Vergessen Sie Kuba!

Eine Rundreise durch die deutsche Bücherlandschaft, musikalisch begleitet vom "Buena Vista Social Club"

Am 27. Oktober 1492 erhielt Colba, wie die Eingeborenen die größte ihrer Inseln nannten, Besuch von spanischen Seefahrern. Ihr Admiral, der Genuese Christoph Kolumbus, wähnte sich auf Zipangu, jener sagenumwobenen Insel, die dem von Marco Polo erwähnten Reich des Großkahns vorgelagert war. Kolumbus war jedoch nicht in Japan, wie Zipangu damals genannt wurde, sondern auf Kuba gelandet. Bei der Begegnung mit den Ureinwohnern waren den ins Landesinnere entsandten Männern seltsame «Fackeln” aus gedrehten Blättern aufgefallen, die an einer Seite angezündet wurden, um den an der anderen Seite entstehenden Rauch zu inhalieren. Der Nichtraucher Kolumbus schenkte aber weder dem Tabak noch dessen außergewöhnlichem Aroma die geringste Aufmerksamkeit. Den unfreiwilligen Entdecker der Neuen Welt trieb nämlich vor allem eines um: die Gier nach Gold.

Die Ignoranz des Spaniers darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tabak den Taino-Indianern nicht etwa dazu diente, «ihr Fleisch zu betäuben”, wie Kolumbus etwas verächtlich ins Bordtagebuch notiert hatte. Im Gegenteil. Die getrockneten Blätter spielten eine wichtige Rolle im sozialen Leben und waren darüber hinaus ein unentbehrliches Element zahlreicher religiöser Riten. Seit 1865 die Kolonialherren hatten sich längst der Geheimnisse der Tabakkultivierung bemächtigt verwandelten sich in den Zigarren-Manufakturen die Pulte der Vorleser in Tribünen freien Denkens. Zum ständigen Programm der auf diese Weise kulturell und politisch ‘geerdeten’ Arbeiter (Charles del Todesco spricht von ihnen gar als den «Intellektuellen des Proletariats”) gehörten Balzac, Jules Verne, H. G. Wells und Zola.

Der Zigarrenrauch umnebelt sodann die beiden Unabhängigkeitskriege. Als 1895 José Martí, ein noch heute verehrter kubanischer Volksheld, zum Widerstand gegen die spanische Herrschaft aufrief, war sein Manifest symbolträchtig in ein Zigarrendeckblatt eingerollt. Schon zuvor hatte er den Aufständischen von Key West aus geheime Botschaften in Zigarren übermitteln lassen.

Nicht zuletzt war die Zigarre auch ständiger Begleiter der Revolutionäre (man schlage nur einmal den von Osvaldo und Roberto Salas herausgebrachten Fotoband auf). In Fidel Castros Revolution gegen General Batista taten sich die Zigarrenarbeiter als Nachfahren ehemaliger Sklaven waren die Kubaner afrikanischer Abstammung bis dahin von der politischen Macht weitgehend ausgeschlossen durch ihr ausgeprägtes politisches Bewusstsein hervor. Und als Gefangener erhielt der Comandante Botschaften, die, Martí lässt grüßen, in Zigarren steckten. Das Emblem des von ihm bevorzugten Glimmstengels zeigte den eingeborenen Krieger Hatuey vom Stamm der Taino, also einen Kubaner der präkolumbianischen Epoche. Cohiba, heute der Name einer berühmten Sorte, ist ebenfalls ein Wort der Taino-Sprache und bedeutet ‘Tabak’.

Warum ich mit einem so ausgedehnten Exkurs in die Geschichte dieses Nachtschattengewächses und der aus ihm angefertigten Zigarre beginne, möchten Sie erfahren? Aus zweierlei Gründen. Erstens, weil sich in diesem unscheinbaren Stab aus gezwirbeltem Blattwerk ein gutes Stück kubanischer Geschichte verdichtet. Ernesto ‘Che’ Guevara, ebenfalls ein Aficionado und wie Castro ein glühender Verehrer der Zigarre, betonte immer wieder, dass sie das einzige kubanische Nationalerzeugnis sei. Die Zigarre dokumentierte die Fähigkeit des sozialistischen Staates zur Hervorbringung eines Erzeugnisses, das an Qualität sämtliche kapitalistischen Marken weit übertraf. Selbstbewusst wurde sie wichtigen Staatsmännern wie Chruschtschow, de Gaulle, Mao Tse-tung und Churchill zum Verzehr angeboten.

Der zweite Grund ist, dass sich für den europäischen Betrachter das Selbstbewusstsein und der Eigensinn Kubas in keinem anderen Produkt als der Zigarre so schnell und beinahe rückstandsfrei in blauen Dunst auflöst. Ihr Genuss setzt kein Verständnis voraus; jeder kann sie sich nonchalant in die Tasche stecken, oder besser, im exklusiven Humidor unter Verschluss halten. Da braucht es Gegenbilder und Folien, die unsere verzerrten Vorstellungen von der kubanischen ‘Lebensart’ korrigieren helfen.

Vieles von dem, was uns über Printmedien, Kinoleinwände und Lautsprecher von Kubas Genüssen, Leben und Klängen erreicht, ist tropisch heiße Luft. Indem wir uns ausschließlich den Erlebniswerten der Zuckerrohrinsel hingeben, laufen wir Gefahr, Orte, Menschen und Ereignisse nicht mehr in ihrer gesellschaftlich-politischen Verflechtung wahrzunehmen, sondern als austauschbare Konsumgüter.

Ein Blick auf Karl-Heinz Raachs und Ulli Langenbrincks Kuba lässt schnell erkennen, dass Kuba sich inzwischen in einen gigantischen Touristen-Selbstbedienungsladen verwandelt hat. Eine bunte Mischung aus Poesie, Musik, Lebensfreude, Zigarren, Oldtimer-Raritäten und tief dekolletierten Mädchen samt Eintrittskarte in das sozialistische Freilichtmuseum darf es noch etwas mehr sein? Der Pauschaltourist erfährt’s am eigenen Leibe, aber natürlich ist jeder, der seine CD-Sammlung um die einschlägigen Silberlinge mit kubanischem Son aufstockt oder auf dem heimatlichen Balkon den eigenhändig angerührten Cuba libre oder Daiquiri verkostet Ernest Hemingway, der große Schriftsteller und noch größere Trinker hebt grüßend sein Glas derselben Augentäuschung erlegen.

Eine Zigarre und damit ein Erkennungszeichen kubanischer Identität, das ist sicher kein Zufall, balanciert Compay Segundo, eines der Mitglieder des berühmten “Buena Vista Social Club” (B.V.S.C.), auf dem Umschlag des Bandes Die Seele Cubas – Havanna und Musik zwischen den Zähnen. Zigarre rauchend lassen sich in diesem Buch auch Rubén Gonzales, Tata Güines, José Luis Cortés und Manuel Licea ablichten. Ich gehe jede Wette ein, dass solche Gesten beim europäischen Betrachter nicht ankommen. Zu reibungslos vermischen sie sich mit den Bildern von kubanischer Lebensart, Sinnlichkeit, Hedonismus und Revolutionsromantik. Denn sogar das Che-Guevara-Poster aus den Sechzigern darf mittlerweile wieder ungeniert rausgekramt werden. Das ausgehöhlte Idol für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Kämpfergeist, angefüllt mit persönlichen Wunschträumen und ein wenig süßer Trauer und Melancholie über die eigenen geplatzten Ideale. “Hasta siempre, Comandante” von Carlos Puebla ist das von Kuba-Touristen am häufigsten gekaufte Mitbringsel.

Wie in den Schriften des Kolumbus ein inneres Spannungsverhältnis zu Tage tritt: der ständige Zwiespalt zwischen einer aus utopischen Bedürfnissen gespeisten und von sinnlichen Qualitäten affizierten Betrachtungsweise und einem nüchternen, die üppige Natur und die nackten, waffenlosen Wilden auf ihre materielle Verwertbarkeit hin taxierenden Blick so ist auch die europäische Sicht auf das Südseeparadies Kuba Produkt einer Mythologisierung. Natürlich begegnen uns hier keine Monstren und Fabelwesen, mit denen dem gemeinen Leser der fiktiven und echten Reisebeschreibungen ebenso wie der ‘wissenschaftlichen’ ethnografischen Berichterstattung noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts die überseeische Welt bevölkert zu sein schien. Dafür aber kommen wir in Kontakt mit dem Fabelhaften einer Wahrnehmung, die die fremde Kultur ausschließlich in den Begriffen und Bildern der eigenen beschreibt.

Worauf ich so umständlich hinauswill? Das Klischee von den lebenslustigen Senioren mit Rhythmus im Blut, die trotz Kommunismus, US-Embargo und angespannter Versorgungslage munter drauflos musizieren, weist eine entfernte Verwandtschaft mit dem verschwommenen Bild auf, das sich Kolumbus von den Eingeborenen machte. Es hat mit den wirklichen Verhältnissen nicht viel zu tun, sondern erschafft sich unabhängig von diesen ganz eigenständige Einschreibflächen. Nur dass das Phantasma jetzt nicht mehr die ‘guten’, sondern die fröhlichen, die Zigarre rauchenden und musizierenden ‘Wilden’ zum Gegenstand hat. Und das Kuriositätenkabinett für das schaulustige Publikum verwandelt sich, aus dieser Perspektive bemerkt man den Unterschied kaum, in die Carnegie-Hall, auf deren Bühne wie im Tagtraum eine Handvoll rentenberechtigter B.V.S.C.-Musiker stolperte.

Aber verbleiben wir noch kurz, bevor wir uns der wichtigsten dieser Projektionsflächen westlichen Genuss- und Selbstgenussstrebens, der kubanischen Musik, zuwenden, bei den Produkten des hiesigen Buchmarkts. Wir finden vor: Etliche mehr oder weniger gelungene Kuba-Romane Marke Auftrag Havanna, fast zwei Dutzend Reiseführer und Road Maps, Kalender mit Kuba-Motiven, Bücher zu kubanischer Architektur, Kunst und Theater sowie immerhin noch acht gestandene Bände zur kubanischen Literatur. Kuba-Titel, in denen verdächtig oft Begriffe wie “Sehnsucht”, “Flucht” und “Traum” auftauchen, lassen vermuten, dass es darin vor allem um diejenigen zu gehen scheint, die in den hiesigen Gefilden bitteren (Sinn-)Mangel leiden und sich einen Ort paradiesischer Entrückung zusammenfantasieren.

Kuba bleibt uns fremd ein Verdacht, der durch David A. Harveys Vorwort zu seinem Kuba-Fotoband noch einmal bestätigt wird. Mit welchem Recht, bitte schön, kann der Fotograf, der doch aus eigenen Erfahrungen von Observationen und Vernehmungen durch den Geheimdienst berichtet, behaupten, dass Politik und Gesellschaft Kubas quasi berührungslos nebeneinander existieren? Der Leser reagiert mit einem Schulterzucken. Dafür stößt er noch im selben Text auf eine Charakterisierung der kubanischen Mentalität, die er zwar in den naiv-unbefangenen Reiseberichten der frühen Entdecker vermutet hätte, nicht aber in einer Neuerscheinung der renommierten National Geographic Society: “Ich werde oft gefragt, was den Kubanern am meisten Spaß macht. (…) Am liebsten das, was die Leute auf diesem Foto tun, nämlich herumlungern. Ein unglaublich geselliges Volk, rundum glücklich, wenn sie zusammenhocken.”

Man ist verzweifelt angesichts der Vielzahl von Büchern, deren Autoren zwar unermüdlich vermeintliche Attribute des Kubanischen wiederholen auf Platz eins rangiert das sonnige Gemüt und die Freundlichkeit der Inselbewohner , die sich der Fragwürdigkeit solcher Zuschreibungen aber keinen Augenblick lang bewusst sind. Ein Großteil der Kuba-Literatur wird nicht von ungefähr von opulenten Fotobänden eingenommen, wobei ausdrücklich zu bezweifeln ist, dass die zumeist isoliert auftretende visuelle Information das Verständnis des Abgebildeten befördern hilft. Sollte vielleicht ganz darauf verzichtet werden, den “morbiden Charme” ebenfalls eine geläufige Etikettierung auf Fotopapier zu bannen, da die Aufnahmen von Tanzvergnügungen, Boxveranstaltungen, heruntergekommenen Bauten, ausgelassenen Straßenszenen und vom Zigarrenqualm gegerbter Gesichter beim westlichen Betrachter automatisch jenes grobkörnige Weltbild erzeugt, dem Michael Zeuskes instruktive Studie Insel der Extreme entgegenarbeitet?

Zeuske beschreibt eine paradoxe Situation: Während sich mit der weltweiten Renaissance kubanischer Musik, wie der Erfolg der CD und des Wim-Wenders-Films Buena Vista Social Club zeigen, eine Entpolitisierung des Kubabildes in Westeuropa anbahnt, bleiben allgemeine politische Trends weitgehend unbeachtet. Wen interessieren schon substanzielle Fragen wie solche nach dem Gesundheits- und Sozialwesen, wenn sich nur aus den Oberflächenerscheinungen Kapital schlagen lässt: “Sie (die Elite Kubas) verkauft (…) kubanische Kultur, Son, Cuba Libre und Cohiba sowie die Fama des rekonstruierten Fünfziger-Jahre-Havannas inklusive die Schönheit der kubanischen Mulata. Den leichten Hauch von Tristesse geben dem Ganzen die Stimmen von Ibrahim Ferrer und Omara Portuondo. Die Zukunft könnte (…) im Tourismus, der Kultur und im weitesten Sinne in einer Dienstleistungsökonomie, flankiert von spezialisierter Genussmittel-, Gemüse- und Obstproduktion, liegen.”

Zeuskes illusionslose Bestandsaufnahme verleiht dem Leser die nötige Kraft, um Marco Paoluzzos Cuba aufzuschlagen. So gestochen scharf die gekonnten Schwarz-weiß-Aufnahmen des Schweizers sind, so diffus bleiben seine Eindrücke beim Anblick von Mangelwirtschaft und ökonomischem Niedergang: “Ganze Straßenzüge einstiger Prachtbauten waren ganz offensichtlich dem Verfall geweiht, von den Fassaden blätterte der Putz. (…) Und trotzdem erlag ich, kaum angekommen, dem Charme dieser Stadt. Es war ganz einfach Liebe auf den ersten Blick.” Das kubanische Volk, so lässt uns Paoluzzo stellvertretend für die allermeisten Kuba-Bücher wissen, ist fröhlich, warmherzig und von einer bewundernswerten Gelassenheit trotz ständiger Strom- und Wasserunterbrechungen, trotzstundenlangem Schlangestehen um Lebensmittel. Auch Wenders, der beharrlich die “Ungebrochenheit” dieser Menschen lobt, das Lächeln, die freundlichen Blicke, die “Ehrlichkeit” und “Direktheit”, kommt nicht ohne den Sehschlitz dieses großen ‘Trotzdems’ aus, das die kubanische Mentalität nicht anders als ein Desiderat, eine Schwundstufe eines Anderen zu beschreiben vermag. Vermutlich sind es gerade die Relikte des einstigen Luxus, angesichts derer wir für Kuba so viel Verständnis aufbringen.

Die zweifelhafte Erfolgsgeschichte der kubanischen Rhythmen in Europa und den USA beginnt, als der amerikanische Gittarist und Produzent Ry Cooder, der sich schon zuvor als Goldgräber in ganz unterschiedlichen musikalischen Kulturen versucht hatte (der hawaiianischen, der afrikanischen, der indischen, der indianischen und anderen), Mitte der neunziger Jahre Aufnahmen mit kubanischen und afrikanischen Musikern in Havanna plant. Ein Studio war angemietet, auf Grund von Visaproblemen konnte Ali Farka Touré mit seiner Band aus Mali nicht nach Kuba reisen. Dennoch sollte der Schürfversuch nicht erfolglos bleiben. Um das Studio nicht ungenutzt zu lassen, stellte der Produzent Juan de Marcos Gonzáles eine Truppe aus teils noch aktiven (Omar Portuondo, Eliades Ocha) und teils in der Versenkung verschwundenen (Compay Segundo, Rubén Gonzáles, Ibrahim Ferrer) Musikern zusammen.

Das Resultat dieses Zusammenspiels sind die Stücke des schon mehrfach erwähnten B.V.S.C. Monatelang stürmten deren Aufnahmen die Verkaufslisten, spätestens jedoch seit Wenders’ Film in den Kinos lief, kann man von einem regelrechten Boom des kubanischen Son sprechen. Die vergessenen Musiker wurden zu Weltstars. Wim und Donata Wenders’ Buch zum Film, das diese Begegnung in allen wichtigen und überflüssigen Details dokumentiert, zeigt, dass die späte Karriere auf die Betroffenen wie eine Erlösung gewirkt haben muss. Ibrahim Ferrer: “Man hatte mich vergessen. Ich hockte nur zu Hause rum.” Aber es zeigt die alten Männer auch völlig entäußert, entwurzelt und überfordert mit dem Reichtum und Glanz von New York. Wie ein Schicksalsschlag muss sie der neue Ruhm überfallen haben, und so bestaunen sie pausenlos die neue Umgebung. Bezeichnenderweise schwört Ferrer im Gespräch mit Cooder, glückstaumelnd und unterwürfig zugleich, sogar der Zigarre ab: “Ich schwöre, daß ich nicht mehr rauchen werde. Ehrlich! Oder nur ganz wenig. Ganz wenig. Und trinken will ich auch nicht mehr.” Spätestens mit seiner ‘Entdeckung’ war das Leben des Greises nicht mehr dasselbe.

Sehr kompetent und mit musikwissenschaftlichem Hintergrund informiert Maya Roys Buch Buena Vista. Die Musik Kubas über Herkunft, aktuelle Entwicklung und verschiedene Stilrichtungen. Der mit einem erklärenden Glossar und einer ausführlichen Diskografie ausgestattete und darüber hinaus mit einer CD mit Musikbeispielen (werden im Buch erläutert) mehr als üppig bestückte Band macht die eitle Selbstbespiegelung der sonstigen Kuba-Literatur fast vergessen. Legt man sich zur Lektüre noch einen Tonträger von “Contacto Latino”, einem ausgewiesenen Spezialisten für Latino-Klänge auf neben dem klassischen Son puro cubano ist hier vom Charanga eines Cándido Fabré über das Crossover von David Alvarez bis hin zum poppig klingenden Issac Dekgado Malecón alles, aber wirklich alles zu haben so wird sicher ein unverstellterer Zugang zu dem möglich, was Kuba klanglich auszeichnet. Dafür sorgt nicht zuletzt auch die von Roy rekonstruierte Einbindung der Musik in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge: “Die volkstümliche kubanische Musik hängt mit der Geschichte der gesamten Antillenregion zusammen, der Geschichte ihrer Kolonialisierung, der fast vollständigen Ausrottung der Eingeborenenbevölkerung und der Sklaverei.”

Als wichtigster Aspekt erscheint die Verschmelzung des afrikanischen und spanischen Musikguts. “Im Rhythmus der Einwanderungswellen” breitete sich die überlieferte spanische Volksmusik aus; sie verband sich mit den aus den Zuckerrohr- und Tabakplantagen herüber dringenden Gesängen, die die Sklaven im Zusammenhang mit ihren afrikanischen Weltentstehungsmythen “aus Überlebensinstinkt” anstimmten. Noch heute werden viele kubanische Musiker, vor allem die Trommler, wenigstens in eines der afrikanischen Kultsysteme eingeweiht. Dieses Zusammengehen brachte unter anderem den Sonhervor, in dem sich die ungeheure Bandbreite kubanischer Musik jedoch keineswegs erschöpft. Neben diesem Stil existiert beispielsweise der offenbar protestfreudigere Punto. Ebenfalls aus der Transkulturation hervorgegangen, kritisiert er die Krisen in der Tabakproduktion, die Lebensbedingungen der Fabrikarbeiterinnen, die Armut der Kleinbauern, die Korruption, den Machtmissbrauch der Regierung oder später auch die Einmischung der USA.

Natürlich bezieht Roy auch Stellung zu Wenders’ und Cooders Projekt. Über die Verwandlung der Musiker in “Werktätige der Musik” nach der Revolution von 1959 mit ihren negativen und positiven Folgen (die betagten B.V.S.C.-Mitglieder repräsentieren das musikalische Leben vorder Revolution!), die Blockade durch seine Landsleute und vieles mehr schweigt sich Cooder nämlich aus. “Cooder in Kuba” hätte Wenders’ Film eigentlich heißen müssen, meinte die Kritik und sprach vom “kulturellen Imperialismus”. Die Musiker, fügt Roy hinzu, empfanden den Aufschwung der traditionellen Musik als Verleugnung von vierzig Jahren Arbeit und letztlich auch als Verrat an der Revolution. Und sie lenkt den Blick auf den ihrer Ansicht nach auffälligsten Gitarristen: Cooders Slide- oder Hawaii-Gitarre drängt sich in den wichtigen Pausen des Bolerosgeradezu unerträglich in den Vordergrund.

Diese Einschätzung bestätigt auch das bissig geschriebene Nachwort Arno Frank Esers. Als Mythen-Kombination von “Sympathie und Nostalgie” entlarvt Eser den Höhenflug der kubanischen Musik, als “Kuba-Nostalgie nach Noten” und Karibikzauber unter der Schädeldecke: “Die kubanische Musik wird zum Soundtrack für unseren privaten Film im Kopf, der beim Stichwort Kuba losrattert.” Schon der Name der B.V.S.C.-Band wird zum Synonym des Vergessens, denn den geografischen Ort des alten Clubs sucht Segundo im Film vergebens. Dafür versteht es Wenders Eser zufolge trefflich, eine eigentlich grundlose Begeisterung zu vermitteln: “Kuba-Schwärmer müssen jedem Außenstehenden wie neu Getaufte erscheinen, wie Anhänger einer neuen Sekte.” Die Droge, die dieses ganz spezielle Kuba-Gefühl wachruft, ist natürlich die Musik. Mit ihr lässt sich weinen und lachen, leben, hoffen und träumen. Der Anlass spielt bei all dem eine weniger große Rolle. Wahrscheinlich ist es diese vermeintliche Offenheit für Alles und Jedes, die den Film so erfolgreich werden ließ. Die mitgeteilen Inhalte sind bei genauerer Betrachtung fast belanglos. Was die Kuba-Romantiker Wenders und Cooder nicht wahrhaben wollen, ist, dass man auf Kuba inzwischen wie überall auf der Welt auch nach Hip-Hop und Techno tanzt. Noch dazu gibt es auf der Insel jede Menge musikalischen Müll, Sand-und-Sonne-Songs, die das Niveau von Iglesias-Schlagern bei weitem unterschreitet.

Aber wem sagen wir das. Einer der beiden Compañeros, Cooder, hat das eigene Handeln in einem FAZ-Interview in aller wünschenswerten Deutlichkeit so beschrieben: “Die Wahrheit dieser Geschichte liegt darin, daß es einmal eine große Musikkultur auf den Inseln gab, die man ihnen aber wegnahm, um sie in Form eines ‘Themenparks’ zurückzubringen. So funktioniert die besondere amerikanische Weise, mit fremden Kulturen umzugehen: Sie zunächst zu adaptieren, auszusaugen, bis nur noch Abfall übrigbleibt, um sie dann als Kopie nach Walt-Disney-Manier (…) zurückzubringen. Dabei gibt man so ziemlich alles auf, worauf es in einer Musikkultur ankommt. Es bleibt nur noch die Fassade, eine Filmkulisse übrig.” Oder Zigarrenqualm. Sombrero ab vor so viel ungeschminkter Ehrlichkeit!

Literatur

Anwer Bati, Zigarren-Brevier. Von der Liebe zur Zigarre. Geschichte und Geschichten. Marken und ihre Formate. München: Heyne 2000.

David Alan Harvey/Elisabeth Newhouse, Kuba. Veröffentlicht von der National Geographic Society. Hamburg: R+G/RBA 2000.

Ernst Lechthaler/August F. Winkler, Rum, Drinks & Havanas. Cuba Classics. Weil der Stadt: Walter Hädecke 1997.

Eric Lobo/Chinolope, Die Seele Cubas. Havanna und Musik. Erfurt: ReiseArt 2000.

Marco Paoluzzo, Cuba. Wabern: Benteli Verlag 1997.

Karl-Heinz Raach/Ulli Langenbrinck, Kuba. München: C. J. Bucher 2000.

Maya Roy, Buena Vista. Die Musik Kubas. Heidelberg: Palmyra 2000.

Osvaldo Salas/Roberto Salas, Kuba. Eine Revolution in Bildern. Berlin: Aufbau 1998.

Alberto Schommer, La vida, la habana, 1994. Hamburg: Blue Book 1996.

Charles del Todesco, Havanna. Hommage an eine Zigarre. München: Heyne 1997.

Gérard de Cortanze, Hemingways Cuba. Hildesheim: Gerstenberg 1999.

Wim und Donata Wenders, Buena Vista Social Club. Photographien, Filmstills, Texte. München: Schirmer & Mosel 1999.

Michael Zeuske, Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich: Rotpunktverlag 2000.

Musik

Contacto Latino. Der Spezialist für Latin Musik. Prinzregentenstr. 142, D-81677 München.

Published 1 June 2001
Original in German
First published by Wespennest

Contributed by Wespennest © Frank Müller / Wespennest / Eurozine

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