Unding Tschernobyl
Kein Staub mehr da …
Der Staub ist fort, verweht. Ein rauer Wind wirbelt feine Sandkörner auf und peitscht sie gegen Gesicht, Beine und Brust. Ich komme mir vor wie in einem Himbeer- oder Brombeergestrüpp. Dabei gehe ich einfach durch die Stadt, durch Homel und frage mich: Wieso bläst heute dieser scharfe, unnachgiebige, zudringliche Wind? Wie kommt er dazu, plötzlich den Sand von der Ukraine nach Belarus zu fegen und von hier weiter in Richtung Moskau?
Ich wusste noch nichts, ahnte noch nichts, und trotzdem kann ich mich noch genau an diesen Tag und den Abend des 26. April 1986 in Homel erinnern, ich weiß noch, dass ich unfähig war, etwas anzufangen, alles ringsum schien von einem stummen Schrei erfüllt. Einem stummen Schrei, mit dem alles Leben und selbst das Unbelebte, selbst Staub und Sand dem Unheil zu entfliehen versuchten. So fliehen Elche und Wildschweine, Wölfe und Rehe, Hasen und Eichhörnchen vor einem unbarmherzigen Waldbrand – stumm und mit weit aufgerissenen Augen. So fliehen Schlangen und Nattern, Käfer und Raupen, mit einem stummen Entsetzensschrei krepieren sie auf der Flucht.
Entsetzen lag an diesem Tag über Homel, über Polessien, über dem ganzen Land, das konnte ich spüren, ohne zu wissen, wo was geschehen war, ohne zu ahnen, dass überhaupt irgendwo etwas geschehen war.
Ich wollte die Hände vors Gesicht schlagen, Augen und Ohren verschließen, mich in eine Grube, eine Höhle oder einen Spalt verkriechen und mich dort hinkauern, oder fortlaufen von hier, ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen, nur fort …
Aber wohin und warum? Wieder und wieder versuchte ich mich zur Ordnung zu rufen. Reiß dich am Riemen, die Sonne scheint (wenn es auch windig und schon Abend ist), und deine Frau geht gleich los zur Spätschicht – Samstag Abend. Gestern war ich, Landwirtschafts-Korrespondent der hiesigen Regionalzeitung, von einer Dienstreise durch die Gegend um Wetka zurückgekommen. Ich sollte für die nächste Ausgabe etwas über die “Aussaat” zusammenschreiben, der Frühlingstag nährt das Jahr usw. Aber ich hatte keine Lust und schob den Moment am Tisch vor dem leeren Blatt immer weiter hinaus …
“Ich geh dann los”, sagte meine Frau.
“Ich bring dich noch zur Haltestelle …”, griff ich nach dem nächsten Strohhalm.
“Nein, du musst doch noch arbeiten, lass mal …”, und ich blieb allein zurück, allein mit meinem Weltschmerz, der sogar die Schreibmüdigkeit zudeckte. Wieder stand ich am Fenster und sah den Film, in dem meine Frau, die künftige Mutter meiner Kinder, klein, schutzlos und einsam, in gebückter Haltung durch den unerträglich schneidenden Wind der menschenleeren Stadt geht.
Die Stadt war leer, am Wochenende waren die meisten der zugezogenen Dorfbewohner auf der Datscha oder in ihren alten Dörfern auf dem Feld. Nur was gesät wurde, konnte man auch ernten, der Frühlingstag nährt tatsächlich das Jahr. Nach fast siebzig Jahren totalitärer Sowjetherrschaft waren wir nämlich so weit, dass die Läden halb leer standen, Fleisch nur noch in bestimmten Geschäften erhältlich war und Hühnchen höchstens noch zu besonderen Feiertagen “ausgegeben” bzw. auf den viel zu großen Markt geworfen wurden. Gemüse gab es nur noch auf den Märkten, und es kam nicht etwa aus den Kolchosen, sondern aus privatem Anbau, wenn nicht aus dem Kaukasus. Wer nicht Kartoffeln, Kohl, Rote Bete, Gurken und Tomaten auf seinen sechs Hektar Land oder dem elterlichen Hof anbaute und sich Vorräte für den Winter zulegte, musste hungern.
Ich setzte mich an diesem Abend nicht mehr an mein “Material”, ich konnte mich nicht überwinden. Stattdessen ging ich in unserer Einzimmerwohnung auf und ab, las hier etwas, blätterte dort, schaltete den Fernseher ein und hoffte auf den freien Sonntag. Der Abend wurde zur Nacht, einer langen Nacht, in der ich ein ums andere Mal aus grausigen Träumen hochschreckte, Alpträumen, Schreckensvisionen, aber letztlich doch nur Träumen ohne konkreten Hintergrund. Später haben mir fast alle Freunde von einer ähnlich furchtbaren Nacht erzählt. Alle hatten sie ihre Schlaflosigkeit als Einzelerscheinung abgetan und die Gründe dafür bei sich selbst gesucht.
Auch der nächste Tag, ein Sonntag, war in Homel wieder trocken und stürmisch – sturmtrocken. Stellenweise war die Erde blankgefegt und hart wie Asphalt. Den ganzen Sand hatte es aus der Stadt geblasen.
Nachmittags gegen vier machten meine Frau und ich unseren üblichen Spaziergang. Die Erde verlangte nach Regen, aber der blieb aus, dabei zogen hoch am Himmel unentwegt tiefdunkle Wolken vorüber. Eine Spannung lag in der Luft, im Rauschen der Bäume, in allem, wie eine zum Zerreißen gespannte Saite, eine Spannung, die direkt körperlich spürbar war. Wie vor einem Gewitter, das jeden Moment losbrechen muss, aber der erste Tropfen will einfach nicht fallen.
Deshalb drehten wir nur eine kurze Runde und kehrten ungewohnt matt und missmutig wieder zurück. Ich wusste immer noch nichts. Spät erst, viel später sollte ich die legendären Zeilen eines Wissenschaftlers über jene Apriltage lesen: “Glücklicherweise wehte der Wind nicht in Richtung Kiew”. Der Autor dieser Zeilen hatte in alter sowjetischer Tradition entweder geschrieben ohne nachzudenken oder nur an sich gedacht. Wohin der Wind an jenem Tag auch wehte, er brachte nur Unheil über unsere kleine Erde. Und in erster Linie über mein Belarus.
Ich wusste von nichts. Zur selben Zeit, gegen siebzehn Uhr, waren meine Eltern am 27. April mit einigen Landsleuten auf der Rückfahrt von Kiew. Der kürzeste Weg nach Choiniki über die AKWler-Stadt Prypjat wurde ihnen verwehrt, aus Prypjat, durch das sie am Morgen des Vortages noch gefahren waren, kam ihnen jetzt eine endlose Kolonne von Bussen und voll besetzter Autos entgegen, während in der Gegenrichtung ein Heer von Schützenpanzerwagen und Militärtransporter mit Soldaten in den geschlossenen Kastenaufbauten auf die Stadt zurollte.
Auch meine Eltern in ihrem Bus wussten von nichts. Soldaten mit Gasmasken am Gürtel und seltsamen weißen Schutzmasken vor Mund und Nase hatten ihren Bus gestoppt und schickten ihn nun wortlos und ohne Erklärung immer weiter westlich Richtung Masyr statt nach Choiniki.
Irgendwie sickerte das Wort “Evakuierung” in den Bus, das für die polessische Zunge zwar unaussprechlich, aber noch aus Kriegszeiten allgemein bekannt ist. Im Bus saßen vor allem Kinder des letzten Krieges, die in den 40er Jahren zwischen fünf und zehn Jahre alt waren. Deshalb machte gleich noch ein zweites, schrecklicheres Wort die Runde: “Krieg!”
Was für ein Krieg? Gegen wen und warum? Hatten die Amerikaner angegriffen? Oder vielleicht wieder die Deutschen? Wieso sind die Soldaten hier und nicht an der Grenze bei Brest? Und wie sollte man jetzt nach Hause kommen zwischen all diesen Bus- und Autokolonnen und den Militärkordons? Nach Hause, nach Belarus, zu den Kindern, den Enkeln? Bloß schnell nach Hause! Entsetzlich sahen sie aus, die Gesichter hinter den Scheiben der Busse aus Prypjat, die sie durch die Scheiben ihres Busses erkennen konnten: kein Lächeln – woher denn! – schockierte, versteinerte Minen, die Augen weit aufgerissen angesichts der überraschenden, überstürzten Abreise, unfähig zu verstehen, was vor sich ging und wohin man sie brachte.
An einer der vielen Umleitungen sprang der Fahrer schließlich aus dem Bus und wandte sich an einen älteren Soldaten mit Sternen auf den Schulterklappen, der ihm leise, quasi vertraulich erklärte, das sei kein Krieg, niemand hätte uns angegriffen, kein Grund zur Sorge. Nur eine Evakuierung, weil es in Prypjat, am Atomkraftwerk einen Unfall gegeben hat, einen Brand, deshalb würden die Leute jetzt vorübergehend in sichere Entfernung gebracht. Vorübergehend …
Ein Brand. Gleich wurde es allen leichter ums Herz: Ein Unfall, bloß ein Feuer. Ein Feuer, kein Krieg. Nicht bei uns, sondern dort, in Tschernobyl, im Kraftwerk. Das hat nichts mit uns zu tun, zu Hause ist alles in Ordnung. Plötzlich hatte das Wort “Evakuierung” einen anderen Klang, war beruhigend, schlicht und vertraut.
Das gespannte Schweigen war dahin, alle erinnerten sich und erzählten wild durcheinander: Tags zuvor im Morgengrauen, als sie noch am belarussischen Ufer des Prypjaz bei Choiniki gestanden und auf die Fähre in die Ukraine, nach Janau gewartet hatten (so nannte man hier immer noch die AKWler-Stadt Prypjat, die neben dem Dorf Janau dort gebaut worden war) sahen sie im Nebel über der Stadt – über der Stadt dachten sie, in Richtung des Atomkraftwerks – eine Feuersäule, riesengroß, bis in die Wolken, vielleicht kilometerhoch, aber nicht beängstigend, als gehörte sie hier hin. Nicht rot war sie gewesen, eher himbeerfarben, so ähnlich wie in dem Alladin-Film, als der Geist aus der Lampe entweicht. Man wartete förmlich darauf, dass er gleich am Himmel erschien und ein Lachen aus seinem Riesenmund herunterschickte. Unwillkürlich hatten die Menschen schon in diesem Moment gespürt, wie winzig sie angesichts dieses Kraftausbruchs waren.
Sie stiegen aus dem Bus, um an dem nasskalten Morgen das “Naturschauspiel” gebührend zu bewundern. Da standen sie nun und dachten nicht im Entferntesten an einen Unglücksfall, zu tief saß der Glaube an das “friedliche Atom”. Dann fuhren sie durch das friedlich schlafende Janau, das ihnen mit seinen gelben Ampelaugen zublinzelte und nahmen Kurs auf Kiew.
Sie übernachteten im Hotel, deckten sich mit Leckereien und Geschenken für zu Hause ein, die lange entbehrte Kochwurst für 2,20 … Kiew war mit Nahrungsmitteln weit besser versorgt als Homel oder auch Minsk. Entsprechend fröhlich und aufgekratzt machte man sich wieder auf den Heimweg.
Und dann auf einmal: Evakuierung! Und warum? Wegen eines Feuers, das sie am Vortag selbst gesehen hatten. Wäre nicht diese auffallende Hektik gewesen, nicht die Angst, die einem die uniformierten Militärs und die endlosen Fahrzeugkolonnen mit ihren ernsten Insassen einjagten, die doch selbst nicht wussten, weshalb man sie zusammengetrommelt, in Busse verfrachtet und auf eine Reise ins Unbekannte geschickt hatte. Wären da nicht hinter den Busfenstern ihre angsterfüllten, übergroßen Augen gewesen, aus denen nur Verwirrung und Verzweiflung sprachen, bei den Kindern vor allem. Hätte nicht allgemeine Ratlosigkeit und ein Nebel des Nichtwissens über allem gelegen – was wäre schon gewesen: ein Brand eben, Feuer, Rauch, nichts weiter. Immer noch Sonnenschein und grüne Natur. Strahlung könnte ausgetreten sein? Ist ja schließlich ein Atomkraftwerk. Was denn für Strahlung?! Wo? Zeigt sie uns doch. Da ist nichts. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Es riecht nicht, stinkt nicht, brennt nicht, beißt nicht …
Am 1. Mai fuhren meine Frau Ljudmila und ich gegen neun Uhr aufs Dorf, um der Schwiegermutter beim Kartoffelsetzen zu helfen. Die Sonne schien seit dem Morgen, und es war so schön auf dem Land, so warm und gegen Mittag sogar heiß, dass ich das Hemd auszog und mir beim Mistunterheben die erste Bräune holte.
Nach getaner Arbeit setzten wir uns und sahen, dass schon der Sauerampfer zartgrün am Feldrand stand. Wir sammelten einige Stängel für den ersten Frühlingsborschtsch und machten uns beschwingt auf die Rückfahrt nach Homel.
Meine Frau bereitete gleich das Essen vor, ich schaltete das Radio an. Ich drehte den Regler bis ich einen mir unbekannten russischen Sender hereinbekam. Durch Knistern und Rauschen konnte ich verstehen, dass es “Radio Schwezija” war. Eine Nachrichtensendung. Ich kann nicht wörtlich wiedergeben, was ich gehört habe, erinnere mich aber genau an den Inhalt: Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine habe sich ein schrecklicher Unfall ereignet, der Reaktor in Block IV sei explodiert. Von radioaktiver Strahlung seien die Ukraine, Belarus und die angrenzenden Länder betroffen. Selbst in Schweden wurden erhöhte Werte gemessen. In der Ukraine und in Belarus, besonders im Raum Homel, solle man sich möglichst nur in geschlossenen Räumen aufhalten, Jod einnehmen und besonders darauf achten, keine Radioaktivität über verstrahlte Nahrung aufzunehmen, also frisches Gemüse vermeiden: Zwiebeln, Salat, Sauerampfer …
Ich glaubte der Meldung sofort. Sauerampfer? Der Borschtsch war gerade fertig – köstlicher Frühlingsgeruch zog in die Stube, meine Frau wollte uns gerade auftun. Ich sprang auf, riss ihr den Topf aus der Hand, rannte ins Bad und schüttete den Borschtsch ins Klo.
Irgendwie erklärte ich dann meiner fassungslosen Frau, was geschehen war, ohne es selbst ganz begriffen zu haben. So trat das schreckliche Wort in seinem ganzen Ernst endlich auch in unser Leben: Strahlung.
Und im Fernsehen waren fröhliche Menschen mit Blumen und Luftballons bei der Parade zum 1. Mai zu sehen. Lächeln, begeistertes Winken in die Kameras: Wir werden gefilmt … In Moskau, in Kiew, in Minsk, in Homel, in Choiniki, in Brahin, in Naroulja … “Es lebe der 1. Mai, das Fest der progressiven Menschheit!” “Es lebe die sowjetische Presse, die wahrhaftigste Presse der Welt!”
Von offizieller Seite wurde mit allen Mitteln für Ruhe und Stabilität gesorgt, rein äußerlich sollte nichts auf das große Unglück hindeuten, das über das Land gekommen war. Dabei war die Lage keineswegs so unproblematisch, wie man in Choiniki, Brahin, Homel und noch in Sachalin hätte meinen können. Die Verantwortlichen wussten nicht, was sie mit dem vierten Reaktorblock anstellen sollten, eine neuerliche Explosion war jederzeit möglich, auch hätte der Brand auf Block III übergreifen können. Der Wind wehte nach Belarus und trug radioaktive Wolken weiter in Richtung Moskau. Es war nicht mehr auszuschließen, dass die 30-km-Sperrzone auf hundert Kilometer ausgeweitet werden musste.
Für die radioaktiven Wolken fand man eine denkbar einfache Lösung: Man ließ sie hinter Homel im Raum Wetka, Tschatschersk und über einem Teil des russischen Gebiets Brjansk, über den Kreisen Krasnaja Gora und Nowosybkow abregnen. So bedeckte der Fallout die Ufer der großen belarussischen Flüsse Prypjaz, Dnjapro und Sosch. Geografisch gesehen ging die Asche Tschernobyls also über der Ukraine, Belarus und Russland nieder, ethnisch betrachtet traf sie fast ausschließlich die Belarussen. Denn auch das ukrainische Gebiet Tschernigiw um Tschernobyl und das heute russische Umland von Brjansk ist hauptsächlich von Belarussen bewohnt. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur einen Blick in ethnografische Karten werfen oder zuhören, wie die Menschen in der Region, besonders die Alten, miteinander sprechen.
Ich habe bis heute kaum eine Zeile über Tschernobyl geschrieben. Ich kann nicht.
Aber vergangenes Jahr ist mit dem Tod meiner Eltern eine wichtige Brücke zu meiner Heimat abgebrochen. Ich kann jetzt nur noch ihre Gräber besuchen. Vielleicht habe ich deshalb nun den Mut aufgebracht, über den ersten Monat nach Tschernobyl zu schreiben, ohne weiterzuschauen, ohne näher auf die jüngere Geschichte einzugehen. Und damit will ich es bewenden lassen. Es soll bei einem Monat bleiben, damit sich der Text nicht ins Unlesbare auswächst.
Dabei ist selbst aus diesem einen, ereignisreichen Monat noch so vieles unerwähnt geblieben. Der Besuch der hohen Parteiführung, des ersten Sekretärs des ZK der KPB Nikolai Sljunkow in der “Zone”. Noch lange später hat man in der Region von seinen Wechselschuhen gesprochen und von den Kleidern, die er anzog, als er aus dem Auto stieg und beim Einsteigen wieder auszog und anschließend wegwarf. Nur die Parteibonzen glaubten, die Menschen hier bekämen nichts mit und hätten keine Ahnung. Die leidgeprüften Belarussen haben einfach gelernt, schweigsame Dulder zu sein.
Und der sowjetische schöne Schein, immer war alles gut und in bester Ordnung: “Der gewohnte Takt von Arbeit und Freizeit wird beibehalten, die Lage ist stabil”. Und das Fußballspiel zwischen Brahin und Choiniki, das für das erste Wochenende nach dem Unglück angesetzt wurde und in den Nachrichten des zentralen Fernsehkanals zu sehen war. Wo sind diese Fußballer heute und wo die auf die Tribüne beorderten Zuschauer, die sich ohne es zu wissen einer extremen Strahlenbelastung aussetzten, die Gesundheit und Leben riskierten?
Und der gemeinsame Besuch des Volksdeputierten und Nationalschriftstellers Iwan Schamjakin, bis kurz vor dem Unglück noch Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der BSSR, mit seinen Kollegen und Landsleuten Barys Satschanka und Mikola Mjatlizki. Vielleicht war es ihnen nicht einmal bewusst, aber ihre Wanderung in die “Unglückszone” war Teil der Systempropaganda zur Beruhigung der betroffenen Bevölkerung. Wenn solch ehrenwerte Herrschaften keine Angst hatten, hierher zu kommen, dann konnte alles ja so schlimm nicht sein …
Wie geht es weiter, wenn die Halbwertszeit von Cäsium und dann auch Strontium abgelaufen ist?
Darüber will die Menschheit lieber nicht nachdenken, sie hat auch so schon Sorgen genug. Sie kümmert sich jetzt eher um die “globale Erwärmung”. Da fließen die Geldströme. Und was ist schon mit Tschernobyl zu holen? Vielleicht ein bisschen “Extremtourismus” in den evakuierten, mittlerweile halb zerfallenen Städten und Dörfern, in denen noch heute die Hektik und Brutalität des abrupten Aufbruchs und der konservierte Geist der untergegangenen UdSSR zu besichtigen sind; Fahrten zu den “nicht ausgesiedelten” Wäldern, Wiesen, Flüssen und Seen mit ihren “nicht ausgesiedelten” Wölfen, Elchen, Hasen, Igeln, Schlangen und Fröschen. Diese Art des “Tourismus” könnte noch ein wenig Geld bringen, alles andere kostet: Sanierungsmaßnahmen, Desaktivierung, Behandlung der Folgekrankheiten … Und wozu Geld ausgeben? Das geht doch uns in Rom, Paris und Stockholm nichts an. Das ist doch weit weg, in irgendeinem weißen Russland. Und in Minsk denkt man genauso: nicht bei uns, sondern weit weg, wo liegen denn Brahin und Choiniki, Wetka und Naroulja? Ob in der Hauptstadt oder in der “Tschernobyl-Zone” selbst, überall scheint das Strahlungs-Thema nur noch Frustration auszulösen, es besteht ja doch keine Hoffnung, dass sich noch etwas ändert.
Wir sind offenbar noch nicht tot, abgesehen von dieser Gleichgültigkeit gegen uns selbst, gegen unsere Nächsten, unsere Nachfahren, unsere Heimat und unsere Erde. Sorglos und fahrlässig leben wir dahin, ohne an die Zukunft zu denken. Nein, wir leben längst nicht mehr, wir existieren bloß noch. Anders ist das nicht zu erklären.
Wir sind längst nicht mehr gleichgültig, wir sind gefühlstot.
P.S. Dieser Text ist mir schwergefallen. Er hat mich über zwanzig Jahre gekostet. Mehrmals habe ich angefangen und nach ein paar Zeilen wieder abgebrochen. Denn ich wollte nur erzählen, was ich selbst erlebt habe, keine Tschernobyl-Reportage mit Inhalten aus anderen Büchern oder dem Internet. Und nur über persönliche Dinge zu schreiben, ist immer schwer. Nun habe ich endlich die Kraft aufgebracht, mir diese Zeilen abzuringen.
Die Unsicherheit und die Ungewissheit, die sich durch den gesamten Text ziehen, lassen mich immer wieder zweifeln, ob er überhaupt gedruckt werden sollte. Denn so wie damals bei uns rein äußerlich nichts geschehen ist, geschieht auch in diesem Text nichts, so unverständlich wie die Tragödie damals war, bleibt auch dieser Text. Eine Art Tagebuch der Ereignisse ist entstanden, aufgezeichnet mit über zwanzig Jahren Abstand.
Bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung an jene Ereignisse auch des Gedächtnis anderer auf Touren bringt, dass auch sie sich wieder an den heißen, regenlosen, staubigen, sturmtrockenen April erinnern, an die Desaktivierung, die Tschernobyl-Aussiedler …
Sicher sind viele Empfindungen inzwischen abgestumpft, die Grundstimmung ist aber die alte. Wir haben damals nicht verstanden, was Tschernobyl uns gebracht hat, und wir können die tragischen Konsequenzen auch heute noch nicht gänzlich ermessen. Die Strahlung ist etwas Fürchterliches, sie tut nicht weh, sie tötet unauffällig und in aller Stille. Gedächtnislosigkeit ist etwas Fürchterliches – auch sie tötet still. Nicht konkrete Personen, sondern eine Nation.
Eine ganze Nation …
Erst eine Nation und dann … die gesamte Menschheit?
Die vollständige Version dieses Artikels erscheint in Osteuropa 07/2011
Published 26 April 2011
Original in Belarusian
Translated by
Thomas Weiler
First published by Dziejaslou 45/2010 (Belarusian version); Osteuropa (unabridged German version)
Contributed by Osteuropa © Barys Piatrovich / Dziejaslou / Eurozine
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