#unibrennt mit Internet

Beobachtungen zu einer sich ändernden Protestqualität

Das Spektrum webgestützter Kommunikationsmöglichkeiten hat sich in den letzten Jahren in Richtung dynamischer Inhalte und User_innen-Partizipation weiter ausdifferenziert: Neben Email, Suchmaschinen und Webseiten bietet das so genannte Web 2.0 nun Blogs, Wikis, soziale Netzwerkseiten, Microblogs und Media Sharing für Foto, Audio, Video und Dokumente. Der Internetzugang selbst ist mobil geworden. Was bedeutet das für Proteste in und mit diesen Medien? Was sind die strukturellen Unterschiede zu früheren Bewegungen und wie konkret lässt sich der Anteil einer Plattform wie Twitter beobachten? Und werden eine Protestbewegung und die teilnehmenden Individuen dadurch eher gestärkt oder in ihrer Präsenz vielleicht sogar geschwächt?

Ermächtigung im Web 2.0

Mit Nicola Döring (2003) wird im Folgenden von der These ausgegangen, dass das Internet das Potential der Entfaltung für unterprivilegierte Personen und Gruppen verbessert hat. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist das Konzept des Empowerments (engl. für Ermächtigung), das der Psychologe Julian Rappaport (1984) als Entwicklung beschreibt, an dessen Ende sich eine Person oder eine Gemeinschaft ermächtigt fühlt, ihr Leben und dessen Umstände selbst gestalten und bestimmen zu können. Dies kann Unterschiedliches bedeuten, wichtig ist jedoch das Empfinden von Selbstwirksamkeit – das Gefühl, aus sich selbst heraus Einfluss auf die Umgebung zu haben – und interne Kontrollüberzeugung (Hinterberger 2008: 13). Versteht man die aktuellen Universitätsproteste als Prozess des Empowerments so stand an dessen Beginn die Bedrohung der erwarteten oder gewohnten Lebens- und Studienumgebung, was bei vielen zu Ohnmacht und Hilflosigkeit führte. Wohl dürften viele Hochschüler_innen diese – etwa durch Knock-Out-Prüfungen, stärkere Curricularisierung und weniger Wahlfreiheit durch “Bologna” oder mangelnde Berufsperspektiven – schon weit früher wahrgenommen haben, doch bedurfte es Zeit, geeignete Maßnahmen und Ausdrucksformen für ihren Unmut zu finden und sich zu formieren. Aktivierung, Engagement und die Entwicklung von Strategien zum (Wieder-)Erlangen von Kontrolle können besonders gut in der Interaktion mit anderen und durch die Unterstützung einer Gruppe mit ähnlichen Interessen entstehen. Die Ausweitung des Protestgeschehens ist demnach auch den verschiedenen Vernetzungsmöglichkeiten des Webs zu verdanken, das Zusammenfinden von Personen und Gruppen mit gleichen Interessen geschieht hier ungleich schneller und einfacher. Gleichgesinnte konnten nach der Besetzung des Audimax schneller erreicht und mobilisiert werden, sich der Besetzung anzuschließen. Die Organisation von Arbeitsgruppen geschah u.a. im Internet, ebenso konnte jede/r vom Computer aus erfahren, wie das Tagesprogramm aussah und was in den Plena beschlossen wurde. “Dabeisein” war einfach.

Die Rolle der Technik – nobelpreisverdächtig?

Bei allen Möglichkeiten, die im Web geschaffen und genutzt wurden: Die Uni- Proteste sind ebenso wenig ausschließlich oder ursächlich eine ‘Facebook-Revolte’ wie die Proteste nach den Wahlen 2009 im Iran eine ‘Twitter-Revolution’ waren. Die Weltvermittlungsweisen eines Mediums treten umso weniger sichtbar zutage, je umfassender es bereits in Kommunikations- und Wahrnehmungsprozesse eingebunden ist. Über den Anteil des Telefons am staatlichen Verwaltungsapparat spricht niemand – die Rolle des Neuen jedoch, wie das Social Web ist, wird häufig überschätzt. So wollte ein Ex-Sicherheitsberater der vorvorletzten US-Regierung in der Microblogging-Plattform selbst den Garant für sozialen Wandel sehen, als er erklärte – vielfach von der Presse kolportiert – Twitter solle den Friedensnobelpreis bekommen.1 Unterschlagen wird dabei sowohl die Relevanz der Menschen, die die Plattform nutzen, als auch derjenigen, die keinen Zugang zu Internet oder Social Media haben oder diesen nicht haben wollen. Einen solchen Fokus auf die Rolle von Web 2.0 und Social Media fand sich auch in der Berichterstattung zu den Uniprotesten. Der Unterschied: Hier diente er eher der Diskreditierung der Protestierenden als dem Lob der Technik, etwa wenn Michael Fleischhacker seinen Leitartikel in Die Presse am 24.10. wie folgt eröffnete:

“Studentenrevolten sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, werden sich die alten Kameraden denken, die in den 60er-Jahren die Welt im Allgemeinen und die Universitäten im Besonderen verbessern wollten. Die Mischung aus Flashmob-Party und Voodoo-Ideologie im Audimax der Uni Wien, die man als Internetnutzer in Echtzeit verfolgen konnte, hinterlässt einen ambivalenten Eindruck.”

Nach wie vor gilt: Wer protestiert, wird am idealisierten Maßstab der 1968er gemessen, oft mit der Absicht Gegensätze herauszustreichen. So wird dann Mausklick gegen Straßenkampf, ‘Spaßbesetzung’ gegen Gesellschaftskritik, hedonistische gegen politische Motivation in Stellung gebracht und letztlich keiner der Protestbewegungen Recht getan. Viele solcher Missverständnisse lassen sich dabei aus der jeweiligen Gestaltung des Innen und Außen erklären. Charakteristisch für die Ikonographie der 1968er sind etwa plakative Einzelaktionen und provokante Inszenierungen geworden – von den Happenings des Wiener Aktionismus über die Fotografien der nackten Kommune 1 bis zu Sit-ins im Rahmen einer Demonstration. Im Fall der jüngsten Uni-Proteste hat sich jedoch das Innere nach außen gestülpt: teils bewusst im Namen der Transparenz (z.B. Einrichtung und Aufrechterhaltung des Live-Webstreams aus dem Audimax), teils als Nebeneffekt der unter Studierenden relativ weit verbreiteten Nutzung von Plattformen wie Facebook, StudiVZ und Twitter. Die Folge: Das Material, anhand dessen heute Schlüsse über Besetzung und Besetzer_innen getroffen werden können, ist nicht nur deutlich breiter, es dringt auch weiter in die Trivialität des Alltags jenseits der Inszenierung ein. Es ist schließlich wenig wahrscheinlich, dass im Audimax das Feiern nach dem Tagesprotest erfunden wurde – nur konnte dem Entspannungsbier der 1968er nur beiwohnen, wer selbst vor Ort war, virtuelle Teilhabe ausgeschlossen. Heutige Journalist_innen hingegen – auch oder vielleicht gerade diejenigen, die Flashmob-Voodoo vermuten – müssen sich notwendigerweise nicht mehr an den Ort einer Besetzung begeben: Dank Lifecasting, d.h. dem kontinuierlichen Übertragen der Ereignisse im (All-)Tagsverlauf, konnten sie Debatten verfolgen, Bilder über Flickr und Twitter recherchieren und selbst Interviewpartner_innen requirieren.

Webaktivismus: Konkurrenz oder Vernetzung?

Intern wurde in diesem Zusammenhang vielfach die Frage diskutiert, ob das Virtuelle den Protesten womöglich das Wasser abgräbt. Wenn ohnehin auf unsereuni.at ohne zeitliche Distanz alles miterlebt werden kann, bleiben solidarische Menschen dann zuhause und kommen nicht ins Audimax? Wird das Protestpotential so durch das Internet geschwächt? Solidarisieren sich die Protestierenden nur auf Facebook und verabsäumen es deshalb, ihren Unmut in der Öffentlichkeit auszudrücken? Laut Hamm, die eine eher interaktive Beziehung diagnostiziert, erwies sich am Beispiel der britischen NoBorders-Bewegung:

“…die Vorstellung, Medienpraxis würde Straßenprotest ersetzen, sowohl in ihrer technikpessimistischen wie in ihrer technikeuphorischen Version als unzutreffend. Stattdessen hat sich mittlerweile eine Praxis entwickelt, in der Mediennutzung und mediale Selbst-Repräsentation zu integralen Teilen des lokal gebundenen Straßenprotests werden.” (Hamm 2006: 78)

Zum einen machen Internet und Web einen bisher nicht gekannten Grad der Mobilisierung möglich. Deutlich mehr Personen können bei geringerem Aufwand über geplante Aktionen informiert werden als etwa über Mundpropaganda oder großflächiges Verteilen von Flugblättern. Zum anderen werden Aktionen ‘auf der Straße’ online vor- und nachbereitet, dokumentiert und diskutiert. Die leichte Zugänglichkeit von Information sowie die Mediatisierung des Protests über Web und Social Media begünstigte zugleich die Verbreitung über die affin geltenden Gruppen (Hochschüler_innenschaft, Fachschaftslisten, Studierendenvertretungen) hinaus. (Mobil-)telefone beschleunigen die person-to-person-Kommunikation – Mailinglisten erreichen viele und bilden in der Regel bereits ein gemeinsames Interesse ab. Durch Veröffentlichung im Web schließlich werden Inhalte auch Personen zugänglich, die man nicht bereits im Telefonbuch hat. Nicht nur strong, sondern auch weak ties – z.B. jene ‘Friends’ auf Facebook, die man kaum kennt oder selten trifft – werden auf sozialen Netzwerkseiten sichtbar. Statistiken des weiteren persönlichen Umfelds (“5 of your friends became fans of Audimax Besetzung in der Uni Wien – Die Uni brennt!“) geben dem Slogan des Privaten, welches das Politische ist, eine neue Wendung jenseits parteipolitischer Rekrutierungsversuche. Was den Journalist_innen nützt, nützt auch anderen: Erste Anknüpfungspunkte an den Protest beginnen mit dem Lesen solcher Nachrichten, dem Verwenden von Twitter-Hashtags (s. u.), dem Beitreten zu Facebook-Gruppen, u.v.m. – eine Kaskade mediengestützter Interaktionen, die bei vielen früher oder später zum Weg in die besetzten Räume führten.

Wege zum Protest: Erreichbar sein

Die prinzipielle Entscheidung, bei einer Protestaktion mitzumachen folgt verschiedenen inter- und intrapersonellen Einflüssen. Stürmer und Simon (2009: 682) beschreiben in Anlehnung an Kladermann Faktoren, durch die das Internet eine Protestteilnahme begünstigt. Ein aktives Protestmitglied entsteht demnach in vier Schritten: Prinzipiell muss Sympathie für die Anliegen des Protests vorhanden sein, zweitens muss die Person von den mobilisierenden Aufforderungen erreicht werden, drittens muss Motivation entwickelt werden mitzumachen und viertens müssen mögliche Schwierigkeiten, die die Teilnahme behindern könnten, aus dem Weg geräumt werden. Gerade für die Punkte zwei und drei wirkte das Internet bei den Protesten 2009/10 vermutlich verstärkend. Die Motivation entwickelte sich für viele schnell durch die Möglichkeit der Online-Beteiligung an den Geschehnissen. Online-Beteiligung verringert die Kosten für eine Teilnahme, schafft schnell eine kollektive Identität und fördert die Entstehung einer Gemeinschaft (vgl. Garret 2006:5). Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft kann also auch durch das Mitverfolgen von Geschehnissen geschehen. Forendiskussionen, visuelles “Dabeisein” durch Fotos und Videos können emotionale Bindung schaffen. Following bezeichnet eben diesen Vorgang, der soziale Beziehungen im virtuellen Raum entstehen lässt und mit gestaltet (Döring 2003: 486).

“Permanently Beta” und kollektive Organisation in Real Time

Nicht nur die personelle Besetzung der jeweils im Audimax Anwesenden fluktuierte, auch die Inhalte veränderten und organisierten sich erst allmählich. So war am dritten Besetzungstag als Hauptdiskussionspunkt im Plenum um 12:30 vorgesehen: “Was wurde mit der Besetzung begonnen? Wie soll sie weiter gehen? Was wollen wir erreichen?”2 Am Anfang stand damit das Unbehagen in der aktuellen Bildungspolitik, nicht das Protestprogramm – ein Umstand, der von außen, aber mitunter auch von innen bemängelt wurde. Aus der Sicht webgestützter Organisationsformen erscheint das Vorgehen jedoch sinnvoll: “Permanently Beta” ist die Bezeichnung, die Gina Neff und David Stark für einen solchen “organizational state of flux” prägten:

“The process of continual technological change necessitates a responsiveness to change through openness in organizational form, adaptability by employees, and, in the most positive form of permanently beta, broad participation in design.” (2002: 5)

Eine Form von Gemeinschaftsorganisation nach dem Permanently Beta-Prinzip wäre entsprechend eine, die auf allen Ebenen auf die Akteur_innen reagiert, von diesen angepasst werden und weitmöglich mitgestaltet werden kann. Auf die Protestbewegung im Audimax traf dies zu: Die Diskussionsleitung im Plenum änderte sich täglich, ebenso die Ansprechpartner_innen für die Presse, um keine Hierarchien durch Gewohnheit aufkommen zu lassen. Auch der Einsatz von Webtools leistete seinen Beitrag: in Form der Verbreitung über Email, Web und Social Media, aber auch durch Dokumentation der Themen und Ergebnisse der Arbeitsgruppen und Plena im Unibrennt-Wiki. Wikis funktionieren nicht allein, weil Viele neue Inhalte beitragen, sondern weil Viele prüfen und schnell korrigieren können, wo sich Fehler eingeschlichen haben, und ergänzen, wo Information inkrementell verbessert werden kann. Auf einer utopischen Ebene betrachtet Pierre Lévy die Möglichkeiten technologiegestützter kollektiver Intelligenz:

“The group relies on political technologies of transcendence when it becomes too large for individuals to know one another by name or comprehend in real time what they are doing as a group.” (1997: 52)

In verblüffender Weise wird dies etwa durch die Verwendung von Twitter-Hashtags möglich: Zum einen wird das soziale Netzwerk auf Twitter durch ein- oder wechselseitiges Abonnieren der Nachrichten anderer gestaltet. Zum anderen können mit Hilfe von Hashtags – d.h. von Kombination des Symbols # mit einer weiteren Zeichenfolge, z.B. #unibrennt oder #unsereuni – die aktuellen Nachrichten aller Twitter-Nutzer_innen thematisch gefiltert werden. So wird nicht nur kollektive Organisation um Themen und Anliegen möglich, ohne dass persönliche Bekanntschaft der Beitragenden die Voraussetzung wäre. Auch eine Grundlage für Ausdruck und Verständnis der Vielfalt der Positionen im Spektrum dieser Themen und Anliegen wird so geschaffen. Gewalt oder Ausnahmezustand könnten im Sinne Lévys in diesen Szenarien Vergangenheit sein: “Able to reorganize itself in real time, minimizing delays, deadlines, and friction, the molecular group evolves at room temperature, without sudden change.” (1997: 53)

#unibrennt und Twitter

Schon am ersten Tag der Uni-Proteste auf der Akademie der Bildenden Künste in Wien spielte das Internet und die so genannten Web 2.0 Seiten eine wichtige Rolle. Ohne diese Tools wäre zuviel Zeit vergangen, und möglicherweise hätte die ganze #unibrennt-Bewegung dann andere Formen angenommen. Gerade über Twitter konnten wichtige Informationsmultiplikator_innen (Blogger_innen, Journalist_innen, Studierende) und dadurch mit einfachen Mitteln eine große Zahl an Personen erreicht werden, wie die folgende Auswertung zeigt:

Wie viel wurde getwittert?

Im Zeitraum von 23.10.2009 nachmittags bis 31.12.2009 Mitternacht wurden von 8.898 verschiedenen Twitter-Accounts insgesamt 95.743 Tweets (maximal 140 Zeichen lange Nachrichten, ähnlich einer SMS, die von vielen Personen gelesen wird) auf Twitter abgesetzt, die zumindest einen der Begriffe unibrennt oder unsereuni (meistens als Hashtag) enthielten. Trotz mehrmaliger Versuche dies zu ändern, setzt sich der anfänglich eingeführte Begriff unibrennt mit 74.144 Nennungen klar gegenüber unsereuni (47.911 Nennungen) durch, vor allem in Deutschland. Hier muss auch erwähnt werden, dass sehr oft beide Begriffe gemeinsam verwendet wurden (siehe dazu Grafik 1).

Wer hat getwittert?

Interessant ist die Aufteilung der 95.743 Tweets auf die knapp 9.000 Accounts. 7.541
Twitter-Accounts (von 8.898, also 84,7%) haben weniger als 10mal im genannten Zeitraum über #unibrennt getwittert (insgesamt 18.760 Tweets, das sind 19,6% aller Tweets). Dem gegenüber stehen 155 Accounts (1,7% aller Accounts), die in diesem Zeitraum mindestens 100mal zum Thema #unibrennt getwittert haben (42.591 Tweets oder 44,5%). Hier beweist sich wieder einmal die 20/80 Faustregel, d.h. 20% der Accounts sind für 80% der Inhalte verantwortlich (ein üblicher Prozentsatz auf Web 2.0-Plattformen).

Wann wurde getwittert?

Im zeitlichen Verlauf der Tweets lassen sich wichtige Ereignisse der Bewegung klar herauslesen (siehe dazu Grafik 2).

Hier wird klar, wie stark Twitter als Informationsverbreiter (was passiert gerade wo?) verwendet wurde. Auch zeigt sich deutlich, dass Massenmedien wie das Fernsehen, geschickt eingesetzt wie bei der ATV-Sendung aus dem Audimax, auch ihren Widerhall im Internet finden und sehr gut davon profitieren können. Klar erkennbar ist, dass nach der anfänglichen Euphorie das Interesse, gerade ab Anfang Dezember, sehr stark nachgelassen hat. Die Räumung des Audimax in Wien hat nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit erregt wie am Anfang der Bewegung jeder einzelne Tag.

Von wo wurde getwittert?

Bezüglich der Orte, von denen getwittert wurde, zeigt sich im zeitlichen Verlauf eine Ausdehnung auf den gesamten deutschsprachigen Raum, ausgehend von Wien als Zündpunkt der Bewegung. Hierzu Abbildung 1, ein Still aus einer Animation, (auch online abrufbar [3]) welche die räumliche Ausdehnung zeigt:

Dieser Zeitpunkt zeigt die maximale Ausdehnung. Nach dem Aktionstag (siehe Chronologie) wurde das Tweet-Aufkommen nicht sofort weniger, aber es konzentrierte sich wieder mehr auf die besetzten Universitäten.

Was wurde getwittert?

38.589 Tweets (40,3% aller Tweets) beinhalteten einen Link auf eine Webseite. Am häufigsten waren dies die Protest-Homepage, der Live-Stream oder Links zu Presseartikeln über die Uni-Besetzungen. Um einen visuellen Eindruck zu vermitteln, wurden örtliche Ereignisse auch oft über Twitpic.com, einen Dienst, bei dem jeder Bilder von Rechner oder Mobiltelefon hochladen und dann über Twitter verbreiten kann, einem Tweet mit angefügt: im oben genannten Zeitraum insgesamt 2.428 Fotos, die weit über 150.000 Mal abgerufen wurden. In Grafik 3 bildet sich der zeitliche Verlauf der Fotos auf Twitpic ab (Kriterium ist, wann das jeweilige Foto auf Twitter verbreitet wurde).

Über welche Inhalte getwittert wurde, zeigt die folgende Tagcloud (vgl. Abbildung 2) aller Tweets im oben genannten Zeitraum, bereinigt um die Begriffe “unsereuni”, “unibrennt” und “audimax”, da ansonsten die Skalierung die Lesbarkeit der anderen Wörter verhindern würde. Eine Tagcloud (engl. Tag = Etikett, Kategorie; dt. auch: Schlagwortwolke) zeigt die Größe eines Begriffs im Verhältnis zu dessen Häufigkeit an.

Eigentliche Forderungen (z.B. “Ausfinanzierung” oder “Quotenregelung”) sind der Tagcloud nicht zu entnehmen – diese Verzettelung, die vielleicht stattgefunden hat, spiegelt sich auch in den Tweets auf Twitter sehr gut wieder. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Nachrichten von Protestierenden wie Beobachter_innen und Gegner_innen abgesetzt wurden. Hier zeigt sich die Schwierigkeit, ein Anliegen im Sinne einer konkreten Aufforderung über ein von heterogenen Gruppen genutztes Medium gezielt zu verbreiten. Auch das Zeichenlimit von Twitter spielt eine Rolle – möglicherweise gilt im Web 2.0 weiterhin die alte Regel aus der Werbung: ‘Nicht mehr als zwei Botschaften auf einem Plakat’. Während die Zeit der Besetzung, inkl. die Möglichkeiten der Vernetzung und der Sichtbarmachung des Wirkradius’ etwa durch solche Visualisierungen als Stabilisierung und Integration, als Empfinden von Aktivität und Selbstwirksamkeit gelesen werden kann, wurde durch die Räumung des Audimax dieses Gefühl stark angegriffen. Nach dem Empowermentkonzept findet sich die Person am Schluss des Prozesses jedoch in einem Zustand, in dem sie überzeugt ist, die Umgebung und ihr Leben nach ihren Phantasien gestalten zu können – allerdings im Bewusstsein, dass dies möglicherweise Zeit benötigen wird. Zum Zeitpunkt der Finalisierung dieses Dokuments – drei Monate nach Beginn der Besetzung – treffen noch immer 100 Twitternachrichten in der Stunde zum Thema ein. Heißenberger (in diesem Band) führte während und nach der Besetzung des Audimax qualitative Interviews mit Protestteilnehmer_innen. Danach gefragt, was sie aus den Protesten mitnehmen würden, sprachen alle von einem Gefühl, etwas verändern zu können. Sie könnten also als empowered bezeichnet werden, wozu nicht zuletzt das Internet und seine vielfältigen Anwendungen entscheidend beitrugen.

Bibliographie

Döring, Nicola (2003): Sozialpsychologie des Internet – Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen, Hogrefe.

Fleischhacker, Michael (2009): Leitartikel: “Logik statt Twitter”. In: Die Presse, 24.10.2009.

Hamm, Marion (2006): Proteste im hybriden Kommunikationsraum. Zur Mediennutzung sozialer Bewegungen. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19(2): 77-90.

Hinterberger, Elisabeth (2008): Psychologisches Empowerment im Zusammenhang mit gesundheitsbezogenen Inhalten im Internet. Eine Offline-Studie über das Potential des Internet in der Empowermententwicklung. Psychologie. Wien: Universität Wien: 171.

Lévy, Pierre (1997): Collective Intelligence. Mankind’s Emerging World in Cyberspace. Cambridge, MA: Perseus.

Neff, Gina / Stark, David (2002): Permanently Beta: Responsive Organization in the Internet Era. In: ISERP Working Paper 02 – 05.

Rappaport, Julian (1984): Studies in Empowerment: Introduction to the Issue. In: Studies in Empowerment: steps towards understanding and action. Rappaport, Julian and Hess, Robert. Binghamton, The Haworth Press.

Stürmer, Stefan / Simon, Bernd (2009). “Pathways to Collective Protest: Calculation, Identification or Emotion? A Critical Analysis of the role of Group-Based Anger in Social Movement Participation.” Journal of Social Issues 65(4): 681-705.

z.B.: http://www.techcrunch.com (Zugriff am 29.12.2009)

siehe: http://wissenbelastet.com (Zugriff am 26.1.2010)

Published 1 July 2010
Original in German
First published by Stefan Heissenberger, Viola Mark, Susanne Schramm, Peter Sniesko, Rahel Sophia Süß, "Uni Brennt. Grundsätzliches, Kritisches, Atmospherisches", Wien-Berlin: Verlag Turia + Kant 2010. (German version)

© Jana Herwig, Max Kossatz, Viola Mark / Eurozine

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