Von der Kohlenstoffinsolvenz zur Klimadividende
Wie man die Zwei-Grad-Leitplanke einhalten und dennoch gewinnen kann
Beim Gipfeltreffen der G8-Staaten in L’Aquila im Juli 2009 ist etwas geschehen, was man womöglich einmal eine historische Zäsur nennen wird: Die Staatenlenker, allen voran Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Obama, aber eben auch die Führungen Chinas und Indiens, haben sich das “Zwei-Grad-Ziel” auf die Fahnen geschrieben. Das bedeutet: Sie wollen die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius über dem Niveau von 1880 begrenzen, wie es wissenschaftliche Gremien seit langem dringend empfehlen und der UN-Weltklimarat 2007 zur Leitlinie erhoben hat.
Wenn die Declaration of the Leaders of the Major Economies Forum on Energy and Climate mehr als ein Lippenbekenntnis ist, dann wird sie Konsequenzen haben, deren Radikalität man in den Abruzzen wohl noch nicht ganz überblickt hat. Um die globale Erwärmung nämlich unter 2°C zu halten, dürfen global bis 2050 nur noch rund 200 Mrd. Tonnen Kohlenstoff (rund 700 Gigatonnen CO2) ausgestoßen werden. Beim derzeitigen Emissionstempo ist dieses Budget in 20 Jahren ausgeschöpft, bei weiter wachsenden Emissionen würde die Welt noch eher “kohlenstoffinsolvent”. Die Reduktion der Emission von CO2und anderer Treibhausgasen1 muss so rasch wie möglich beginnen, eine Verzögerung der Trendwende bis 2020 machte jährliche globale Minderungen weit über das hinaus erforderlich, was den Industrieländern im Kioto-Protokoll für die gesamte erste Verpflichtungsperiode von 5 Jahren Länge zugestanden worden war. Jeder weitere Zeitverlust würde die Kosten explodieren lassen und die 2°C-Leitplanke endgültig obsolet machen. “Beschlossen” wurde in L’Aquila nicht weniger als eine neue Weltordnung. Die “Formeln zur Macht” (Wilhelm Fucks) bemaßen sich einmal am Energieverbrauch, künftig stünde der Wettbewerb um die besten und schnellsten Klimainnovationen im Zentrum der internationalen Politik. Die Herkulesaufgabe ist eine synchrone “Große Transformation” in die kohlenstoffarme Weltgesellschaft. Die Reichen dürfen nicht weiter machen wie gewohnt, die Schwellenländer müssen die altindustriellen Pfade baldigst verlassen, der Rest der Welt darf sie erst gar nicht einschlagen.
Für einen neuen Weltklimavertrag
Die vom Kioto-Protokoll, der 1997 unterzeichneten Rahmenkonvention der Vereinten Nationen, nach Kopenhagen 2009 führenden Verhandlungen geben einen derartig radikalen Wandel bislang nicht her. Statt zwischen nunmehr 192 Vertragsstaaten individuelle Emissionsbegrenzungen auszuhandeln, muss ein einfacher, gerechter und flexibler Welt-Klimavertrag erarbeitet werden. Dazu schlägt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregie-rung Globale Umweltveränderungen (WBGU) eine Budgetformel vor. Seine Kernidee: Zukünftig werden alle Staaten mit einem nationalen Pro-Kopf-Emissionsbudget ausgestattet, das die historische Verantwortung, die aktuelle Leistungsfähigkeit der Staaten und die globale Vorsorge für das Überleben der Menschheit verbindet.
Drei Klimawelten zeichnen sich damit ab: Gruppe 1 enthält rund 60 Staaten mit aktuell mehr als 5.4 t jährlichen CO2-Emissionen pro Kopf, neben den Industrieländern der OECD-Welt eine Reihe arabischer Staaten, der Iran, Venezuela und Südafrika. Wie tief der Einschnitt ist, zeigt das Beispiel der USA und Australiens (mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen von 19 Tonnen CO2 pro Jahr); für beide reicht das Budget keine 6 Jahre mehr, und auch bei linearer Reduktion ab 2010 müssten sie theoretisch bereits innerhalb von 11 Jahren Nullemissionen erreichen. Auch die bis 2050 zugeteilten Budgets für Deutschland (11 t CO2 pro Kopf und Jahr) und der EU (9 t CO2) reichen ohne Minderung nur zehn bzw. zwölf Jahre. Für alle Industrieländer gilt, dass sie eine ebenso rasche wie umfassende Dekarbonisierung ihrer Wirtschaftsweise bis 2050 vorantreiben, also fossile Energie einsparen und auf erneuerbare Energien umstellen müssen. Da diese Länder auch bei weitgehenden Reduzierungen der Treibhausgasemissionen ihr Budget überschreiten werden, sind sie auf die Kooperation mit Entwicklungsländern angewiesen, die noch Budgetspielräume haben.
Gruppe 2 enthält rund 30 Staaten (alle mit derzeit mehr als 2.7 t CO2 pro Kopf). Der bei weitem größte Emittent ist hier China, dessen Budget (wie übrigens für die Welt insgesamt) nur noch für 24 Jahre reichen wird. Auch China muss also seine Emissionen massiv und rasch verringern, Schwellenländer wie Mexico, Argentinien, Chile und Thailand befinden sich in einer vergleichbaren Lage. Anders als es die Kopenhagen-Verhandlungen suggerieren, kann auch diese Gruppe nicht länger “Business as usual” betreiben und muss sie sogar das “Green Business” erheblich intensivieren.
Gruppe 3 umfasst alle weiteren Staaten mit Emissionen unter 2,7 t/CO2 pro Kopf, die derzeit nur zwölf Prozent zu den aktuellen globalen Emissionen beitragen, aber mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung und damit des Emissionsbudgets stellen. Diese Länder, die im Übrigen die Hauptleidtragenden der Folgen gefährlichen Klimawandels sein werden, haben insgesamt noch erheblichen Spielraum für höhere Emissionen, sie müssen aber wegen der bis dahin nötigen global niedrigen Marge von maximal 1-1,5 t/pro Kopf ebenfalls bis 2050 Emissionen zurückfahren. Am oberen Ende dieser Gruppe befinden sich Länder wie Brasilien, Ägypten und Peru, deren Budget bei konstanten Emissionen noch 42, 56 oder 59 Jahre reichen würde; sie müssen also beginnen, Treibhausgasemissionen vom angesteuerten Wirtschaftswachstum abzukoppeln, um mit ihrem Budget auszukommen. Am unteren Ende der Gruppe rangieren 45 Länder vor allem aus Afrika südlich der Sahara, die derzeit pro Kopf weniger als 0,5 t/CO2 emittieren. Die Formel, um den gordischen Knoten der Klimaverhandlungen durchschlagen zu können, lautet: Technologie- und Finanztransfers gegen Budgetüberschüsse. Exemplarisch und besonders interessant ist hier Indien, der größte Emittent der Gruppe 3. Im Rahmen des globalen Budgets könnte das Land (derzeit 1,2 t/CO2 pro Kopf) seine Emissionen bis 2030 verdreifachen und danach nahezu symmetrisch bis 2050 wieder auf die heutigen Werte zurückführen. Doch um diese Trendwende in 20 Jahren erreichen zu können, ist auch für Indien eine anspruchsvolle Low-carbon-Strategie erforderlich.
Der indische Fall zeigt: Aus Gruppe 3 stammen die Budgetreserven, um die unvermeidbaren Budgetüberschreitungen der Industriestaaten durch globalen Emissionshandel kompensieren zu können. Dieser Ausgleich muss an konkrete Klimaschutzvorhaben gekoppelt sein, damit nicht einfach “heiße Luft” durch emissionsarme Staaten verkauft wird, also enorme Finanztransfers ohne Klimaschutzwirkung inszeniert werden. Richtig verstandener Emissionshandel führt zu strategischen Klima-Partnerschaften zwischen Ländern mit hohen und niedrigen Emissionen, so dass Entwicklungsländer den Übergang in eine nachhaltige, kohlenstoffarme Wirtschaftsweise schaffen können. Dieser Deal macht Klimaschutz ab sofort für alle Staaten attraktiv, auch wenn ihre Pro-Kopf-Emissionen heute noch niedrig sind. Der entscheidende Verhandlungsgegenstand ist damit die Größe und Struktur des Finanztransfers.
Vom Burden sharing zum Benefit sharing
Kioto-Prozess und Kopenhagen-Verhandlungen standen bisher unter der Überschrift “Burden sharing”, und der Verzicht auf Treibhausgasemissionen galt als Belastung und Zumutung, ja als Wachstums- und Wohlstandskiller. Dank dieser Sichtweise stecken die Nationen im Gefangenendilemma, einer Situation, in der einzelne Akteure ihre individuellen Vorteile höher gewichten als den kollektiven Nutzen aus einer möglichen kooperativen Lösung. Die an kurzfristigen Eigeninteressen der Akteure orientierten Versuche, eigene klimapolitische Verpflichtungen zu minimieren, also hier eine “Senke” und dort eine Emissionsnachlass auszuhandeln, führen unterm Strich zu einem Ergebnis, das die Weltgemeinschaft insgesamt, aber auch jede einzelne Nation irreversibel schädigt.
Der skizzierte Weltklimavertrag stellt demgegenüber ein Benefit sharing in Aussicht. Denn aus den Gebern und Nehmern der klassischen Entwicklungszusammenarbeit werden Partner mit komplementären Interessen. Die Weltkarte wird neu gezeichnet und damit auch die “Formeln zur Macht”: Subsahara-Afrika kann die meisten Emissionsrechte anbieten, auch Indien (dessen Budget bei konstanten Emissionen noch 112 Jahre reichte), Bangladesh (384 Jahre), Pakistan (124 Jahre) und Äthiopien (1200 Jahre) werden zu strategisch wichtigen Akteuren des globalen Emissionshandels, der ihnen immense Entwicklungschancen eröffnet.
Dagegen wird der Emissionshandel zwischen den Ländern der Gruppe 1 und 2 aufgrund der knappen Budgets beschränkt sein. Ungeachtet dessen werden die Industrieländer großes Interesse an Technologiepartnerschaften insbesondere mit China haben, um zu verhindern, dass ein Wettbewerb zwischen den Ländern der Gruppe 1 und 2 um die begrenzten Emissionsrechte der Gruppe 3 entbrennt, der Preiseffekte zur Folge hätte, an der Industrie- und Schwellenländer kein Interesse haben können. Deshalb bedarf es von vornherein strategischer Klimaallianzen zwischen China, der EU und den USA. China steht aufgrund seiner hohen ökonomischen Wachstumsdynamik und seiner bereits relativ hohen pro Kopf – Emissionen unter Zeitdruck für eine umfassende Dekarbonisierungstrategie, deren Einleitung und Begleitung im wohlverstandenen Eigeninteresse der USA und EU liegen.
Der entscheidende Wandel der Weltgesellschaft liegt in der mittelfristigen Entkoppelung wirtschaftlicher Entwicklungschancen von der fossilen Energieerzeugung. Während das Wachstum der Nationen bisher auf der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl beruhte, wird das 21. Jahrhundert – sofern die Zwei Grad-Leitplanke erst genommen wird – eine Inversion erleben: Reich können (auch) jene Nationen werden, die bei der Karbonisierung noch nicht weit vorangeschritten sind (wie großen Teile Afrikas) oder diesen Pfad frühzeitig verlassen (wie Indien), weil sie jenen Gesellschaften, die in rasantem Tempo dekarbonisieren müssen, aushelfen. Eine verantwortungsvolle Welt-Klimapolitik erlaubt einen fundamentalen Wandel der Internationalen Beziehungen – und es gibt nicht nur Zumutungen, sondern eventuell eine Art indirekter Klima-Dividende. Klimawandel war für die meisten Menschen lange Zeit eine naturwissenschaftlich fundierte Abstraktion. Konkrete Gestalt nahm er an, seit erste Anzeichen spürbar und die Kosten berechenbar wurden. Menschen werden aktiv, wenn sie materielle, aber auch immaterielle Vorteile ihres Handelns erkennen.
The Devil is in the Details
Natürlich ist das noch eine Utopie. Der Emissionshandel in seinem derzeitigem Zustand ist kaum auf eine solche Scharnierfunktion eingestellt, und es bedarf eines erheblichen Mutes zu institutionellen Innovationen im Bereich des “globalen Regierens”. Ottmar Edenhofer und der WBGU schlagen vor, eine Klimazentralbank zu schaffen, die als globale Budgetverwalterin die Transfers an Emissionsrechten registriert und überwacht. Diese Bank hätte auch die Aufgabe sicherzustellen, dass Emissionshandel nicht die Einhaltbarkeit des globalen Gesamtbudgets durchkreuzt, etwa durch einen Totalausverkauf nicht benötigter Emissionsrechte durch einzelne Entwicklungsländer zu Beginn der Verpflichtungsperiode. Die Erfüllung dieser komplexen Aufgabe kann nur gelingen, wenn die Klimazentralbank mit entsprechender Macht ausgestattet würde, was wiederum impliziert, dass sie als parastaatliche Institution globalen Regierens rechenschaftspflichtig ist und demokratische Legitimation erhält, die transnationalen Agenturen (wie der Weltbank) bislang durchweg fehlt.
Benötigt wird also ein völkerrechtlich verbindlicher Finanzierungsmechanismus, der – in der Logik des Budgetansatzes und gemäß dem Verursacherprinzip – im Wesentlichen durch die Länder mit hohen historischen Emissionen gespeist würde. Die Einzahlungen der Länder können aus Einnahmen einer nationalen CO2-Steuer oder aus der Versteigerung nationaler Emissionsrechte generiert werden. Der Mechanismus hätte den Vorteil, messbar, berichtsfähig und nachprüfbar zu sein (MRV = measurable, reportable, verifiable). Die globale Klimazentralbank kann diese Mittel zentral in einem Fonds sammeln und nach einem vereinbarten Schlüssel verteilen; sie müsste die Möglichkeit haben, diejenigen Länder effektiv zu sanktionieren, die ihren Einzahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Denkbar sind hier solidarische Haftungsregeln für jeweils eine gewisse Gruppe von Ländern, der temporäre Ausschluss von den flexiblen Mechanismen oder Strafzahlungen (wie in der EU). Für die benötigten Finanzmittel reichen öffentliche Mittel bei weitem nicht aus; private Investoren, insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern, müssen durch zinsgünstige Kredite und Bürgschaften für Investitionen gewonnen werden. Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit stellen Matching Funds dar, in denen der Mitteleinsatz Privater für Vermeidungsmaßnahmen durch staatliche Anteile um einen bestimmten Prozentsatz erhöht wird.
Für den Erfolg des budgetbasierten Weltklimavertrags sind drei weitere Voraussetzungen zu beachten:
1) Globale Zwischenziele: Als Meilenstein für den globalen Emissionsverlauf sollte festgelegt werden, dass spätestens ab dem Jahr 2020 die weltweiten CO2-Emissionen nicht mehr weiter steigen dürfen, und anschließend sinken müssen. Zusätzlich bedarf es eines Meilensteins für die maximalen globalen Emissionen im Jahr 2050, andernfalls wäre die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 2°C nahezu unmöglich.
2) Nationale Aktionspläne: Alle Staaten müssen sich verpflichten, nationale Pläne zu entwickeln, die transparent machen, wie sie innerhalb seines nationalen Budgets wirtschaften wollen; unabhängige internationale Gremien müssen diese Pläne auf ihre Plausibilität und Umsetzbarkeit überprüfen. Damit soll die Gefahr eingegrenzt werden, dass einzelne Regierungen die notwendigen Handlungsschritte auf zukünftige Generationen verschieben. Die Stärkung nationaler Eigenverantwortung (durch die große Flexibilität bei der Wahl der Transformationspfade) und die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltgemeinschaft werden so miteinander verknüpft.
3) Interregionale Flexibilität: Die weltweite Bewirtschaftung der nationalen Budgets im Rahmen eines globalen CO2-Emissionshandelssystems setzt voraus, dass die nationalen Emissionsbudgets in Emissionsrechte aufgeteilt werden und zu handelbaren Rechten erklärt werden. Der zwischenstaatliche Emissionshandel lässt bi- und multilaterale Transaktionen verschiedensten Charakters zu und ermutigt sie sogar.
Eine andere Welt ist möglich
Der “Normalmodus” internationaler Kooperation ist für diese Umstellung zu langsam, denn er tendiert, wie gerade die Kopenhagener Klimaverhandlungen belegen, zu Einigungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Andere Beispiele für die Vorherrschaft nationaler Interessen und der Wettbewerbslogik zwischen Nationen sind die ergebnisarmen Verhandlungsrunden der Welthandelsorganisation (WTO), die rhetorisch gebliebenen Millenium Development Goals (MDG) und selbst Politikprozesse innerhalb der am weitesten fortgeschrittenen Arena grenzüberschreitender Kooperation, der Europäischen Union. Das bedeutet: Die bei vielen politischen Entscheidungsträgern durchaus verbreitete Einsicht, in einer interdependenten Welt sei die zunehmende Zahl von Weltproblemen nur durch Global Governance zu lösen, übersetzte sich noch nicht in die wünschenswerte Beschleunigung der Routinen globaler Vereinbarungen.
Eine erfolgreiche Klimapolitik, die sich an der Zwei-Grad-Leitplanke orientiert, ist von daher auf eine inhaltliche und institutionelle Revolutionierung der internationalen Kooperation angewiesen. In der Geschichte gibt es dafür kaum Vorbilder, vielleicht mit Ausnahme der seinerzeit völlig unerwarteten Reformpolitik von Michael Gorbatschow. Der damalige sowjetische Staatspräsident hatte sich bekanntlich eingestanden, dass das realsozialistische Modell bankrott war und eine Aufrechterhaltung des starren Konfrontationsmusters zwischen Ost und West den ökonomischen und politischen Niedergang der Sowjetunion und ihrer Verbündeten beschleunigen und die Gefahr internationaler Konfrontation erhöhen würde. Damit wurde der Weg frei für das Ende des atomaren Ost-West-Konfliktes. Die Klimakrise weist gewisse Parallelen auf: Das High Carbon-Entwicklungsmodell steht nicht weniger vor dem Bankrott, eine auf kurzfristige Interessendurchsetzung orientierte internationale Verhandlungstaktik provoziert den baldigen Kollaps der fossilen Weltwirtschaft und befördert immense internationale Spannungen und Konflikte. Der Aufmarsch der Nationen, die in der Arktis ihre Claims abstecken, ist dafür ein Beispiel, der wachsende Migrationsdruck aus Insel- und Küstenregionen ein anderes.
Konfliktfrei wird ein Weltklimavertrag sicher nicht zu haben sein. Doch das vorherrschende Gefangenendilemma lässt sich nur überwinden, wenn sich die Spieler einer alle Akteure drohenden Gefahr bewusst werden, etwas so, als stünde ein Meteoriteneinschlag bevor. Ist die Erwärmung der mittleren globalen Temperatur um mehr als 2°C von solcher Dramatik? Die meisten würden das bestreiten. Doch auch wenn Erwärmung regional unterschiedliche Auswirkungen haben mag, ist klar, dass in Folge ihrer unbestreitbaren Auswirkungen auf den Naturraum (Meeresspiegelanstieg, Zunahme extremer Wettereignisse, Verlust von Arten und Ökosystemen etc.) sowie auf das menschliche Zusammenleben (Versorgungskrisen, Zwangsmigration, Destabilisierung politischer Systeme etc.) letztlich für alle Klimazonen und Gesellschaften höchst negative Konsequenzen zu erwarten sind. In diesem Sinne gleicht das Problem des Klimawandels tatsächlich der Gefahr von der Dimension des Einschlags eines großen Meteoriten, der gigantische Flutkatastrophen und abrupte radikale Veränderungen des Erdklimas (“Impaktwinter”) nach sich zöge. Das heißt: Bei den Auswirkungen einer ungebremsten Erderwärmung handelt es sich um ein unteilbares Problem der Menschheit insgesamt. Es gibt kein “Außen”, auf welches die negativen Folgen distributiert werden können. Dem oft missbrauchten Begriff “Schicksalsgemeinschaft” kommt im Bezug auf die Klimaproblematik volle Berechtigung zu. Und erst wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, besteht die Chance, dass das globale Climate deadlock aufgebrochen wird. Wenn am Ende kein Land von den Folgen einer globalen Erwärmung zwischen 4 und 6 C ausgespart bliebe, muss die Bereitschaft zu internationaler Kooperation wachsen, die notwendig ist, um einen gefährlichen Klimawandel noch zu verhindern.
Historische Präzedenzfälle für die jetzt erforderlichen technisch-finanziellen Anstrengungen gibt es wiederum nicht. Anführen könnte man höchstens (in Anlehnung an Al Gore) das 1960 gestartete Apollo-Programm der US-Regierung, als ein klares, anfangs genauso utopisch erscheinendes Ziel (der Mensch auf dem Mond) vorgegeben wurde, das binnen zehn Jahren zu realisieren war. Um das zu erreichen, wurden in einem bis dahin unbekannten Umfang Ressourcen (25 Mrd. US $) und Humankapital (400.000 Menschen) eingesetzt, ebenso wichtig war das klare Engagement der damaligen Kennedy-Administration, die klare Ziele und Zeitkorridore setzte.
Unter den völlig anderen Prämissen der Klimapolitik ist heute eine räumlich und inhaltlich erheblich weiter reichende Kombination politischer Führungskraft, technischer Innovation und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung notwendig. Und das Programm der weltweiten Dekarbonisierung ist weniger durch den technologischen Optimismus der “Open Frontier” begründet, der die Vereinigten Staaten immer nach vorne trieb, als durch eine exorbitante Bedrohung der Menschheit in Gestalt des gefährlichen Klimawandels und die besondere Dringlichkeit politischen Handelns. Letztlich setzt die Abkehr von der fossilen Wirtschafts- und Energiepolitik in historischer Einordnung einen analogen politisch-moralischen Willensakt voraus wie die Abschaffung der Sklaverei und der Kinderarbeit im 18. und 19. Jahrhundert. Motor dieser Initiativen waren nicht erhoffte technisch-ökonomische Vorteile (die sich erst im weiteren Verlauf der Industriellen Revolution herausstellten), sondern der gewollte Bruch mit einer politisch-moralisch unhaltbaren Gewohnheit und einem darauf basierenden sozialen Habitus.
Institutionell impliziert der Beschluss von L’Aquila, die Zwei Grad-Leitplanke zum Weltmaßstab der Klimapolitik zu erheben, neue Formationen globalen Regierens. Dazu gehört die Konsolidierung einer “auf Augenhöhe” stattfindende Verhandlung zwischen den alten (USA, EU) bzw. neuen Hegemonalmächten (China), die als G2 oder G 3 sowie im UN-Weltsicherheitsrat als Vetomächte fungieren, und den aufstrebenden Entwicklungsnationen (BRIC), zu denen fallweise weitere Regionalmächte wie Mexiko, Ägypten, die Türkei und Indonesien herangezogen werden. Die alte G 7/8 betätigt sich in dieser erweiterten Arena nicht länger als ein hegemoniales Zentrum, sondern eher als eine Art Relaisstation und Vorbereitungsgremium. Zugleich bestehen in einer variablen Verhandlungsarchitektur Verbindungen zu den zahlreichen Konferenz-Institutionen der UN-Familie, die weiterhin das ganze Gewicht der G 192 einbringen. Vernetzungen bestehen ferner mit politisch-wirtschaftlichen Regional- und Kontinentalverbünden wie EU, Mercosur oder Afrikanischer Union. Und nicht genug damit, wird die globale Klimapolitik künftig im Rahmen des Emissionsrechtehandels und verwandter Umweltmaterien (wie Biodiversität) auch von bilateralen Abkommen bestimmt sein. Diese flexible, auch fragile Verhandlungsarchitektur in einem verschachtelten Mehrebenensystem kann nur funktionieren, wenn sie sich an klaren Handlungsprämissen orientiert und genügend demokratische Legitimation und Partizipation in nationalen und lokalen Handlungsarenen erfährt. Macht-Konstellationen von der Art der Gruppe der 20 implizieren eine Art Demokratisierungsparadox: Sie schließen Nationen und Agenden ein, die bisher nicht hinreichend einbezogen wurden, und können damit bestenfalls, im Sinne eines demkratieförderlichen Multilateralismus, weltöffentliche Güter bereitstellen, aber sie verfügen selbst nicht über ein Mandat, das ihnen höchstens indirekt über Nicht-Regierungs-Organisationen zuwächst.
Wie viel Demokratie verträgt der Klimaschutz?
Die Transformation von Gesellschaften in Richtung Low Carbon Societies kann sicher nicht allein top-down gelingen. Auch Konsumentinnen und Konsumenten sowie Wählerinnen und Wähler müssen ihre Entscheidungen so treffen, dass ihr langfristiger Nutzen optimiert wird, auch damit kurzfristig Kosten verbunden zu sein scheinen. Um Veränderungsblockaden zu überwinden, kommt “Change Agents” – das sind strategische Personen und Gruppen, die beim sozialen Wandel vorangehen und ein Bewusstsein seiner Chancen verbreiten – eine große Bedeutung zu. Sämtliche Perioden “großer Transformation” waren historisch geprägt durch neue Technologien und Leitsektoren der Wirtschaft, aber mehr noch von aufstrebenden sozialen Klassen, die Denkmuster, Institutionen und Mentalitäten herausforderten. Strategische Gruppen und Netzwerke wirkten auch über nationale Grenzen hinweg als Rollenmodelle und Trendsetter, und so verschafften sie isolierten (oder zunächst chancenlos wirkenden) Innovationsimpulsen eine kulturelle Hegemonie.
“Change Agents” induzieren Innovation, indem sie Weltbilder in Frage stellen, eingefleischte Einstellungs- und Verhaltensmuster herausfordern, gewohnte Pfade verlassen und potenzielle “Followers” nachhaltig zum Wandel motivieren. Man findet sie heute in Umwelt- und Bürgerinitiativen, bei Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) – unter ihnen Kirchen und Stiftungen , in der Wissenschaft, in den Parteien sowie unter Ingenieuren, Stadtplanern, Architekten und anderen Professionellen, die in der Dekarbonisierung der Wirtschaft, der Raumnutzung und der Mobilität enorme Chancen und kreative Herausforderungen sehen. Diese “Nachhaltigkeits-Intelligenz” ist anzutreffen in Unternehmen der Energiebranche und bei selbständigen Berufen, in den Umweltabteilungen (und anderen Ressorts) der Kommunal- und Landesverwaltungen, in den Fachressorts der Ministerialbürokratie und in den Generaldirektionen der Europäischen Kommission, nicht zuletzt in Energiegenossenschaften, Pilotprojekten und anwendungsorientierten Forschungsprojekten. Oft arbeiten solche Akteure isoliert und verstreut, bezweifeln sie die Möglichkeiten zu breiten politischen Allianzen und verspüren sie eine große Distanz zu den Führungseliten. Umgekehrt wissen diese oft nicht, welche starken Bündnispartner sie in diesen Pionieren für die Kommunikation und Durchsetzung vermeintlich unpopulärer Politiken eigentlich haben.
Der Kioto-Prozess, der von der Mehrzahl der Menschen zuletzt kaum noch verstanden wurde, müsste scheitern, wenn davon nur die technischen Termini und diplomatischen Formelkompromisse der Abschluss-Kommuniqués wahrgenommen und Klimaschutz als rein staatliche Veranstaltung (“top-down”) missverstanden würde. Gewiss erfordert Klimaschutz entschlossenes Handeln von Gesetzgebern und Unternehmern, das diese Anreize kommen nur zum Erfolg, wenn die Bevölkerungen sich “bottom-up” als historisch und aktuell Verantwortliche begreifen. Das erfordert eine nachvollziehbare Regionalisierung der Klimaschutz-Ziele bis auf die Ebene der Stadtteile und Gemeinden hinunter, und eine Rückkoppelung der Klimapolitik auf höhere Ebenen staatlichen und unternehmerischen Handelns. In diesem Zusammenhang gilt es, die Lokale Agenda 21 wiederzubeleben.
Es kommt also alles auf ein gelungenes “Framing” der Thematik an: Energieeffizientes und klimafreundliches Handeln wird wahrscheinlicher, wenn die kurzfristig zu erwartenden Kosten hinter dem mittel- bis langfristig eintretenden Nutzen in den Hintergrund treten. Die Konsequenzen der Implementierungsschritte von Kopenhagen müssen offen ausgesprochen werden; parlamentarische Debatten, Expertisen von NROs und Aktionspläne von Kommunen sind ebenso wichtig wie proaktive Verbraucherberatung und politisch-kulturelle Informations- und Bildungsangebote, die vor allem auch ein zeitliches Verantwortungsbewusstsein über Generationen hinweg verankern. Jede Klimapolitik von unten bezieht “Laien” als Wissende und Multiplikatoren ein.
Eine neue, positive Kultur der Teilhabe artikuliert sich auf allen Ebenen: bei Wahlen und der Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden, Parteien ebenso wie in außerparlamentarischen Kampagnen für Klimaschutz, Energiewende und Nachhaltigkeit. Wichtig ist die wachsende Gruppe von strategischen Konsumenten, die nicht nur klimabewusst einkaufen, sich ernähren und fortbewegen, bauen und heizen, sondern vorherrschende Konsummuster selbst in Frage stellen und sie unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit aufbrechen. Dabei nützt sicher ein spürbarer finanzieller Anreiz, unterstützt durch öffentliche Subventionen und zertifizierte Informationsangebote, doch eine beachtliche Zahl von Verbrauchern verändert das Konsumverhalten auch auf der Grundlage allgemeiner Normen, wenn zum Ergebnisnutzen durch die Mitwirkung an einem breiteren bürgergesellschaftlichen Projekt ein zusätzlicher Prozessnutzen kommt, also das Selbstbewusstsein, etwas für die Um- und Nachwelt getan zu haben und anerkannt zu werden.
Den globalen Führungseliten wird es erheblich leichter fallen, “große” Kooperationsziele und Veränderungen anzusteuern, wenn sie durch zivilgesellschaftlich getragene Zukunftsvisionen unterstützt werden. Die Kopenhagen-Ziele sollten nicht als Verzichtsleistungen kommuniziert werden, vielmehr als Chancen für den lange überfälligen Einstieg in eine klimaverträgliche Weltgesellschaft. Die Low Carbon Society ist kein Krisenszenario, sondern die realistische Vision einer Befreiung vom Pfad einer Überentwicklung, die teuer, riskant und krisenhaft ist. 1963, als die Welt knapp einer atomaren Katastrophe entronnen war, schrieb der Physiker Max Born: “Der Weltfriede in einer kleiner gewordenen Welt ist keine Utopie mehr, weil er eine Notwendigkeit ist, eine Bedingung für das Überleben des Menschengeschlechts”. Das gilt mutatis mutandis auch heute wieder.
Der hier dargelegte Budgetansatz wurde in einem Sondergutachten des WBGU (www.wbgu.de) “Kassensturz für den Weltklimavertrag: Der Budgetansatz” ausgeführt, der am 1 September 2009 vorgelegt wurde.
Andere Treibhausgase (wie Methan oder Lachgas) besitzen ein größeres numerisches Erwärmungspotential pro Tonne, doch ist Kohlendioxid (CO2) wegen seiner großen Menge und seiner enormen Langlebigkeit in der Atmosphäre der entscheidende Faktor in allen Klimaschutzüberlegungen.
Published 31 August 2009
Original in German
First published by Eurozine
© Claus Leggewie / Eurozine
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