeinen relevanten Einfluss auf den Ausgang des Referendums hatte, und erinnere daran, dass die Krim bereits 1994 ein erstes Referendum bezüglich einer Abspaltung von der Ukraine durchgeführt hat, weil damals die ukrainische Verfassung geändert wurde, was die Autonomierechte der Krim einschränkte. Dieses Referendum ergab eine deutliche Mehrheit für die Unabhängigkeit von der Ukraine, schon 1994. Daraufhin sind ukrainische Panzer aufgefahren und haben das Unternehmen vereitelt. Diese Kenntnis verdanke ich Mikhailo Minakov, einem politischen Philosophen aus Kiew, derzeit wie ich Fellow am Wissenschaftskolleg in Greifswald. Mikhailo ist ein scharfer, ganz intransigenter Putin-Kritiker. Er hat in einem Gespräch mir gegenüber darauf bestanden, dass Putin nicht bloß ein autoritärer Regent sei, sondern ein Diktator – nun, meinetwegen. Ihn habe ich gefragt: Angenommen, das Referendum auf der Krim hätte den höchsten Standards des Rechts genügt, wie sie etwa der Supreme Court in Kanada formuliert hat, mit Wahlkampf, mit internationalen Beobachtern, mit dem Austausch von Argumenten und einer intensiven öffentlichen Diskussion, wie wäre es ausgegangen? Er meinte, das Referendum hätte in diesem Falle ein ganz ähnliches Resultat erbracht, vielleicht ein bisschen weniger Zustimmung. Seiner Ansicht nach wollte sich die Krim schon immer von Kiew lossagen. Die Ukraine sei durch und durch von Korruption geprägt, und eine korrupte Regierung nach der anderen habe die Krimbewohner erstens vernachlässigt und zweitens die unterschiedlichen Ethnien dort gegeneinander ausgespielt.

Niemand dort sei mit der Kiewer Regierung zufrieden gewesen, auch die Tataren nicht. Die Krim wollte schon lange weg von der Ukraine, ein sauberes Verfahren hätte nichts anderes erbracht. Die tatsächliche Unsauberkeit des Verfahrens bringt freilich mit sich, dass andere Staaten sein Ergebnis nicht anerkennen sollten. Dennoch war es keine Annexion. Damit komme ich noch einmal auf Herrn Reemtsmas Argument zurück. Es stimmt, dass die Minderheitenrechte auf der Krim ignoriert worden sind. Gleichwohl hat die Minderheit natürlich nicht das Recht, eine Sezession zu verhindern. Jede Sezession geht über Minderheiten hinweg; eine Abspaltung, mit der hundert Prozent der Bewohner des abtrünnigen Gebiets einverstanden gewesen wären, gab es noch nie und wird es wohl nie geben. Dass Mehrheiten sich in dieser Frage gegen Minderheiten durchsetzen können, ist im Völkerrecht unumstritten.

Jan Philipp Reemtsma: Vielleicht nur eine kurze Bemerkung: Kausal versus gemacht. Nun ja.

Reinhard Merkel: Kausal versus Zurechnung! Der Nötiger in meinem Beispiel ist kausal für die Flucht der Tochter. Aber er hat sie nicht entführt, hat ihre Flucht nicht selbst “gemacht”. Die Tochter wollte gehen. Das ist der Unterschied. Man kann ihm nicht das Handeln jemandes anderen, der Tochter, zurechnen. Nur wenn man mit dem Handeln der Krimbewohner eben das tun und es Moskau zurechnen könnte, wäre es eine Annexion gewesen. So hat das Stalin 1940 mit den baltischen Ländern gemacht. Dort wurde eine inszenierte “Abstimmung” durchgeführt, dann “baten” die Balten unter Zwang Moskau um Aufnahme, und Stalin gewährte sie grosszügig. Das ist eine maskierte Annexion gewesen. Auf der Krim waren lediglich unsaubere Verfahrenselemente der vorhin skizzierten Art im Spiel. Wie Herr Reemtsma vorhin gesagt hat, ist das kein müssiger Streit um Begriffe oder Etiketten; es ist ein wichtiger Streit um normative Konsequenzen. Das Völkerrecht, so meine über den Fall der Krim hinausreichende These, bedient sich derzeit viel zu grober Kategorien von Sezession und Annexion. Die sollten in der Diskussion jetzt weiterentwickelt und genauer differenziert werden.

Nikola Tietze: Meine Frage zielt noch einmal auf die Zurechenbarkeit der Handlungen. Muss man nicht auch in die Überlegung einbeziehen, aus welcher Perspektive heraus man die Zurechnung vornimmt? Sie haben ausgehend vom Völkerrecht argumentiert, aber wenn ich den Konflikt vor dem Hintergrund der ukrainischen Verfassung betrachte, komme ich natürlich zu anderen Bewertungen, was die Zurechnung angeht. Wer entscheidet, welche Perspektive den Ausschlag gibt? Lässt sich das juristisch begründen, oder bleibt das eine politische Entscheidung?

Gerd Hankel: Das Völkerrecht ist in der Tat zu grob, um Fälle dieser Art klar zu erfassen. Man könnte ja sagen, der Einfluss Russlands ist auf der Krim gewissermaßen vom Volkswillen überholt worden. So kam es dann zu diesem Phänomen der Sezession, die hinzunehmen oder nicht hinzunehmen ist. Bei Ipsen heißt es in der letzten Auflage vor dem Kosovo-Urteil: “Das Völkerrecht ist sezessionsfeindlich.”7 Im Urteil des Internationalen Gerichtshofs zum Kosovo geht es dann um die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung vor dem Hintergrund der UN-Resolution, doch das Gericht äußert sich nicht zum Sezessionsrecht. In den entsprechenden Passagen (Nr. 82f.) des Urteils heißt es, es gebe ein solches Recht unter den drei Voraussetzungen, die du vorhin genannt hast. Damit bin ich wieder beim Gewaltverbot, das im Gerichtsurteil ebenfalls eine Rolle spielt und das man demnach sehr, sehr weit zu fassen habe. Wenn ich das als Maßstab anlege, dann festigt sich meine Einschätzung, dass der Vorfall auf der Krim keine Sezession war und auch nicht irgendein Zwischending, sondern eher auf eine Annexion hinausläuft.

Claudia Weber: Ich kann meine Frage ganz einfach pointieren: Who cares? Sie haben zwei Aspekte genannt, die Sie für eindeutig völkerrechtswidrig halten, die Intervention Russlands und die vorschnelle Anerkennung der Unabhängigkeit der Krim. Aber was folgt daraus? Welche politischen und juristischen Konsequenzen bieten sich an? Und wer kümmert sich darum? Dienen diese Argumente allein einer Empörungsrhetorik? Hinzu kommt ja noch, dass die Abstimmung nicht den Standards eines geordneten Verfahrens entsprechend durchgeführt wurde. Meine Frage ist schlicht: Was folgt daraus?

Ulrike Jureit: In dieser Diskussion wie auch in der Presse taucht immer wieder die Argumentationsfigur auf, die Abtrennung der Krim von der Ukraine und ihr Anschluss an Russland sei rechtswidrig, vertragswidrig, ein unsauberes Verfahren, und die Rechtswidrigkeit sei aufgrund der Gewaltandrohung so eklatant, dass daraus doch völkerrechtlich etwas folgen müsse. Und sei es, dass man den Fall als Annexion bezeichnet, damit er völkerrechtliche Konsequenzen haben muss. Meine Frage zielt auf diese Verbindung von schwerem Rechtsverstoß und völkerrechtlichen Konsequenzen. Ich habe Sie so verstanden, dass die Schwere des Rechtsverstoßes nicht zwangsläufig dazu führt, dass etwas völkerrechtlich relevant ist und als völkerrechtswidrig zu bezeichnen wäre.

Reinhard Merkel: Nein, ganz so sage ich das nicht. Die Ablösung der Krim war rechtswidrig, nicht völkerrechtswidrig. Wohl hat Russland auf der Krim völkerrechtswidrig gehandelt, aber dass die Krim Russland beigetreten ist, hat nicht das Völkerrecht, sondern ukrainisches Recht verletzt, das Russland nicht bindet. Seitens der Krimbewohner konnte der Ukraine gar nichts Völkerrechtswidriges geschehen. Nun haben Sie gesagt, wegen der involvierten Gewaltdrohung sei der Vorgang so gravierend, dass er gravierende völkerrechtliche Konsequenzen haben sollte. Die hat er auch: Russland hat völkerrechtswidrig gehandelt, die anderen Staaten haben das nicht anzuerkennen, das ist die völkerrechtliche Konsequenz. Wenn allerdings eine russische Gewaltanwendung zum Raub eines fremden staatlichen Territoriums vorläge, so wäre die völkerrechtliche Konsequenz die Legitimität eines Militärschlags. Das wäre aber im Fall der Krim absolut unzulässig. Die Völkerrechtswidrigkeit dessen, was Russland dort getan hat, wiegt, verglichen etwa mit der amerikanischen Intervention im Irak, federleicht. Ich will hier nichts aufrechnen, sondern nur erklären, was schwerwiegende völkerrechtliche Verstöße sind und welche legitimen Reaktionen hinterher zulässig sind. Ein Krieg gegen Russland ist also nicht nur politisch und militärisch unmöglich, es gäbe auch keinerlei Legitimation dafür. Ein Militärschlag käme nur infrage, wenn Russland gewaltsam Land geraubt hätte und den Ukrainern militärisch geholfen werden müsste. Die Ukraine hätte übrigens nach ihrer eigenen Rechtsordnung durchaus gewaltsam verhindern dürfen – natürlich nicht können, aber dürfen –, dass Russland das Referendum und die Erklärung auf diese Weise geschehen ließ.

“Sezession oder nicht – who cares?“, fragen Sie, Frau Weber, und welche Folgen das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands haben solle. Meine Antwort auf diese Fragen schließt an die vorige an. Das hat, wie gesagt, völkerrechtliche Konsequenzen, normative. Andere Staaten haben den Beitritt nicht anzuerkennen und dürfen in einem bescheidenen Rahmen auch Sanktionen beschließen. Ich finde die Sanktionspolitik der EU derzeit immer noch beschämend dilettantisch, wobei die USA diese Sanktionspolitik natürlich sehr unbefangen dirigieren, weil sie nicht betroffen sind. Aber das sind politische Fragen, die ich gar nicht erörtern will. Festzuhalten ist, dass die Sanktionen völkerrechtlich legitimiert sind.

Deiner Aussage, Gerd, das Völkerrecht sei jedenfalls generell sezessionsfeindlich, würde ich erst einmal durchaus zustimmen. Die Staaten sind eben kein Club von Selbstmördern. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs ist ja intern durch die beiden Sondervoten scharf kritisiert worden, und ich bin selbst überzeugt davon, dass es sachlich falsch war. Der Kosovo hat sich rechtswidrig abgespalten. Aber man muss betonen, dass es, falls sich die Kosovo-Albaner hinterher Albanien angeschlossen hätten, dennoch keine Annexion seitens Albaniens gewesen wäre. Natürlich liegt der Unterschied zur Krim auf der Hand: Albanien hat im Kosovo nicht mit militärischen Mitteln Zustände herbeigeführt, die eine Sezession ermöglichten, während Russland auf der Krim genau das getan hat. Gleichwohl hat auch im Kosovo eine fremde Streitmacht, die der UNO, durch ihre Präsenz verhindert, dass Serbien die Abspaltung blockieren konnte. Den Unterschied zur Krim sehe ich selbstverständlich. Er betrifft aber die hier diskutierten grundsätzlichen Zurechnungsfragen nicht.

Zu konzedieren, dass das Völkerrecht prinzipiell sezessionsfeindlich ist, unterstreicht doch die Bedeutung dessen, was der IGH in diesen Abschnitten 82ff. seines Gutachtens zur legitimen Sezession gesagt hat.

Gerd Hankel: Einverstanden.

Reinhard Merkel: Und das sage ich in meinem Artikel. Die Sezession war nach ukrainischem Recht rechtswidrig, und was Russland getan hat, um sie zu ermöglichen, war völkerrechtswidrig. Soweit sind wir uns inzwischen einig. Fürdich stellt der Vorgang, wie du sagst, unterm Strich eher eine Annexion dar, für mich eher eine unsaubere Sezession. Jetzt wären die Völkerrechtler aufgerufen, die Frage zu diskutieren und die vielleicht allzu groben Kategorien Sezession und Annexion weiter zu differenzieren, auch im Hinblick auf die normativen Konsequenzen. Zuletzt noch zur Bedeutung der Perspektive hinsichtlich der Zurechnungsfrage. Es ist gesagt worden, ich hätte die Zurechnungsfrage aus der Perspektive des Völkerrechts diskutiert, was die Frage nach sich zog, wie sich die Sache aus der Perspektive der ukrainischen Verfassung darstelle. Mir scheint hier keine der beiden Perspektiven adäquat. Ich betrachte das primär unter dem Gesichtspunkt fundamentaler rechtlicher Prinzipien und begreife die angedeuteten Zurechnungsfragen durchaus auch als grundlegende ethische Fragen. Dass jemand Gewalt anwendet, um einem anderen eine Handlung zu ermöglichen, kann unter bestimmten Voraussetzungen dazu führen, dass die Handlung des anderen dem Gewaltanwender zuzurechnen ist. Das Strafrecht kennt für so etwas den Begriff der mittelbaren Täterschaft. Russland hat aber nicht in mittelbarer Täterschaft die Krim beschlagnahmt, weil deren Bewohner sich selbst für den Staatenwechsel entschieden haben. Das sollten meine Modelle mit dem Hausherrn und der Tochter verdeutlichen. Dafür spielen weder die Perspektive des Völkerrechts noch die der ukrainischen Rechtsordnung eine entscheidende Rolle, sondern fundamentale Prinzipien der Zurechnung.

Gerd Hankel: Deine Bemerkung, die Begriffe seien zu grob, um zu erfassen, was auf der Krim geschehen ist, ordne ich in eine allgemeine Entwicklung des Völkerrechts ein, das sich ja von einem staatszentrierten Völkerrecht weg und hin zu einem wertebezogenen, gemeinschaftsbezogenen Völkerrecht entwickelt. Das Individuum rückt mehr und mehr in eine Art Völkerrechtssubjektivität hinein. Mit diesem Grundverständnis könnte ich angesichts der Krimbevölkerung, die sich jetzt loslösen möchte, argumentieren, dass die Begriffe eben ausschließlich auf das alte, klassische Völkerrecht zugeschnitten sind. Die Konzepte der Sezession und Annexion müssten tatsächlich überarbeitet werden und um Begriffe, die die Belange des Individuums stärker berücksichtigen, erweitert werden.

Reinhard Merkel: Stellen wir uns einmal vor, alles wäre genau so gelaufen, wie es gelaufen ist auf der Krim, nur der Beitritt zur russischen Föderation wäre nicht erfolgt. Die Krim wäre jetzt ein de facto unabhängiger Staat. Vorhin wurde gefragt, ob die Krim, wenn die Sezession null und nichtig wäre, nicht nach wie vor Teil der Ukraine wäre. Nein, die Krim ist nicht mehr Teil der Ukraine; das wird gewährleistet von dem sogenannten Effektivitätsprinzip des Völkerrechts. Mit Blick darauf ist übrigens unklar, ob die beiden ostukrainischen Provinzen derzeit noch zur Ukraine gehören. De lege tun sie das, doch die Ukraine hat die Kontrolle über sie verloren. Das ist ein völkerrechtlich diffuser Zustand. Stellen wir uns also vor, die Krim wäre jetzt ein unabhängiger Staat, den andere Länder nicht anerkennen. Vor über fünfzig Jahren gab es übrigens einen interessanten Streit unter Völkerrechtlern, in dem Hans Kelsen die Ansicht vertrat, die Anerkennung durch andere Staaten sei konstitutiv für die Staatlichkeit, ohne diese Anerkennung sei ein regionales Gebilde kein Staat. Die herrschende Meinung im Völkerrecht besagt jedoch, dass das anerkannt wird, was besteht und schon zuvor bestand. Ein Staat, heißt das, kann nur anerkannt werden, wenn er vorher die diversen Funktionen der Staatlichkeit de facto konstituiert hat und gewährleistet.

Zurück zu meinem Gedankenspiel: Wäre die Krim ein eigener Staat und würde in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren plötzlich Russland beitreten, würde dann die Medienöffentlichkeit immer noch aufschreien, es handle sich um eine Annexion? Oder wäre der rechtswidrige Vorlauf inzwischen verjährt? Zwischen Abspaltung und Beitritt der Krim lagen drei Tage. Was, wenn es drei Jahre gewesen wären, zehn Jahre, dreißig Jahre? Unter Verweis auf die Vorgeschichte dann noch von Annexion zu sprechen, wäre ersichtlich absurd. Die drei Tage haben in unserer Öffentlichkeit niemanden bewogen, den Begriff der Annexion für zweifelhaft zu halten. Ich vermute, schon drei Jahre hätten das dubioser erscheinen lassen.

Bernd Greiner: Das Ganze steht und fällt natürlich mit der Geordnetheit der Verfahren, über die wir ganz zu Beginn gesprochen haben. Auf sie zu verzichten, zumal in dieser historischen Region, öffnet eine can of worms. Nur geordnete Verfahren können die Animositäten und Emotionen, die dort noch vorhanden sind, dämpfen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nachdem aber in diesem Fall das Prinzip des geordneten Verfahrens infrage gestellt worden ist, könnte das anderswo nachgeahmt werden, was zu einem politischen Pulverfass ohnegleichen werden kann.

Reinhard Merkel: Der Westen hat aber auf der Stelle den Kosovo anerkannt, obwohl es dort überhaupt kein Verfahren gab, geschweige denn ein geordnetes. Dann immer noch lieber ein unsauberes, das ein halbwegs realistisches Ergebnis liefert, als gar keines.

Bernd Greiner: Ich verteidige doch nicht das westliche Vorgehen im Kosovo, genauso wenig, wie Sie Putin verteidigen. Dass es vor zehn Jahren kein geordnetes Verfahren gab, kann doch kein Grund sein, das jetzt nicht wieder einzuklagen.

Reinhard Merkel: Das ist richtig. Herr Reemtsma hat am Anfang ja auch gesagt, man solle keine negativen Präzedenzfälle anerkennen, wiewohl das im Völkerrecht leider manchmal so ist. Und der IGH hat die Loslösung des Kosovo nun mal bestätigt.

Ulrike Jureit: Eine kurze Bemerkung im Anschluss an das, was Gerd gesagt hat: Wenn tatsächlich die Herausforderung lautet, über das Spannungsfeld zwischen Annexion und Sezession völkerrechtlich neu nachzudenken, würde man dann heute auch dem Minderheitenschutz eine andere Relevanz zugestehen, auch unter dem Aspekt der Individualisierung im Verhältnis zur völkerrechtlichen Ebene? Müsste man das nicht anders berücksichtigen, als es die klassische völkerrechtliche Ordnung noch vorsieht?

Reinhard Merkel: Richtig. Zwei Aspekte hat der Supreme Court in Kanada dazu formuliert, indem er erstens den Minderheitenschutz besonders unterstreicht und deshalb eine qualifizierte Mehrheit für die Abspaltung vorschreibt, also eine deutlich über fünfzig Prozent hinausreichende Zustimmung verlangt. Zweitens muss der sezedierende Teil den Minderheiten in seinem Gebiet für die Zukunft Schutz und möglichst weitgehende Autonomie garantieren.

Jan Philipp Reemtsma: Das fehlt in diesem Falle.

Reinhard Merkel: Es fehlt aber auch auf Seiten der ukrainischen Zentralregierung die Bereitschaft, über eine Abspaltung zu verhandeln. Stattdessen haben sie mit Panzern gedroht, wie sie sie in der Ostukraine ja nun massiv einsetzen. Eine letzte politische Bemerkung in diesem Zusammenhang: Ich halte den Gedanken nicht für abwegig, dass die russische Militärintervention auf der Krim ein Blutvergießen verhindert haben könnte. Kiew hätte die Abspaltung selbstverständlich nicht einfach hingenommen, und in der Ostukraine können wir das an dem aktuellen Blutvergießen ja leider ziemlich genau studieren. Auf der Krim hätte es möglicherweise noch schlimmer kommen können. Denn in der Ostukraine gibt es schließlich viel weniger Befürworter eines Anschlusses an Russland als auf der Krim. Wenn die ukrainische Armee auf der Krim Panzer aufgefahren hätte, wäre der Widerstand der dortigen Bevölkerung vermutlich noch militanter gewesen als in der Ostukraine. Hinsichtlich der Legitimitätsfrage muss man auch bedenken, dass die Krim zweihundert Jahre lang zu Russland gehört hat und nur dank einer Schnapslaune von Chruschtschow, der ja Ukrainer war, der Ukraine “geschenkt” wurde – aber wohlgemerkt innerhalb der Sowjetunion verschoben wurde; er wollte sie natürlich nicht einem anderen Staat zuschlagen.

Ich stimme all jenen zu, die die geordneten Verfahren als das substanzielle Legitimationselement bezeichnet haben. Auch dem historischen Vorgang des Verschiebens der Krim zur Ukraine hätte das ehedem ganz gut getan. Und heute sollte man sich in der Tat nicht zu schnell zu einer offiziellen Geste bereit finden, die einem Achselzucken angesichts der Umstände gleichkäme, unter denen jener historische Wechsel nun sozusagen rückabgewickelt wurde.

Jan Philipp Reemtsma: Damit diese geordneten Verfahren als Gewalthemmung funktionieren, darf man sich nicht abgewöhnen, in diesen, auch juristischen, Kategorien zu denken. Noch sollte man in eine weltpolitische Hemdsärmeligkeit verfallen, wie ich sie bei Gerhard Schröder in der zitierten Äußerung ebenso gesehen habe wie damals, als Deutschland sein Nichtmitmachen im Irakkrieg nicht begründete, sondern es als pazifistisches Statement verkaufte. Die Regierung hätte in erster Linie das Argument vorbringen müssen, dass unsere Verfassung und auch das NATO-Statut ein Mittun nicht zugelassen hätten. In dieser rot-grünen Regierung ließ sich eine fundamentale Schwäche im rechtlichen Denken konstatieren, die sich heute noch in den Kommentaren des ehemaligen Bundeskanzlers wiederfindet.

Etwas anderes: Ich habe mich immer gefragt, welche Vorläufe solche Ereignisse in den Entscheidungszentralen wie etwa im Kreml haben. Shakespeares Heinrich V. beginnt mit zwei Gutachtern, die darüber debattieren, auf welcher Rechtsgrundlage der Einmarsch Englands in Frankreich stattfinden kann. Sie graben alte Erbfolgerechte aus und diskutieren, ob die hier greifen oder nicht. Beide sind sich im Klaren darüber, dass sie eine politisch gefällte Entscheidung nur noch normativ unterfüttern müssen, aber beide sind fleißig. Und mit einem gewissen süffisanten Grinsen präsentieren sie ihre Ergebnisse dem König, der sich stoisch alles anhört und sinngemäß sagt: “Aha, nun weiß ich, ich darf.” Ich frage mich, ob es einen ähnlichen Vorlauf im Kreml gegeben hat und da einer argumentiert hat: Wenn wir es so und so inszenieren, dann dürfte der Begriff der Annexion nicht anwendbar sein. Doch selbst wenn dem so war, desavouiert das diese Diskussion nicht. Die Heuchelei, sagt man, ist das Kompliment des Lasters an die Tugend. Vielen Dank.

Reinhard Merkel, "Kühle Ironie der Geschichte", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. April 2014, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-krim-unddas- voelkerrecht-kuehle-ironie-der-geschichte-12884464.html. Vgl. auch Otto Luchterhandt, "Putin verstößt gegen russische Verfassung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 2014, online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/annexion-der-krim-putinverstoesst-gegen-russische-verfassung-12899291-p2.html [18.6.2014].

Vgl. Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten, "Probleme der Krimbewohner", in russischer Sprache online unter: http://www.president-sovet.ru/structure/gruppa_po_ migratsionnoy_politike/materialy/problemy_zhiteley_kryma.php [2.6.2014].

Pew Research Center, "Despite Concerns about Governance, Ukrainians Want to Remain One Country", 8. Mai 2014, online unter: http://www.pewglobal.org/2014/05/08/despiteconcerns- about-governance-ukrainians-want-to-remain-one-country/[2.6.2014].

Merkel, "Kühle Ironie".

Anne Peters, "Grenzwertig", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Mai 2014.

Resolution 2625 der UN-Generalversammlung, 24.10.2979, 5. Grundsatz, 7. Absatz, online unter: http://www.un.org/depts/german/gv-early/ar2625.pdf [2.6.2014].

Knut Ipsen, Völkerrecht, München 2004, S. 369.

Published 3 September 2014
Original in German
First published by Mittelweg 36 4/2014

Contributed by Mittelweg 36 © Jan Philipp Reemtsma, Reinhard Merkel / Mittelweg 36 / Eurozine

PDF/PRINT

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Related Articles

Fortepan / Semmelweis Egyetem Levéltára

Expectations, standards, and requirements in higher education vary from country to country. In the third episode of the Knowledgeable Youth podcast Ukrainian students embark on the complex subject of tertiary education.

Cover for: Press freedom amid martial law

Ukrainian journalists, acting as responsible citizens, prioritize caution over breaking news in support of the war effort. But when does vigilance become self-censorship? And how far is this tendency being manipulated for military gain? Independent media outlets, making their voices heard, defy top-down decision-making.

Discussion