Beginnen wir mit einer Beobachtung aus deutschen Innenstädten. Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten wird deren zunehmende Verödung beklagt. Während sich die arrivierte Mitte der Externalisierungsgesellschaft in die Wärme ihrer Großraumbüros, Stadtrandsiedlungen und Shopping-Malls zurückgezogen hat, fallen in den windigen Fußgängerzonen, die dem schäbigen Rest überlassen sind, vor allem zwei wachsende Gewerbezweige auf. Sie nisten sich ein in den Lücken, die ehemalige Einzelhandelsgeschäfte hinterlassen haben: Ein-Euro-Shops in den Erdgeschossläden, und in den Büros der ersten Etagen darüber die Geschäftsstellen von Leiharbeitsfirmen. Beide handeln mit dem, was aus den warmen Luxus-Centern, Galerien und Arkaden ausgeschlossen bleibt: mit Ramsch. Das passt zusammen, denn diejenigen, die hier ramsch-billige Lebensmittel und Haushaltswaren kaufen, sind in der Post-Hartz-Ära in aller Regel auch die, die sich selbst, die eigene Arbeitskraft zur Verramschung anzubieten haben. Das wissen die Unternehmen der Leiharbeitsbranche, deshalb sind sie ja hier. Dass das keine bloße Unterstellung ist, belegt folgendes Zitat eines Strategen aus der Zentrale einer der führenden Firmen, geäußert in einem Experteninterview vor ein paar Jahren: “Also ein Drittel unserer Rekrutierungen kommen aus der Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist also für uns ‘n ganz wichtiger Pool. […] Das ist immer ‘ne Herausforderung, und nicht umsonst werden Sie unsere Büros vor allen Dingen in verkehrsgünstigen Situationen – Hauptbahnhof oder Innenstadtlage – finden, wo wir dann ‘nen wichtigen Zugang zu den Menschen haben und versuchen, sie dorthin zu kriegen.” (Eversberg 2014, S. 266)
Das ist, böse gesagt, das Geschäftsmodell der Leiharbeitsbranche: Die in die soziale Kälte Gestoßenen dort abzuholen, wo sie stehen – vor dem Ein-Euro-Shop – und sie dann der Verramschung in Industriegebieten, auf Laderampen und in Lagerhallen zuzuführen. Eben da also, wo eine Arbeitskraft wie die ihre gefragt ist – einfach, schmucklos, billig, jederzeit in beliebiger Menge zu haben und, vor allem, auch ohne Weiteres wieder loszuwerden.
In Deutschland sind derzeit 800 000 bis 900 000 Menschen als LeiharbeiterInnen beschäftigt. Die Branche boomt, seit 2003 im Rahmen der Hartz-Reformen vorher geltende entscheidende Beschränkungen (Synchronisationsverbot, Wiederbeschäftigungsverbot, Höchstverleihdauer) beseitigt wurden. Die Liberalisierung sollte die Voraussetzungen schaffen für das, was sich die Hartz-Kommission als “Herzstück des Abbaus der Arbeitslosigkeit” gedacht hatte: die “Personalserviceagenturen” (PSA). Als öffentlich-private Joint Ventures zwischen Arbeitsagenturen und Verleihfirmen sollten diese einen möglichst großen Teil der Arbeitslosen auf der Basis von Leiharbeitsverhältnissen direkt für ‘flexible’, kurzzeitige und diskontinuierliche Einsätze zur Verfügung halten – und sie damit zugleich ‘aktivieren’ und ‘motivieren’. Die damals geäußerte Hoffnung, diese Form der Leiharbeit zum “Sprungbrett” zurück in den Arbeitsmarkt machen zu können, erwies sich als verfehlt: Das Experiment PSA setzte sich nie in größerem Maßstab durch und ist inzwischen längst beerdigt. Was folgte, war indes ein enormer Wachstumsschub der regulären kommerziellen Leiharbeitsfirmen.
Dabei ist Leiharbeit nur die augenfälligste Form der Verramschung von Arbeitskraft. Zahlenmäßig weit bedeutsamer – und vor allem in Dienstleistungsbereichen (Handel, Gastronomie, Reinigungsgewerbe, Gesundheits- und Sozialwesen, Post- und Kurierdienste) anzutreffen – sind die in der Bundesrepublik Deutschland offiziell mit entwaffnender Ehrlichkeit “geringfügig entlohnte Beschäftigung” genannten ‘Minijobs’: Teilzeitarbeiten mit maximal 450 Euro Lohn im Monat bei eingeschränkter Sozialversicherung, in denen seit Jahren stabil fünf Millionen Menschen – zwei Drittel davon Frauen – ausschließlich tätig sind, weitere zweieinhalb Millionen im Nebenjob. In diesen Sektor fällt all die Arbeit, die zwar irgendwie gemacht werden muss, für die sich die neu-bürgerliche Mitte – immer auf stetige Steigerung des eigenen Werts bei Abwälzung der unvermeidlichen Kosten auf andere bedacht – selbst zu schade – nein: zu gut ist. Es läge nahe, hier eine Renaissance der ‘dienenden Arbeit’ alt-bürgerlicher Provenienz zu sehen – nur dass mit der Verbreiterung der Basis derer, die sich bedienen lassen, Respekt und Verbindlichkeit dem dienenden Personal gegenüber verloren gegangen sind. Eben das macht den Ramschcharakter dieser Arbeiten aus.
Seine ultimative beschäftigungspolitische Entsprechung findet der Abverkauf billiger und ungewollter Restposten im Ein-Euro-Shop jedoch in den sogenannten “Ein-Euro-Jobs”: “Arbeitsgelegenheiten”, entgolten durch ein kleines Zubrot zum Arbeitslosengeld II. Ihnen werden diejenigen zugewiesen, die auf anderem Wege in absehbarer Zeit gar nicht in Arbeit zu bringen sind. So groß die öffentliche Empörung nach der Einführung dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments auch war, so glücklich zeigen sich doch in empirischen Studien Befragte, die nach langer Arbeitslosigkeit in solchen Jobs arbeiten. Am eigenen Leib haben sie erlebt, dass der völlige Ausschluss von marktvermittelter Verwertung ihrer Arbeitskraft deren völliger Verschrottung gleichkommt. Dem ziehen sie instinktiv den Ausweg über die Resterampe vor, weil sie so immerhin der Form nach an die Arbeitsgesellschaft angekoppelt bleiben. Beispielhaft ist das Zitat einer 24-jährigen ostdeutschen Leiharbeiterin, die zum Befragungszeitpunkt kurz vor der Entlassung stand: “Ja, ich würde och wieder [so einen Job] annehmen. Hab ich och schon gesagt zum Arbeitsamt. Einfach aus dem Grund […] überhaupt was zu machen. Wo ich sagen kann, ich gehe 15 Stunden die Woche arbeiten. […] Ich würde Reinigungskraft machen. Ich würde mich auf die Straße stellen und Flyer verteilen, das würde ich och noch machen. Damit hätte ich kein Problem. Also zumindestens irgendwas zu haben, irgendwas zu machen. Und nicht wirklich daheim zu sitzen vorm Fernseher.” (Eversberg 2014, S. 596)
Bei denjenigen, denen nicht schon ihr verinnerlichtes Arbeitsethos die erzwungene Tatenlosigkeit zur Hölle macht, tragen die Behörden dafür Sorge, dass sie sich wie menschlicher Schrott fühlen: “Und dann wenn, wenn sie [die ARGE] irgendwas von einem wollen, dann musst du ruckzuck da sein, sonst kriegst du was gesperrt. Aber wehe du [hast einen Anspruch auf etwas], dann kannst du drei Wochen warten oder so. Ach noch mehr. Jeder Antrag muss mindestens zwei Wochen warten, bis du irgendwann mal ‘ne Antwort hörst. […] Kotzt mich so an. Unglaublich.” (23-jähriger Leiharbeiter, Westdeutschland)
Spätestens angesichts solcher Beispiele erscheint die Rede von der Verramschung der Arbeitskraft weniger als zynische Metapher denn als Beschreibung einer zynischen Realität. Inwiefern aber schließt der Ramschbegriff auch jenseits solchen Zynismus ein Verständnis dafür auf, was mit Menschen geschieht, deren Wissen und Geschick, deren über Jahre erworbene Fähigkeiten und Qualifikationen derart zu Restposten deklariert und entwertet werden? “Ramsch”, so klärt der Duden auf, ist knapp definiert ein “bunt zusammengewürfelter Haufen von etwas Wertlosem”. Nehmen wir also die beiden Elemente dieser Bestimmung – heterogene Kumulativität und Wertlosigkeit – zum Ausgangspunkt, um in der Anwendung auf das menschliche Leben den diagnostischen Nutzen des Ramschbegriffs auszuloten.
Ein bunt zusammengewürfelter Haufen …
Mit den Beispielen Leiharbeit, Minijobs und “Ein-Euro-Jobs” ist die breite Palette der real existierenden, mehr oder weniger ramschförmigen Beschäftigungsformen erst angerissen. Hinzu kommen zum Beispiel befristete Projekttätigkeiten, Werkvertragsarbeit, serielle Praktika, abhängig ‘freie’ Tätigkeit und neuartige, erst im Internetzeitalter denkbar gewordene Formen wie das ‘Cloud Working’. Gemeinsam ist allen diesen Modi des Arbeitens, dass die Art des Zugriffs, den die beschäftigende Instanz auf die subjektiven Potenziale der Menschen ausübt, und die dafür gewährte Bezahlung, auf eine bestimmte Weise limitiert ist. Ungeachtet allen Geredes von der “Subjektivierung der Arbeit” als Zugriff auf “die ganze Person” oder “alle subjektiven Potenziale” sind arbeitende Menschen unter solchen Bedingungen eben nie als ganze Menschen gefragt. Ge- und verkauft werden stets nur einzelne ihrer “Kompetenzen”, sprich: diverse Fähigkeiten, Wissensbestände und persönlichen Eigenschaften, die sie sich im Laufe ihres Lebens angeeignet haben. (Zugegeben: Richtig ist, dass es “auf alles” ankommen kann – jedes zufällige Können, jeder Charakterzug könnte sich als nützlich erweisen -, aber eben nie auf alles zugleich, sondern immer nur auf genau jene Elemente, die aktuell gefragt sind, und auf die allein sich auch die Vergütung bezieht). Wenn eine etwas Bestimmtes kann – Stapler fahren, ins Englische übersetzen, Säcke schleppen, Telefongespräche führen -, und dafür angeheuert wird, dann bezieht sich der geschlossene Arbeitsvertrag jeweils auf genau diese Fähigkeit, die für einen mehr oder weniger klar definierten Zeitraum innerhalb spezifizierter Phasen und an spezifizierten Orten der Arbeitgeberin überlassen wird. Aus kapitalistischer Sicht hat das den entscheidenden Vorteil, dass keine Verpflichtung auf den Kauf der gesamten Arbeitskraft einer großen Zahl von Menschen ‘en gros’ und auf unbestimmte Zeit eingegangen werden muss: Die mit der Investition in Arbeitskraft verbundenen Risiken lassen sich minimieren, und die Kosten dafür senken, wenn stets nur bedarfsgenau jene Kompetenzen eingekauft werden, die in einem kurzen Planungshorizont absehbar real benötigt werden.
Der pauschale Kauf des Gesamtpakets der Arbeitskraft einer Person für mehrere Jahrzehnte am Stück erscheint demgegenüber immer häufiger als kaum vertretbare Investitionsfestlegung (Holst 2014); birgt er doch das Risiko, dabei auch allerlei Kompetenzen mitzubezahlen, die überhaupt nie gebraucht werden, schnell veraltet sind oder nur selten tatsächlich zur Anwendung kommen. Wer in solch einer Investitionslogik denkt, stellt sich die Arbeitskraft eines Menschen als ein Bündel von Kompetenzen vor, die sich jeweils einzeln und für Zeiträume von wechselnder Dauer (im ‘Cloud Working’ bis hinab in den Minutenbereich) kaufen und verkaufen lassen. Solches Denken bricht fundamental mit der Logik der Beruflichkeit, die sich in den Arbeitsgesellschaften gerade der deutschsprachigen Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Norm durchgesetzt hatte. Hier galt: Wer einen Beruf erlernt hatte und sagen konnte “Ich bin Bürokauffrau” oder “Ich bin Bäcker”, hatte damit nicht nur ein in der Ausbildungsordnung definiertes standardisiertes Set an Kompetenzen erworben. Untrennbar damit verbunden war die Teilhabe an einer Berufsidentität und die Bindung an das Kollektiv derer, die den mit dieser Identität verbundenen Status gemeinsam erkämpft hatten und verteidigen konnten. Der Berufstitel begründete im glücklichen Regelfall den Anspruch auf eine soziale (Mindest-)Position, die sich auf das Gesamt dieses Fähigkeiten-Identitäts-Komplexes stützte und an die sich sowohl gesetzlich (Arbeitsrecht, Sozialversicherungen) als auch kollektivvertraglich verankerte Garantien knüpften. Das beruflich bestimmte Kollektiv war also in dieser Phase die entscheidende Ressource, die es den Einzelnen erlaubte, auf der Unteilbarkeit (eben In-Dividualität) ihrer Eigenschaft als ‘Berufssubjekte’ zu bestehen und die dauerhafte und pauschale Bezahlung des Gesamts der entsprechenden Fähigkeiten durchzusetzen.
Inzwischen aber haben sich die Verhältnisse tiefgreifend geändert. Das hat technische Ursachen – mittels Internet und Mobiltelefonie lassen sich Produktionsprozesse in früher ungekannter Weise kurzfristig und kleinteilig koordinieren -, aber auch soziale: Gewerkschaften und andere Kollektivinstanzen haben entscheidende Machtressourcen verloren, mittels derer sie früher die Wirksamkeit des Berufsdispositivs durchsetzen konnten. Dem räumlich und zeitlich diskontinuierlichen Zugriff auf einzelne Persönlichkeitsbestandteile durch das Kapital, verpflichtet lediglich den Imperativen der Verwertung, steht – gerade am prekären unteren Rand der Arbeitsgesellschaft – kaum noch etwas im Wege. Die Subjekte sollen sich nicht länger an Beruflichkeit und darauf gegründeten Ansprüchen orientieren, sondern eine Neubestimmung als aus heterogenen Einzelbestandteilen zusammengesetztes oder -gewürfeltes “dividuelles” Kompetenzsubjekt als Muster ihres Selbstverhältnisses übernehmen.
All das bedeutet nun aber nicht, dass das verberuflichte und langfristige ‘normale’ Beschäftigungsverhältnis einfach so verschwindet. Die Dynamik der “Dividualisierung” am Arbeitsmarkt bewirkt vielmehr einen Prozess des Ausfransens nach oben und unten: Die Nachfrage nach der benötigten Arbeitskraft verschiebt sich analog zu den Veränderungen in der Palette der hergestellten Güter und Dienstleistungen. Die Logik dieser Verschiebung erschließt sich bei näherem Blick auf den organisierten Kapitalismus der Nachkriegszeit. In dieser Phase waren sowohl die Produkt- als auch die Arbeitsmärkte nach einer Logik kategorisierender Standardisierung strukturiert: Einer standardisierten Taxonomie beruflich definierter Beschäftigtenkategorien auf der einen Seite entsprach eine ebenso standardisierte Palette an Konsumprodukten auf der anderen. Auf beiden Seiten dieser Gleichung läuft der Hase heute entscheidend anders.
Nehmen wir als Beispiel das prototypische Konsumobjekt, das uns seit jener Ära auf Schritt und Tritt entweder im Weg steht oder über die Zehen zu fahren droht, sobald wir das Haus verlassen: das Automobil. Der organisierte Kapitalismus der 1950er- und 1960er-Jahre stieß ein Schachtelsystem von Fahrzeugtypen aus, die sich vertikal (besternte Schlachtschiffe für die oberen, Knutschkugeln für die unteren Etagen) wie horizontal (Kombis für Familien, Sportwagen für jugendliche Aufschneider) ausdifferenzierten, in sich aber jeweils hoch standardisiert waren und in großer Stückzahl jahrelang unverändert hergestellt werden konnten. Damit gab es passende Fahrzeuge nicht nur für fast jeden Geldbeutel, sondern innerhalb des begrenzten Repertoires standardisierter Identitäten auch für fast jede typische gesellschaftliche Position, die sich aus der beruflichen (Arbeiter, Angestellte, Beamte, niedrige, höhere und höchste Hierarchiestufen) wie familiären (‘Ernährer’, Hausfrau und Mutter) Arbeitsteilung ableitete. Die Krise dieser Ordnung begann, als die Grundbedürfnisse der Menschen nach Autos, Fernsehern, Küchenmaschinen und dergleichen fürs Erste befriedigt waren und der weiter zunehmende Lohnwohlstand ihnen erlaubte, speziellere, weniger standardisierte Lebensstile und Vorlieben zu entwickeln.
Der kontrollgesellschaftliche Just-in-time-Kapitalismus der Gegenwart reagiert auf diese seit den 1960er-Jahren stetig fortschreitende Ausdifferenzierung der Geschmäcker auf eine ganz bestimmte Weise: Für die breite Masse der Konsumentinnen bleibt der Katalog handelsüblicher Modelle zwar in alle Jahre wieder neu aufgelegten Versionen erhalten, doch gleichzeitig eröffnet sich auf der Basis der gemeinsamen “Plattformen” jener Modelle eine beinahe unendliche Vielfalt von Anpassungsmöglichkeiten und Zusatzoptionen. Kein einzelnes Fahrzeug wird heute mehr produziert, ohne dass seine Spezifikationen zuvor bis ins Detail auf Kundinnenwunsch festgelegt sind. Über die verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette werden diese nun so passgenau durchgereicht, dass zum Beispiel der individuell angefertigte Kabelbaum – also das präzise auf die gewünschte Ausstattung des Fahrzeugs angepasste Bündel aller in seinem Innern zu verlegenden Leitungen – pünktlich kurz vor der Montage bei der Zulieferfirma abgeholt und an der entsprechenden Stelle des Fließbandes abgestellt werden kann. Erledigt wird der Transport von Leiharbeitskräften. Sie werden von einer mit der werksinternen Logistik betrauten Drittfirma nach Bedarf angeheuert, die ihren Einsatz mittels eines ausgefeilten digitalen Koordinationssystems steuert.
Hier also treffen wir sie wieder, die verramschten Arbeitskräfte. Selbst zur Kundinnen-Königin in der Welt ihrer flexibel-standardisierten Produkte zu werden, bleibt ihnen auf dem Lohn- und Sicherheitsniveau ihrer Jobs einstweilen versperrt. Aber die Hoffnung hierauf soll sie anspornen, sich tagein, tagaus nach Kräften zu bemühen, um in der Mühle zu bleiben und vielleicht früher oder später den Sprung auf eine feste Stelle in der Logistikfirma zu schaffen – und dann vielleicht doch auch hinüber zur werkseigenen Verleihfirma, die noch besser zahlt, und möglicherweise doch irgendwann auch in die Stammbelegschaft. Wer auf diesen unteren Plätzen der arbeitsgesellschaftlichen Stufenleiter rangiert, ist von individueller Mobilität zwar nicht völlig ausgeschlossen, bleibt aber auf den Ramsch des gesellschaftlichen Fuhrparks verwiesen: Gebrauchtwagen der älteren und klapprigeren Sorte, von Verwandten geerbte Altfahrzeuge, billige standardisierte Modelle aus Niedriglohnländern, Mopeds, Motorroller und dergleichen.
Zugleich aber bricht auch nach oben hin ein Luxussegment ganz aus dem flexibilisierten Standardisierungskorsett aus: Wer es sich leisten kann, lässt sich ohne Vorgaben genau das anfertigen, was den eigenen Wünschen entspricht. Der Absatz im Luxussegment von “Custom Cars” und handwerklich hergestellten Kleinserien, von Luxuskarossen und High-End-Sportwagen, wächst seit langem stetig und blieb selbst von der Finanzkrise unbeeindruckt.
Ein derartiges Ausfransen in beide Richtungen finden wir in diversen Gütermärkten: bei Lebensmitteln zwischen den Billiglinien der Discounter nach unten und Bio- und Feinkostläden nach oben; bei Kleidung zwischen KiK und Luxus-Designerboutiquen; bei Haushaltswaren zwischen besagtem Ein-Euro-Shop einer-, Manufactum andererseits. Die Gütermärkte verändern sich nach der gleichen Logik wie die Arbeitsmärkte, und die Palette der Produkte, mit denen die ausdifferenzierten Geschmäcker bedient werden, splittert sich ebenso auf wie die Landschaft der Positionen im Arbeitsleben, von denen aus die Nachfrage nach ihnen formuliert wird.
Neben unterschiedlichen Vorlieben geht es aber auch um unterschiedlich ausgeprägte Möglichkeiten: Wer oben ist, kann jederzeit frei aus allem wählen. Wer der Mitte angehört, kann bis zum angemessenen Niveau innerhalb einer Reihe von Produktkategorien eine auswählen und die Details des Produkts nach Belieben festlegen. Wer auf den unteren Plätzen existiert, hat eben mit dem Ramsch Vorlieb zu nehmen, dem zusammengewürfelten Haufen dessen, was sich, im Supermarktregal verschmäht oder billig aus Fernost importiert, in Ein-Euro-Shops und Restpostenmärkten stapelt und dem Ausschuss, der beim Discounter als billigste Produktkategorie ins Regal kommt.
Die Analogie zum Automarkt weist zugleich noch auf etwas anderes hin, nämlich dass auch die formal stabil beschäftigte Mitte, deren Arbeitskraft weitgehend im Aggregatzustand der Beruflichkeit verblieben ist, sich der flexibel-kapitalistischen Kleinteiligkeitslogik nicht entziehen kann. Wie die Autokäuferin bis ins Detail über das Produkt, das sie kauft, bestimmen kann, erwartet auch ein Unternehmen, das sich darauf einlässt, die Arbeitskraft einer Person auf absehbar längere Zeit anzukaufen, entsprechende Einflussmöglichkeiten. Die Trägerin der gekauften Arbeitskraft hat sich bereit zu zeigen, ihr aktuelles berufliches Kompetenzprofil nicht als fixen Kanon zu begreifen, der Ansprüche auf ein bestimmtes Absicherungsniveau dauerhaft sichert. Ihre Kompetenzen gelten lediglich als Ausgangsplattform, an der sie durch ständige Weiterbildung und aktive Neupositionierungen arbeiten muss, um sich den Platz im Betrieb immer wieder neu zu verdienen.
Robert Castel hat schon vor Jahren scharfsinnig beobachtet, wie die arbeitnehmerische Mitte der Gesellschaft angesichts dieser Aktivierungs- und Dynamisierungslogik nicht nur hinsichtlich der Beschäftigungsmodelle nach oben wie unten hin ausfranst, sondern auch bezüglich der Selbstverhältnisse der Arbeitenden. Er erkannte, dass Subjekte in der Arbeitsgesellschaft kollektiver Sicherungen und Garantien bedurften, um im vollen Sinne “moderne Individuen” sein zu können – und eben diesen Status sah er angesichts des Verlusts der Kollektivität zunehmend bedroht (Castel 2011). Weil Castel aber über keine Vorstellung einer zugleich entkollektivierten und nicht-individuellen Existenzform der Arbeitskraft verfügte – sprich: über keinen Begriff von “Dividualisierung” -, konnte er auch dieses Ausfransen nur als “Individualisierung” beschreiben: Während nach oben hin “Individuen im Übermaß” den gesellschaftlichen Zusammenhang aufkündigten, um den Früchten ihres Reichtums zu frönen, fielen nach unten “bloße Individuen” aus ihm hinaus, der Solidarität beraubt und auf sich selbst zurückgeworfen. Angesichts der oben umrissenen Kleinteiligkeitslogik ist dieses Bild schief. Was die nach oben hin ausbrechenden Eliten ausmacht, ist demnach nicht ein sorg- und rücksichtsloser Individualismus, sondern die selbstbewusste Zurückweisung der standardisierten Norm des Berufs und der an sie geknüpften Sicherungen als eines unnötigen Ballasts. Jenseits jedes typischen Musters meinen die Eliten, sich über geschickt kombinierte Studiengänge, Auslandsaufenthalte, Sprachkenntnisse, soziale Netzwerke und allerlei ähnliche Ressourcen ein unverwechselbares ‘Portfolio’ zulegen und strategisch weiterentwickeln zu können, das im Wettbewerb um die besten Aufträge und spannendsten Projekte stets die Oberhand verspricht.
Im krassen Gegensatz zu diesen sorgfältig zusammengestellten Kompetenz-‘Portfolios’ gleicht das Fähigkeitsinventar prekarisierter Arbeitskräfte oft dem sprichwörtlichen “zusammengewürfelten Haufen”: noch brauchbare Reste eines in Trümmern liegenden Berufs (Pünktlichkeit, Disziplin, übertragbare handwerkliche Fähigkeiten), zufällig in der Familie ‘mitbekommene’ Kapazitäten (milieuspezifisches Arbeitsethos, heimwerkerisches Geschick, Beherrschung einer nicht-autochthonen Muttersprache), dazu die eine oder andere in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hinzugewonnene Kompetenz oder Mikroqualifikation. Nicht zuletzt das kennzeichnet die Erfahrung des Verramschtwerdens: unfreiwillig und entgegen aller Mühen zu etwas gemacht worden zu sein, was Kohärenz und Einheitlichkeit vermissen lässt, was sich eigener Planung und Selbstbestimmung entzieht und was nur um den Preis völliger Abhängigkeit von Marktkräften und arbeitgeberischen Launen zu einem ausreichenden Einkommen führt. Eben das macht diese Art von Situation prekär, im Wortsinne des lateinischen precari (bitten, beten): Die erzwungen dividualisierte Arbeitskraft kann nur beten, dass die Fähigkeiten, aus denen sie besteht, morgen noch etwas wert sein und ihr weiter das Bestehen am Markt ermöglichen mögen – realen Einfluss auf ihre Situation hat sie nicht.
… von etwas Wertlosem
Gerade an diese Erfahrung fremdbestimmter Fragmentierung und Unterordnung unter die Zwecke anderer knüpft sich auch die Entwertung der so behandelten Arbeitskraft. Wie bei anderem Ramsch auch ist für ihre Lage bestimmend, dass sie weniger ihrer Qualität als ihrer billigen Verfügbarkeit wegen gefragt ist. Was verramscht wird, hat häufig durchaus Wert gehabt, ihn aber verloren. “Ramsch” ist also auch der Status dessen, was in Erwartung der Erzielung eines gewissen (Mindest-)Preises erzeugt wurde und diese Erwartung angesichts veränderter Umstände in der Realität des Marktes nicht einlösen kann. Das betrifft die seit der Finanzkrise sattsam bekannten “Ramschanleihen” (junk bonds) ebenso wie die nach jahrelangen Mühen erworbenen Bildungstitel vieler Prekarisierter: In beiden Fällen erweisen sich Annahmen über die Einhaltbarkeit des an diese Titel geknüpften Versprechens angesichts des Marktgeschehens als Trug; das zuvor als Garant eines allgemein anerkannten, also auch weiteren Tausch ermöglichenden Werts betrachtete Papier gilt auf einmal als Makulatur.
Es ist also der Markt, der Menschen wie Dingen den Wert nimmt – was aber dieser “Wert” eigentlich ist, wie er zustande kommt und warum er so plötzlich wieder verschwinden kann, erschließt sich damit noch nicht. Hierüber gibt es freilich schon seit Jahrhunderten ebenso breite wie hitzige Debatten – für die gegenwärtigen Zwecke soll uns aber David Graebers (2012) knappe und erhellende Bestimmung genügen: Wert, so Graebers Synthese der anthropologischen Wertdebatte, sei im Kern “die Bedeutung menschlichen Handelns”, die nie eindeutig gegeben und zweifelsfrei bestimmbar, sondern subjektiv und umkämpft sei. Dinge oder Titel haben Wert nur als Ergebnis der Tätigkeiten, die geleistet werden mussten, damit es sie gibt, und gemäß der Wichtigkeit, die Leute diesen (vergangenen) Tätigkeiten aktuell zumessen. “Wert” kommt mithin nicht Dingen als solchen zu, sondern immer nur einem Tun, dem unterschiedliche Bedeutung zuerkannt werden kann.
Die Rede vom “Wert der Arbeitskraft” meint damit die Anerkennung all jener Tätigkeiten, die bis zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Arbeitsvertrags erbracht werden mussten, damit die Trägerin der gekauften Arbeitskraft zu einer Person werden konnte, die diese Arbeit überhaupt tun kann. Das hebt hervor, was allzu oft übersehen wird: In einer Arbeitsgesellschaft, in der sich Ansehen und Selbstwertgefühl erwachsener Menschen primär an Erwerbsarbeit festmachen, wird mit der Arbeitskraft eines Menschen nicht nur dessen eigene “Selbsterzeugungsarbeit” – Lernen, Erfahrungserwerb, Körperpflege und so weiter – entwertet. Vielmehr betrifft der Entzug der Anerkennung immer zugleich die tätig verausgabte Zeit jener anderen Menschen, die nötig war, um die Arbeitskraft der betreffenden Person überhaupt zu entwickeln. Die all diesen menschlichen Anstrengungen gegenüber grundsätzlich indifferente Logik der Markttransaktionen entwertet das Leben selbst und deklariert es als Ramsch. Das trifft nicht nur das (bisherige) Leben der Arbeitenden selbst, sondern auch das Leben derjenigen, die sie zur Welt gebracht, aufgezogen, ernährt und unterrichtet, geliebt, umsorgt und ermutigt haben. Der Zwang zur Verramschung der Arbeitskraft negiert damit die Bedeutung des Tuns all derer, die etwa im Gesundheits- und Bildungssystem tätig sind, genauso wie das jener Menschen, weit überwiegend Frauen, die freiwillig oder unfreiwillig die unbezahlte und damit im Kapitalismus von jeher “unsichtbare”, gesellschaftlich aber unverzichtbare Sorgearbeit in der Familie und anderen sozialen Nahbeziehungen erbringen. Indem die Logik des Marktes den “sichtbaren” Arbeitskräften, die aus diesen sozialen Beziehungsgeflechten hervorgehen, ihren Wert aberkennt*, delegitimiert sie auch das Tun großer Teile der Gesellschaft und stellt so letztlich das Soziale selbst in Frage. Und damit nicht genug: Die solcherart Delegitimierten kommen zugleich aus Sicht von Unternehmen und Politik als “untätige” Gruppen in den Blick, die ihre “Wertpotenziale” nicht angemessen realisierten und denen es nun ebenfalls mit “Aktivierungs”maßnahmen zu Leibe zu rücken gelte.
Entwerten lässt sich Leben aber immer nur aus einer Perspektive, die vom Leben abstrahiert und es auf absolute quantitative Größen zu reduzieren versucht – nie aus Sicht derjenigen, die es leben. Ihnen muss die Entwertung als ungerecht erscheinen, weil die Hervorbringung jeder ‘verwertbaren’ Arbeitskraft sozial enorm voraussetzungsvoll ist. Um in den hoch vernetzten, digital koordinierten Strukturen der gegenwärtigen Arbeitswelt dauerhaft bestehen zu können, muss die Arbeitskraft erhebliche Grundfähigkeiten besitzen – und sie muss zudem in der Lage sein, diese Kompetenzen gegen sich selbst einzusetzen, gegen die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Interessen und gegen die eigenen Bindungen an andere Menschen. Nur so lässt sich die Dominanz der Arbeit und ihrer Anforderungen über das eigene Leben herstellen, die der ‘flexibilisierte’ Arbeitsmarkt verlangt. Weil das Leben den dividualisierenden Anforderungen einer Arbeit untergeordnet werden muss, die Planbarkeit und Zuverlässigkeit systematisch untergräbt und dabei zugleich Selbstaufspaltung verlangt, wird es ein weiteres Mal entwertet. Die “Dividualisierung” verhindert die Aufrechterhaltung zuverlässiger sozialer Bindungen und erzwingt so den Verrat der Prekarisierten an jener Gesellschaftlichkeit, die sie erst zum Individuum machen könnte: Der Zwang zur Vernachlässigung des Selbst wie der anderen entwertet nicht nur die Arbeit der Menschen an ihrer eigenen Vergesellschaftung, sondern zerstört darüber hinaus in letzter Instanz auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Literatur:
Eversberg, Dennis: Dividuell aktiviert. Wie Arbeitsmarktpolitik Subjektivitäten produziert. Frankfurt am Main: Campus 2014.
Holst, Hajo: Zeitstrukturen der Flexibilisierung. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Unternehmenssteuerung. Habilitationsschrift, Friedrich-Schiller-Universität Jena 2014.
Castel, Robert: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburg: Hamburger Edition 2011.
Graeber, David: Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln. Aus dem Englischen von A. Stumpf, S. Koch, M. Grabinger und G. Werbeck. Zürich: diaphanes 2012.