Unendliche Welten oder wie ich zu einem Universalgenie wurde

Die wohl aberwitzigste Warnung vor dem Wahn des Historienromans bleibt Don Quijote, der Held eines Buches, das ungeachtet der Parodie einer der Ursprünge des modernen Romans überhaupt wurde. Quijotes bekannteste und viel gedeutete Szene ist der Kampf gegen Windmühlen. Offenbar ein barockes Verhängnis, dem Leibniz, in Verkennung seines umfassenden Universal-Dilettantismus, viele Jahre seines Lebens opferte. Verbissen hielt er daran fest, dass die Horizontalmühle, von der er aus China gehört hatte, den Bergbau im Harz revolutionieren würde. Sie funktionierte nie, verschlang aber Unsummen Taler aus den Kassen seines Gönners. Wie so vieles dieses letzten großen Universalgenies. Ich komme auf den autodidaktischen Dilettantismus zurück.

Der historische Roman ist ein beliebtes Genre der Unterhaltungsliteratur. Sein Reizfeld ist selbstverstärkend, er zieht an durch das So-könnte-es-gewesen-sein-Spiel, lockt aus der Gegenwart in ferne Zeittiefe, fort von einer säkularen, wissenschaftlich unübersichtlichen und mit ungelösten Konflikten kontaminierten Gegenwart. Im historischen Schauerstück können Helden ihre von Alltagsbanalitäten unangefochtenen Taten vollbringen. So erlag auch ich bei meiner Entscheidung, einen Barockroman zu schreiben, dem Irrtum, schreibend Ferien von der allzu peinigenden und oft peinlich stupiden Gegenwartsliteratur machen zu können, dazu kam die Vorfreude, im Erfinden eines Mantel-und-Degen-Romans Kindheitsträumen frönen zu können.

Nun hätte ich auf der Hut sein sollen. Träume in eine andere Welt zu tauchen, zumal wenn es Kindheitsträume sind, werden allzu schnell Albträume.

Aber darüber machte ich mir anfangs keine Sorgen, hab die Lanze ergriffen, kannte mich in der Malerei und Philosophie der Barockzeit aus Leidenschaft leidlich aus und machte mich daran, die Geschichte von einem Maler, der die Fotografie im Barock erfindet, zu erzählen.1

Doch stolperte ich schnell und wurde skrupulös: So kann dieser Leutnant, diese Marquise die Welt noch nicht gesehen haben, das kann der Hofrat so nicht erlebt haben, wenn er einem Feuerwerk beiwohnte, eine Kunstkammer besuchte, ein Stillleben betrachtete, durch ein Mikroskop blickte oder eine Pastete kostete. Ich hatte mir naiv die vertrackte Aufgabe vorgelegt, die Augenlust zu beschreiben. Durch die Fotografie hatte ich ein Objektiv, das der Camera obscura, ins Barock versenkt, sozusagen ein Schlüsselloch, um eine Uchronie ausleben zu können. War da nicht notwendig, bevor ich durch die rückgewandte Utopie schreiten würde, die tatsächlichen Bedingungen, unter denen meine barocke Fotografie Verwüstung anrichten sollte, genau zu rekonstruieren?

Zuallererst würde ich mir also die chymischen Grundlagen anschauen. Die Mechanik erschien bedeutsam und natürlich die Optik der Ferne und der Nähe. Überhaupt das Licht der Erkenntnis, die lurianische Kabbala. Aber wie verflucht komme ich von den Linsen zu den Augenbildern und Sehnerven, und versinke schon bald unrettbar in der Medizin. Ich nahm mir vor, damit kein Mimikry-Barockroman entsteht, keine Barockliteratur zu lesen, wollte ausschließlich auf säkulare Gebrauchsquellen zurückgehen. Enzyklopädien, Harmonielehren, Bauanleitungen für Feuerwerksraketen und andere Kuriositäten wollten in den Rara-Beständen der Bibliotheken aufgefunden werden. Ein Teil meines Vorgehens, dachte ich manchmal bei mir, gleicht dem, was ein zukünftiger Autor anwenden würde, der unsere Gegenwart erfassen will und dies ausschließlich anhand von Bedienungsanleitungen für Waschmaschinen angeht. Nachdem das Naturalienkabinett gefüllt war, neigte ich meinen verwirrten Kopf in die Geistes-Worte, Predigten und Traktate, Spinoza, Huygens, die Kraftbegriffe, die Dogmatik, Swammerdam und seine Insekten, seine Schrift über den Uterus. Den leeren Raum schien es nicht zu geben, er war ebenso ein Skandal wie das Vakuum – also wie denkt und verbindet der Mensch damals die Gegenstände der inneren und äußeren Welt? Wie werden Farben angemischt, Mumien seziert, und was bedeutet das eine, was das andere?

Wenn man sich zwei Jahre einliest, sich mit Alchemie beschäftigt, mit Medizin, Emblematik und Feuerwerken, Hoffeste studiert, Reiseberichte mitfiebert, Kunstkammern besucht, Harmonielehren, Musik, Tänze, und die Himmelsmechanik erlebt, was geschieht da eigentlich mit einem Menschen? Ganz einfach: Er kann nicht mehr erfinden.

Ich hatte jedenfalls nach zwei Jahren noch keine Seite des Romans, aber eine Zeit der wilden Suche hinter mir. Vielleicht manchmal mit dem Gefühl, es würde sicher irgendwann alles zusammenpassen, etwas einrasten. Dann geschah es: Ich wurde ein Universalgenie! Ich! Endlich! Zuerst ein wunderbares Gefühl. Alles begann mit allem zusammenzuhängen. Die Alchemie feierte in mir Triumphe der Interdisziplinarität. Es entstand ein allmächtiges interdisziplinäres Kind oder besser ein inter-wie undiszipliniert allwissendes.

Wie sollte ich das aber bewältigen? Ich ächzte unter der Last, ein barockes Universalgenie zu sein. Es ist, kurzum, doch gar nicht so lustig, ein Genie zu sein.

Im Studium hatte ich noch gelernt, dass Leibniz der letzte Universalgelehrte, ein Universalgenie, gewesen sei. Kant konnte die Mathematik nicht mehr überblicken und hatte Newtons Algebra nicht einmal im Ansatz verstanden, wie seine Naturlehre erschütternd deutlich macht, wo er gegen die Windmühlen des Kraftbegriffs kämpfte, die schon 60 Jahre zuvor besiegt worden waren. Schelling bemühte sich vergebens noch einmal um einen naturwissenschaftlichen Weltgeist, und Hegel waren die gängigsten mathematischen und physikalischen Grundlagen seiner Zeit ein Rätsel. Also Leibniz! Der Letzte, der ein geschlossenes Weltbild besaß? Eine Welt in sich hatte, die noch gedacht werden konnte? An ihm würde ich mich orientieren, ihn zu meinem Bündnispartner wählen. Mir schwante jedoch bald, dass vor allem mein sanftes Gefühl des Dilettantismus und der Verdacht, ein lächerlicher Autodidakt zu sein, in ihm einen Zwillingsbruder finden könnte. Das Universalgenie Leibniz hat kaum etwas in seinem Leben abschließen können! Er begann vieles, interessierte sich für alles. Doch lebte er als Windmühlenbauer und Ahnenforscher, verstrickte sich unentwegt in unabgeschlossene Lebensentwürfe. Seine Herkunft beschrieb er idealisierend so:

“Nun bin ich wie durch eine Art Schickung schon als Knabe auf diese Betrachtungen geführt worden, die seither, wie es mit ersten Neigungen zu gehen pflegt, stets aufs tiefste meinem Geiste eingeprägt blieben. Zweierlei kam mir dabei erstaunlich zustatten – was gleichwohl sonst oft bedenklich und manchem schädlich ist -: erstens, dass ich fast ganz Autodidakt war, sodann aber, dass ich in jeder Wissenschaft, an die ich herantrat, sogleich nach etwas Neuem suchte: häufig noch ehe ich nur ihren bekannten, gewöhnlichen Inhalt ganz verstand. […] Als ich daher von den Geschichtsbüchern, an denen ich von Jugend an außerordentlichen Gefallen fand, und von den Stilübungen, die ich in Prosa wie in gebundener Rede mit solcher Leichtigkeit trieb, dass meine Lehrer schon fürchteten, ich möchte an diesen Ergötzlichkeiten hängen bleiben, zur Logik und Philosophie geführt wurde, da warf ich, kaum dass ich nur irgend etwas von dem allen verstanden hatte, eine Fülle chimärischer Einfälle, die in meinem Gehirn auftauchten, aufs Papier und legte sie den Lehrern zu ihrem Erstaunen vor.”2

Als Autor, beruhigte ich mich, bin ich natürlich nicht an Absicherungen, an wissenschaftliche Kärrnerarbeit gebunden. Chimärische Einfälle, das könnte ein Weg sein. Immer noch sollte ja eine rasante Mantel-und-Degen- Geschichte entstehen.

Ich hatte zwei Jahre lesend fantasiert, also in einer schwachen Form die Barockzeit gelebt. Der Mensch, das wurde mir klar, könnte die Schnittstelle sein, der Austragungsort von Wissen. Im Vergessen, vermutete ich, entwickelt sich des Menschen säkulares Verhalten, seine Macken, seine Zwänge, sein Lebensgang und sein Witz. Wir sind das Wesen, das vergessen muss, was es ausmacht, damit es leben kann. Also musste ich eine vertrackte Technik des Vergessens anwenden, um barocke Menschen erschaffen zu können.

Das vorbildhafte Verfahren, in dem der Körper als zentraler Austragungsort einer historischen Rekonstruktion, als Amalgam all der Disziplinen, die ihn formten, erscheint, zeigte mir die desaströse Entwicklung eines
Kostümfilms: Stanley Kubricks Barry Lindon.

Der Film ist kaum mehr als das Restprodukt einer Recherche, die es so niemals zuvor für einen Historienschinken gab. Kubrick beabsichtigte einen Monumentalfilm über Napoleon zu drehen. Er hat Heerscharen von Wissenschaftlern eingespannt, ein Archiv der Militärtechnik, der Kleidung und Gegenstände mit mehreren Universitäten erarbeitet, noch die kleinste Halsbinde wollte fotografiert, der Bauernschuh recherchiert und rekonstruiert sein. Die fanatische Recherche in die Vergangenheit bekam darüber hinaus Schützenhilfe von einer anderen Seite. Der Mondflug war einmal eine urbarocke Leidenschaft. Für die Aufnahmen zu seinem Napoleon-Film wollte Kubrick die neueste äußerst lichtempfindliche Aufnahmetechnik verwenden, die von der NASA gerade für den ersten Mondflug entwickelt wurde. Die neuste Technik würde also erstmals Einblicke in eine Zeit des Kerzenlichts ermöglichen. Gleichsam von zwei Seiten wollte Kubrick den Kostümfilm auf eine neue Höhe katapultieren.

Der Film ist nicht zustande gekommen, alles war umsonst. Wieder ein unabgeschlossenes Projekt, erst Leibniz, dann Kubrick, was hatte ich mir da nur für Helden gewählt.

Dann entstand nicht Napoleon, aber Barry Lindon. Ein kleiner Film, betrachtet man den eigentlich geplanten. Kubrick drehte ihn aus einem unfassbaren Überschuss heraus. Was mir diesen Film unvergesslich macht?

Der Habitus der Hauptfigur, der vollkommen fremd zugerichtete und bewegte Körper von Barry und einer umworbenen Dame schon in der ersten Szene. Gesprochenes und Gemeintes, Gefühl und Ritual gehen auseinander, irritieren die Erwartungen, es entsteht das 18. Jahrhundert als ferne Zeit, eine Frechheit. Die geweißten Gesichter bekommen sichtbaren Sinn. Schlossszenen im Kerzenschein, die man erstmals mit der NASA-Technik ohne künstliches Licht aufnehmen konnte, zeigen die Bedeutung der Mimik, ungeweißte Figuren hingegen verlieren das Gesicht, wenn sie einen Meter hinter den Tisch in die Dunkelheit treten. All diese auf den Körper zugeschnittenen Genauigkeiten scheinen mir die Magie dieses Films auszumachen. Durch die Vieldeutigkeit entsteht zudem eine betörende Komik. Das ist das Angebot Kubricks, historische Zeit anders zu betrachten. Ich vermute und spekuliere aber, dass dieser Versuch, einen anderen historischen Körper zum Leben zu erwecken, durch das vollkommen überdeterminierte Material entstanden ist.

Etwas in der Art war auch ein Ideal für meinen historischen Roman, ein Fernziel. Nun, ich bin nicht Kubrick. Einen Teil dieses Ideals habe ich aber immerhin erfüllt. Der Augentäuscher ist der Restposten eines Überschusses, der im Roman keinen Platz gefunden hat. Weder die Wochen, in denen ich Tanzschritte studierte, noch die Rezepte und Tischordnungen, weder die Erfindungen Athanasius Kirchers noch das farbige Handbuch der Uniformkunde von Knödel/Sieg habe ich nutzen können. Aus Zesens Wortsammlungen sind nur der “Augenblick” und “Meuchelpuffer” in den Roman eingeflossen.

Im Leben ist Leibniz fast alles, was er sein wollte, sei es Windmühlenbauer, Mechaniker oder Politiker, nicht gelungen. Doch hat Leibniz Bedeutendes an ausfransenden Rändern dieses Lebens geleistet, so zum Beispiel ganz wörtlich auf den Rändern seiner zahlreichen Briefe Ungeheures (etwa das dyadische Rechnen) niedergeschrieben und erdacht. Ich möchte gerne spekulieren, dass er beharrlich alles anfangen musste, um, wie nebenbei, Neues zu schaffen.

Überschuss gebiert Genauigkeit im Detail. Selbst wenn die Rechenmaschine vordergründig nichts mit der Horizontalwindmühle zu tun hat, der Leibniz so viele Jahre opferte, oder der “Spielpalast”, sein “Gedankenscherz”, den er mit unbeirrbarem Eifer den Herrschern schmackhaft machen wollte, augenscheinlich wenig mit seiner Monadologie: Ohne den Wahn, Generaloberwindmühlenbauer oder wissenschaftlicher Universalimpresario zu sein, wäre all das nicht möglich gewesen.

Don Quijote kämpft gegen Windmühlen, weil er durch die Lektüre historischer Romane überdeterminiert ist. Sein Lebensmut war Komik. Der Autor historischer Romane sollte das umdrehen und die vergangene Epoche durch unendliche Lektüre überdeterminieren. Nur so werden lebendige oder dem Leben ähnliche Einblicke in eine vergangene Wirklichkeit möglich. Im besten Falle entstehen Spannungen, deren unverarbeitete Rückstände wir heute noch in uns tragen. Ich hoffte, dass ich wenigstens eine Andeutung der Erschütterung des fotografischen Abbildes, die heute in unserer Bilderwelt kaum mehr spürbar ist, zu fassen bekommen habe. Wenn dieser Überschuss an Lektüre zudem noch Komik erzeugt hätte, fänd ich’s wunderbar. Nicht zufällig erläuterte Freud seine Theorie, dass alles, was geschieht, überdeterminiert sei, anhand des Witzes. Erst wenn das, was geschieht, geschehen ist oder geschehen wird, einen Mehrwert bekommt, wenn die Welt als doppel- oder vieldeutig begriffen wird, wird Komik möglich. Das Geheimnis des Witzes und des Alltags bleibt: Überdeterminierung. Der Weg dazu: Vielseitigkeit und Überschuss.

Der Augentäuscher. München 2012.

G.W. Leibniz: Philosophische Werke in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer, Bd. 1. Hamburg 1996, S. 17.

Published 15 January 2013
Original in German
First published by Gegenworte 28 (2012)

Contributed by Gegenworte © Mathias Gatza / Gegenworte / Eurozine

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