Verschuldet Euch!

Follow the money

Auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise machte Lloyd Blankfein, der Chef der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, eine Bemerkung, die seinen Ruf endgültig ruinierte. Die Banken, so sagte Blankfein, während um ihn herum milliardenschwere Rettungspakete für die Finanzindustrie geschnürt werden mussten und die Weltwirtschaft immer tiefer in die Rezession rutschte, “verrichten Gottes Werk”.

Die Frage ist, was an dieser Aussage verstörender ist: Dass sie von der vollkommenen Abwesenheit auch nur eines Anflugs von Schuldgefühlen einer Branche zeugt, die die Welt an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Oder dass sie korrekt ist. Jedenfalls hat Blankfeins These einen wahren Kern. Der Kredit ist der Schöpfungsakt im Kapitalismus. Damit sind diejenigen, die über die Vergabe eines Kredits entscheiden Schöpfer. Und Schulden kein Fluch, sondern ein Segen.

Hand of golden buddha statue holding money pouch. Photo: Im Perfect Lazybones. Source:Shutterstock

Zur offiziellen Lesart der Krise passt das nicht. Unter deutscher Führung wurde Europa in ein Bollwerk gegen Schulden verwandelt. Es gibt inzwischen einen Fiskalvertrag, der die Kreditaufnahme der Mitgliedsstaaten begrenzt und einen Stabilitätspakt, der die Haushaltsführung regelt. In Deutschland dürfen die Bundesländer ab 2020 sogar überhaupt keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Schulden? Nein, Danke!

Diese Haltung hat eine lange Tradition. “Neither a borrower nor a lender be/ For loan oft loses both itself and friend/ And borrowing dulls the edge of husbandry”, gibt Polonius, der Berater des Königs in Shakespears Tragödie Hamlet, seinem Sohn als Empfehlung auf den Weg. Und in Deutschland reflektierte Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral die Nähe des finanzwirtschaftlichen Begriffs der Schulden zum moraltheoretischen Konzept der Schuld. Zuletzt hat der amerikanische Anthropologe David Graeber in seinem Mammutwerk über die Geschichte der Schuldbeziehungen herausgearbeitet, wie Schulden jeden Aspekt des Lebens durchdringen und dabei in vielen Fällen als Herrschaftsinstrument benutzt wurden.1 Durch den Akt der Kreditaufnahme liefert sich der Schuldner dem Gläubiger aus – und nicht selten wurde ein Darlehen mit jahrelanger Knechtschaft bezahlt. So wie ja auch die überschuldeten Griechen sich von der Troika der EU die Bedingungen ihres Zusammenlebens diktieren lassen mussten.

Auch die schwäbische Hausfrau kauft ihr Haus auf Kredit

Der Abbau von Schulden ist in dieser Logik ein Akt zur Wiedergewinnung persönlicher Autonomie beziehungsweise – sofern es um öffentliche Schulden geht – der staatlichen Souveränität. Oder wie es Angela Merkel formulierte: “Man hätte einfach nur die schwäbische Hausfrau fragen sollen. Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.”

Die Sache ist nur: Die meisten Staaten leben ziemlich dauerhaft über ihre Verhältnisse. Es gibt praktisch kein Land, das keine Schulden hat. Auf der Internetseite des amerikanischen Finanzministeriums lässt sich die Staatsverschuldung des Landes bis ins Jahr 1790 zurückverfolgen: Die Vereinigten Staaten von Amerika waren in ihrer Geschichte noch nie schuldenfrei, was ihrer Souveränität nicht geschadet hat.

Weshalb sich die These auch umdrehen lässt: Schulden führen nicht in die Knechtschaft, sondern in die Freiheit. Denn das Leben ohne Schulden war alles andere als angenehm. Schuldbeziehungen – Graeber hat darauf hingewiesen – gibt es seit es Menschen gibt. Doch die Rundumversorgung der Volkswirtschaft mit Darlehen und anderen Finanzdienstleistungen entwickelte sich erst im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Der Siegeszug des Kredits begann also just in der Zeit, in der der materielle Wohlstand explodierte.

Zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 1820 betrug die jährliche Wachstumsrate in Westeuropa nach Schätzungen des Wirtschaftshistorikers Angus Maddisons durchschnittlich gerade einmal 0,34 Prozent pro Jahr, sie stieg auf 2,1 Prozent zwischen dem Jahr 1820 und der Jahrtausendwende. Das Bruttoinlandsprodukt – also der Wert aller in einem Jahr erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen – hat sich zwischen 1820 und 2000 gut vervierzigfacht.

Die erste Regel bei der Analyse von Datenreihen lautet, dass aus Korrelation noch keine Kausalität folgt. Doch spricht viel dafür, dass die Industrialisierung ohne Schulden nicht möglich gewesen wäre. Denn der Kredit ist der Antriebsmotor der kapitalistischen Entwicklung – er ermöglicht es, mit den Erträgen der Zukunft die Investition in der Gegenwart zu finanzieren und legt so gleichsam das Fundament für eine moderne, arbeitsteilig organisierte Wirtschaftsweise.

Wenn ein Unternehmen eine Maschine kauft, dann kann es die Anschaffung entweder aus dem angesammelten Kapital finanzieren oder einen Kredit aufnehmen. Bei großen Investitionen sind die meisten Unternehmen auf Kredite angewiesen, weil sie nicht über genug Kapital verfügen. Auch die schwäbische Hausfrau wird ihr Haus wahrscheinlich nicht bar bezahlt haben. Der Kredit macht die Investition erst möglich.

Geld aus dem Nichts

An dieser Stelle kommen Gott und Lloyd Blankfein von Goldman Sachs in Spiel. Denn in einem modernen Geldsystem schaffen die Banken den Kredit aus dem Nichts. Wenn eine Bank beispielsweise einem Bäcker einen Kredit über 10.000 Euro für einen neuen Backofen gibt, dann hat deshalb niemand 10.000 Euro weniger. Das Geld wird dem Bäcker einfach auf seinem Konto gutgeschrieben, ohne dass dafür einem anderen Kunden etwas abgezogen werden muss. Die Geldmenge hat sich erhöht. Banken werden oft als Zwischenhändler beschrieben, die das Geld der Sparer an Investoren weiterleiten. Diese Bild ist schief. Banken schaffen neues Geld und dieses Geld stößt die realwirtschaftliche Aktivität an. Darin besteht ihr schöpferischer Akt.

Geld hat dabei keinen Eigenwert. Es ist kein Gut. Als Zahlungsmittel organisiert und ermöglicht es wirtschaftliche Beziehungen. Dadurch aber bringt es die Güter hervor, deren Existenz ihm den Wert verleihen. Ohne die realwirtschaftliche Sphäre wäre Geld nur bedrucktes Papier, denn an Gold oder andere reale Dinge ist es zumindest in den Industriestaaten längst nicht mehr gekoppelt. Damit schafft sich der Kredit auch die Ersparnis – aus der er letzen Endes finanziert werden muss – selbst. Wenn der neue Backofen läuft, kann der Bäcker mehr Brötchen verkaufen und nimmt deshalb mehr Geld ein. Ein Teil dieses Geldes spart er. Der Clou dabei ist, dass nicht zwingend ex ante gespart werden muss, um zu investieren, sondern die Ersparnis ex post als Ergebnis der Kreditvergabe entsteht.

Das bedeutet nun nicht, dass die Banken wie in der Erzählung von der armen Witwe und dem Propheten Elia über eine Art Ölkrug verfügen, der niemals leer wird. Wenn eine Bank einen Kredit vergibt und diesen dem Konto des Kreditnehmers gutschreibt, dann verbucht sie auf einer Seite ihrer Bilanz eine Forderung (der Kreditnehmer schuldet ihr Geld) und auf der anderen eine Verbindlichkeit (sie muss dem Kreditnehmer das Geld bei Bedarf auszahlen). Wenn eine Bank nun ständig Kredite vergeben würde, die nicht mehr zurückbezahlt werden, dann passen Forderungen und Verbindlichkeiten in der Bilanz nicht mehr zusammen. Die Bank wäre pleite und müsste den Geschäftsbetrieb einstellen.

Das Wesen des Kredits besteht also nicht darin, dass er neue Ressourcen zur Verfügung stellt. Er aktiviert aber Ressourcen, die sonst brach liegen würden. Indem sie die Produktivkräfte entfesselten, haben Schulden dazu beigetragen, dass die Menschheit die jahrhundertelange Wachstumsflaute überwinden konnte und erstmals so etwas wie ein breiter materieller Wohlstand entstand. Das schuf die Grundlage für die heutigen zivilisatorischen Errungenschaften – von der Alterssicherung über die Gesundheitsversorgung bis hin zur Massenkultur.

Gute Schulden, schlechte Schulden

In der herrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie spielen Schulden trotzdem so gut wie keine Rolle. In den großen volkswirtschaftlichen Modellen der Zentralbanken und internationalen Organisationen kommen Finanzmärkte praktisch nicht vor. Postkeynesianische Wissenschaftler wie der amerikanische Wirtschaftsprofessor Hyman Minsky hingegen haben die Bedeutung des Kredits für den Wohlstand der Nationen hervorgehoben.

Minsky war der Auffassung, dass sich die Dynamik eines unregulierten Finanzsystems periodisch zu Krisen führt. Wenn die Geschäfte gut laufen, werden die Banken immer risikofreudiger und vergeben neue Kredite. Das befeuert die Wirtschaft, doch je länger das Spiel läuft, desto weniger rentable Investitionsmöglichkeiten gibt es und deshalb wird es für die Schuldner immer schwieriger, ihren Kredit zu bedienen. Irgendwann kippt die Stimmung und die Blase platzt.

Auch in Josef Schumpeters Beschreibung des Kapitalismus als Prozess einer “schöpferischer Zerstörung” spielt der Kredit eine zentrale Rolle. Erst dieser eröffnet dem investitionsbereiten Unternehmer “den Zutritt zu den Produktionsmitteln der Volkswirtschaft – er gibt ihm gleichsam die Vollmacht, seine Pläne auszuführen.” Hinter jedem Unternehmer steht gewissermaßen ein Banker. Dieser trägt damit aber auch einen Teil des Risikos. Deshalb sollte es in seinem Interesse sein, die Investitionsprojekte sorgfältig zu prüfen. Denn wenn der Unternehmer Konkurs anmeldet, weil seine Investition nicht rentabel war, kann die Bank den Kredit abschreiben. Es kommt also nicht nur darauf an, wie viele Kredite vergeben werden, sondern was mit dem geliehenen Geld geschieht.

Dieser Gedanke lässt sich auch auf die Staatsschulden übertragen. Wenn der Staat Kredite aufnimmt, dann verschwindet das Geld nicht in einem schwarzen Loch. Es wird ausgegeben. Und es gibt Ausgaben bei denen sich eine Schuldenfinanzierung geradezu anbietet. Dazu zählen typischerweise Investitionen in die Infrastruktur. Vom Bau einer Straße oder einer Schule beispielsweise profitieren in der Regel die kommenden Generationen mehr als die jetzige Generation.

Es liegt deshalb nahe, den kommenden Generationen einen Teil der Finanzierungslast aufzubürden. Sie erben ja nicht nur die Schulden, sondern auch das mit Hilfe dieser Schulden geschaffene Kapitalstock: Maschinen, Straßen, Universitäten. Und für den Wohlstand der Zukunft dürfte die Qualität der Schulen und Straßen wichtiger sein als die Frage, ob die schwarze Null nun 2015 oder 2017 erreicht wird.

Für das Verständnis der Krise ist dieser Zusammenhang zentral. Denn die Interpretation der Krise als Schuldenkrise oder gar als Staatsschuldenkrise führt recht schnell zu der Schlussfolgerung, dass der Abbau der Schulden oberste Priorität haben muss. Sie führt in die Welt der Schuldenbremsen, Fiskalverträge und Stabilitätspakte.

In einer alternativen Sichtweise sind nicht die Schulden das Problem, sondern die Verschwendung der geborgten Mittel. Die Krise in Südeuropa spitzte sich zu, als den Gläubigern plötzlich klar wurde, dass sie ihr Geld möglicherweise nicht mehr wiedersehen, weil damit zum Beispiel in Spanien und Irland Immobilien gebaut wurden, die niemand benötigt und mit denen sich deshalb auch keine ausreichenden Erträge erzielen lassen. Deshalb zogen die Geldgeber ihr Kapital ab und machten damit alles noch schlimmer. Wenn Spanien mit dem vielen aus dem Ausland hereinströmenden Geld – sagen wir – die Costa Brava in ein europäisches Silicon Valley verwandelt hätte, dann wäre das Land heute nicht in Schwierigkeiten. Dem Kredit würden reale Werte entgegenstehen, die den Schuldendienst ermöglichen. Man kann davon ausgehen, dass auch die internationalen Investoren klug genug sind, gute von schlechten Schulden zu unterscheiden und nicht mechanisch in Panik geraten, wenn die Schuldenquote einen bestimmten Wert übersteigt.

Follow the money

Aus dieser Perspektive käme es zunächst einmal darauf an, zu verhindern, dass durch einen allzu rabiaten Sparkurs Krisen verlängert werden. Denn das Wesen einer Krise ist ja, dass Unternehmen und Haushalte kein Geld mehr ausgeben. Wenn sich in einer solchen Situation auch noch der Staat zurückhält, steht die Wirtschaft still. Aber auch ganz grundsätzlich wäre es nicht die Aufgabe der Politik, die Schuldenaufnahme pauschal zu begrenzen – sondern dafür zu sorgen, dass das Geld auch sinnvoll verwendet wird.

Die Erfahrung lehrt, dass das nicht von selbst geschieht. Die Banker sind anders als Schumpeter sich das vorstellte in der Realität eben ganz offensichtlich doch nicht in der Lage oder daran interessiert, dafür zu sorgen, dass ihr Kredit an die richtigen Unternehmen geht. Seit im 17. Jahrhundert in Holland Tulpenzwiebeln plötzlich mehr kosteten als ein Wohnhaus in Amsterdam, ist klar, dass sich im Zweifel immer alle auf das vermeintlich nächste große Ding stürzen und damit den Grundstein für die nächste große Blase legen. Es hat ja niemand die spanischen Banken gezwungen, Geisterstädte in der Wüste und Betonklötze am Mittelmeer zu finanzieren.

Deshalb ist der Staat gefragt. Er müsste durch behutsame, aber entschiedene Eingriffe in die Kreditvergabe gewährleisten, dass das Geld dorthin fließt, wo es gebraucht wird. Die gute Nachricht ist, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind. Überall auf der Welt wurden Gremien eingerichtet, deren Auftrag es ist, durch so genannte makro-prudentielle Maßnahmen neue Finanzblasen zu verhindern. In Deutschland ist dies die Aufgabe des Ausschusses für Finanzstabilität der Bundesbank, des Bundesfinanzministeriums und der Finanzaufsicht Bafin. Er kann wenn zum Beispiel der Immobilienmarkt heiß läuft, die Banken zu mehr Vorsicht bei der Vergabe von Immobilienkrediten zwingen.

Das stellt erhebliche Anforderungen an die Rationalität politischer Prozesse. Denn die Kreditwächter müssten die Finanzmärkte genau beobachten und entscheiden, wann eine Intervention angezeigt ist. Und sie müssten Druck aushalten, denn ziemlich sicher werden es – um im Beispiel zu bleiben – weder die Banken noch Häuslebauer gerne sehen, wenn der Staat auf einmal die Kredite kappt.

Dafür wäre die Politik mit einer solchen Schuldenlenkung näher am Kern des Problems als mit einer Schuldenbremse.

Siehe auch: David Graeber, "Debt: The first five thousand years", Eurozine, 20. August 2009.

Published 18 November 2014
Original in German
First published by Polar 17/2014 (German version)

Contributed by Polar © Mark Schieritz / Polar / Eurozine

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