Ukraïne – zwei Tüpfelchen auf dem "i"

Russischsprachige in der Ukraine seien ein Bestandteil der “russischen Welt”, erklärt Wladimir Putin immer wieder und begründet hiermit die Legitimation für Einmischung. Immerhin handelt es sich dabei um jeden dritten Ukrainer: 15 Prozent geben laut aktuellen Umfragen ausschließlich Russisch und 22 Prozent – Russisch und Ukrainisch als Muttersprachen an. Was ist da dran, wollten wir wissen und haben uns nach Chmelnyzkyj – einer 300 000 Einwohnerstadt auf halber Strecke zwischen Kiew und Lwiw – aufgemacht.

Zugfahrt Dnipro – Chmelnyzkyj. Der Schaffner verteilt Tee. Anstatt der klimpernden Löffel gibt es neuerdings Teestäbchen. Die Reisenden unterhalten sich leise. Ein 14-jähriger Junge sitzt am Fenster und holt einen Schatz nach dem anderen aus seinem Rucksack. Eine Packung Militär-Fertigessen, Hülsen und zersplitterte Munitionsreste. Maxym erzählt, dass er die Sommerferien bei seinem Vater an der Front im Donbass verbracht habe. Er durfte sogar auf dem Übungsplatz aus einer Kalaschnikow schießen und sei mit dem Vater im Panzerwagen mitgefahren. Manchmal stockt er. Dann spricht er weiter. Maxym will nach der Schule auf eine Militär-Akademie gehen um so, wie sein Vater, die Ukraine zu verteidigen. Die Mitreisenden hören aufmerksam zu, wollen wissen, wie es den Soldaten an der Front geht. Mühelos wechselt Maxym aus dem Ukrainischen ins Russische und umgekehrt, je nachdem, wie er angesprochen wird. Chmelnyzkyj, Endstation.

800 km ist die Stadt von der Frontlinie entfernt. Hier merkt man vom Krieg im Osten so gut wie nichts. Der Namensgeber der Stadt, Kosakenhetman Bohdan Chmelnyzkyj thront in Siegerpose auf einem überdimensionalen Pferd direkt am Zentralplatz und ist doch durch die Baumkronen verdeckt. Als ob sich die Städter nicht sicher wären, ob sie ihn als Gründer des ersten ukrainischen Kosakenstaates rühmen oder wegen des Anschlusses an das Zarentum Russland verdammen sollten. 1954 erhielt die Stadt Hetmans Namen, aus dem Anlass des 300. Jubiläums des Vertrages von Perejaslaw, eines Treueeides, den die Saporoger Kosaken auf den russischen Zaren Alexej I. ablegten. Wer war nun Bohdan Chmelnyzkyj: Held oder Verräter? Die Frage ist offen.

Photo: Jewgenij Pedin

Unbestritten bleibt, dass die Geschicke der Ukrainer seitdem mit der Geschichte des russischen Reiches eng verflochten blieben. Nicht gerade zugunsten der Ukrainer, wie es sich herausstellen sollte. 1876 wurde Ukrainisch von der zaristischen Zensurbehörde aus Angst vor Separatismus verboten, bis 1906 blieb es dem öffentlichen Leben versperrt. Zu Sowjetzeiten war Russisch als Staats-, Prestige- und transnationale Sprache in der Ukraine allgegenwärtig. In der Sowjetukraine, wie auch im benachbarten Weißrussland, wo Landessprachen dem Russischen ähnlich sind, hatte es – zumindest in den Städten – eine nahezu totale Russifizierung der Bevölkerung zur Folge. So waren vor 25 Jahren, zum Zeitpunkt der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung, nur drei von dreißig Chmelnyzkyer Schulen ukrainisch, der Rest war russischsprachig. Heute ist es genau umgekehrt. Was – und vor allem in welcher Sprache – sagen die Bewohner zu dieser Wende?

Chmelnyzkyj ist für seine Theater bekannt. Allein an Monotheatern gibt es zwei an der Zahl, ein russisches und ein ukrainisches. Das Theater “Kut” (Das Eck) mitten in der Innenstadt ist eines davon. Es ist das einzige stationäre Monotheater in der Ukraine. Das heißt: ein Ein-Mann-Theaterbetrieb mit eigenem Gebäude dazu. Davon gibt es nur fünf oder sechs in ganz Europa. Erzählt sein Erfinder, Direktor, Manager und Darsteller in einer Person Volodymyr Smotritel. Dreizehn Stücke hätte er in petto, mehr als jedes andere Monotheater der Welt. Zu seinem internationalen Monotheaterfestival reisen Performer aus der ganzen Welt an. Im Sommer wurde Smotritel zum Volkskünstler der Ukraine ernannt. Höher geht es nicht. Doch, erwidert er. Er fühle sich wie ein Birnbaum, der Jahr für Jahr wächst und Früchte trägt.

Breitbeinig und gestikulierend sitzt das 60-jährige Energiebündel in seinem Theaterbüro und sieht gar nicht alt verdient aus. Eher frisch verliebt. Das Telefon klingelt, es schauen Leute herein. Smotritel ist ein gefragter Mann.

Sein Monotheater bedeute für ihn die Wiedergeburt der ukrainischen dramatischen Kunst. Vor allem aber sei das Theater Sprache. Sein Werkzeug.

“Ich bin nicht gegen Russisch. Jede Sprache ist eine Bereicherung”. Bei ihm würden gelegentlich auch russischsprachige Autoren auftreten. Aber Ukrainisch sei nun mal die Muttersprache der Ukrainer, sie sei ihnen von Natur gegeben. Russisch als zweite Staatssprache in der Ukraine zu etablieren, wäre fatal. Das würde instrumentalisiert werden und Konflikte schaffen.

Er erzählt von den Treffen mit den Bewohnern international nicht anerkannter Volksrepubliken Donezk und Luhansk. “Ich frage sie dann nur: “Wer seid ihr? Wo sind eure Wurzeln? Was sind eure Lieder und Verse?” Russischsprachige in der Ukraine seien für ihn Russifizierte, zu 90 Prozent seien diese Menschen Opfer des totalitären Moskauer Reiches.

Eines der prägendsten Erlebnisse sei für Smotritel ein Auftritt bei einem Theaterfestival im russischen Perm 1989 gewesen. ” Ich hörte, wie ein echter Russe Jesenin vortrug. Damals schwor ich mir, dass für mich Russisch auf der Bühne tabu bleibt, denn, niemals würde ich es schaffen, so auf Russisch zu lesen! Da würde die Seele singen. Niemals werde ich ein Russe sein!”

Er überlegt kurz. “Na gut, Gogols Abschiedsbrief lese ich auf der Bühne natürlich im Original, also auf Russisch, ich bin ja kein Vandale”. Schließlich sei er drei Jahre lang in Moskau zur Schule gegangen. Wenn ihn aber ein Ukrainer Russisch anspräche, würde er immer ukrainisch antworten.

Volodymyr erzählt von seiner Schwester, die nach dem Hochschulabschluss 1985 eine Stelle in Riga zugewiesen bekam. Die Schwester habe sich fürchterlich aufgeregt, dass man sie in Lettland gezwungen hätte, Lettisch zu lernen. “Ich sagte ihr, richtig so, die lettische Nation steht am Abgrund! Du bist ein Bandera-Nationalist, schrie sie mich dann an. Damals wusste ich nicht einmal, was dieses Wort bedeutete! Fünf Jahre lang haben wir kein Wort miteinander geredet. Dann kam sie und kniete vor mir. Wie richtig ich doch damals gelegen habe. Jetzt spräche sie Lettisch, habe Karriere gemacht und Freunde gefunden. Ein in jeder Hinsicht reicher Mensch geworden”.

Seine Mission sei – die Menschen vor die Fragen zu stellen: wer bin ich, was passiert mit mir. “Damit sie nicht dorthin fliehen, wo es schön ist, sondern ihr Leben selbst in die Hand nehmen.” Alles, was er besitze, habe er sich hart erkämpfen müssen. Klinken geputzt, Bittschriften verfasst, Überzeugungsarbeit geleistet. Immer wieder selbst angepackt. Wo nichts mehr half, auch mal gezeltet und gehungert vor der Stadtverwaltung, noch lange vor dem Maidan in Kiew. Wer nicht kämpfe, der verliere. Alternativlos. Volodymyr Smotritel verabschiedet sich und lädt zur Saisoneröffnung am Abend ein. Eine Premiere! Bis dahin gäbe es noch viel zu tun.

Am Zeitungskiosk um die Ecke steht eine betagte gepflegte Frau im Kopftuch. “Ich habe mit mir lange gerungen, bevor ich heute aus meinem Dorf herkam”, sagt sie, während sie sich eine Wickelpuppe im Trachtenhemd aussucht. Wie könne man nur so ausgelassen sein, wenn unsere Söhne im Osten sterben? Ihr Ukrainisch klingt wie ein Klagelied. “Aber ich bin dennoch glücklich, dass ich herkam. Das Leben geht weiter”.

Der Kiosk bietet Dutzende Publikation für jeden Geschmack und Alter. Die Frage, welche Sprache denn bei ihr die Überhand hätte, Russisch oder Ukrainisch, macht die Verkäuferin stutzig. Mit jeder weiteren abkassierten Zeitung wird sie gesprächiger. Fifty-fifty, schätze sie. Wobei es bei den Abos anders ausfalle. Da würden die meisten regionale ukrainische Zeitungen beziehen. Das wisse sie von einer befreundeten Postangestellten. “Meine andere Freundin lebt in Israel”, erzählt sie. “Das muss man sich erst vorstellen. Innerhalb der kürzesten Zeit haben die Israelis ihre praktisch tote Sprache – Hebräisch – zum Leben erweckt.” Dort würden vielleicht auch viele, ihre Freundin übrigens inbegriffen, wollen, dass Russisch zur Staatssprache erklärt wäre, allzu bequem wäre das für viele. Das Beispiel zeige, wie wichtig der Wille sei.

Sie selbst sei gegen Russisch als zweite Staatssprache. Sonst könne sie ihre ukrainischen Zeitungen bald abbestellen. Die Verkäuferin bringt es fertig innerhalb eines langen Satzes dreimal Sprache zu wechseln, aus dem Russischen ins Ukrainische und wieder zurück. “Dzerkalo tyshdnja”, der ukrainische “Spiegel”? Nein, so etwas führe sie hier nicht, weder auf Russisch noch auf Ukrainisch, zu intellektuell. Aber eine Straße weiter sei die Jugendbibliothek, dort würde man garantiert fündig werden.

Die 40-jährige Bibliothekarin Tetyana sitzt am Einlass. Über ihrem Kopf hängt an der Wand eine gelb-blaue Armee-Fahne mit vielen Unterschriften darauf. “Ein Dankeschön von den Jungs von der Front für unsere Spenden”, sagt sie. Ukrainisch sei zwar ihre Muttersprache, sie beherrsche es aber nicht perfekt, immer wieder ertappe sie sich dabei, aus dem Russischen zu übersetzen. Bei ihren Kindern wäre es nicht mehr der Fall. Sie sprächen ein schönes sauberes Ukrainisch.

Ob es in der Bibliothek Puschkin auf Ukrainisch im Angebot gäbe? Klar, aber “Puschkin auf Ukrainisch, das muss nicht sein!” sagt sie überzeugt. Puschkin solle man im Schulprogramm auch weiterhin auf Russisch belassen, das würde doch in der Ukraine jedermann verstehen. Die heutigen Schüler dürfen sich selber aussuchen, ob sie Puschkin im Original oder in der ukrainischen Übersetzung im Unterricht lesen. Die allerwenigsten würden sich für Russisch entscheiden, die Sprache sei den meisten nicht mehr geläufig. Schade, denn im Original sei es immer schöner. “Eigentlich sollten auch die Russen unseren Nationaldichter Taras Schewtschenko auf Ukrainisch lesen. Wenn wir Russisch verstehen, dann müsste es doch auch umgekehrt möglich sein, oder?”

Tetyana zeigt einen riesigen Saal mit Parkett und Flügel. Hier fänden die besten Literaturabende von Chmelnyzkyj statt. Montags trifft sich hier der regionale ukrainische Schriftstellerverband und sonntags der russische Verein. “Rufen Sie doch Sergej Nikolajewitsch Trojanowskij an. Wenn Sie sich für Puschkin interessieren, ist er Ihr Mann!”

Eine eigene “Ecke” hat Sergej Nikolajewitsch in Chmelnyzkyj nicht. Dafür eine “Stimme”. So heißt sein russischsprachiges Monotheater. Auf der Stadtkarte sucht man nach diesem Theater vergeblich. Wo ist Ihr Zuhause, Sergej Nikolajewitsch?

“Na in Deutschland, wo denn sonst?” Sergej Nikolajewitsch sitzt in der neu eröffneten Filiale der Nobelkette “Lemberger Schokoladenwerkstatt” und lacht. “Im Ernst jetzt, ich bin in Beelitz bei Cottbus zur Welt gekommen, mein Vater war in Deutschland beim Militär”. Er zeigt ein vergilbtes Foto, 1954, sein Vater hält ihn auf dem Arm, im Hintergrund der kaputte Reichstag. Der Vater stammte aus der Ukraine, die Mutter war eine Russin aus Litauen.

Nach Chmelnyzkyj hat es ihn als Jugendlichen verschlagen. Seine erste Rolle, die des Zarewitschs Jelissej aus einem Märchen von Puschkin, hatte er bereits im Schultheater. Er wollte in Moskau Theater studieren. Und hat die Aufnahme knapp verfehlt. Sein Vaters Traum war, dass der Sohn ebenfalls im Militär Karriere machte, aber “die Welt durch das Gitter zu betrachten, war für mich eine Horrorvostellung. Wie Tiere im Käfig!” Viele Möglichkeiten gab es in Chmelnyzkyj damals nicht.

Also wurde er Lehrer für russische Literatur. Er öffnete seinen Schülern die Tür in die faszinierende Welt der Bücher. Der von Puschkin und Dostojewskij. Er spielte mit Schülern Theater und war der einzige Lehrer weit und breit, der sie siezte. Dann kamen aber die schlimmen Nuller-Jahre. Als das Alte endgültig zerfiel und das Neue nicht kommen wollte. Als sich Parteibonzen zu Mafia-Bossen aufschwangen. Als Lehrer keine Autorität mehr genossen und Schuldirektoren zu Dealern wurden. Da habe er das Handtuch geschmissen.

Nun hatte er fürs Theatermachen viel Zeit. Sein Monotheater ist die russische “Stimme” der ukrainischen Stadt Chmelnyzkyj. Für ihn kein Widerspruch. Vor zehn Jahren hat Sergej Nikolajewitsch für den lokalen TV-Sender einen Film namens “Das russische Proskurow” – so hieß die Stadt bis 1954 – produziert. Um den berühmten russischen Schriftsteller Kuprin etwa ging es in dem Film, der hier seinen Militärdienst absolvierte und das Provinzstädtchen in seinen Romanen verewigte. Um die Dichterin Anna Achmatowa, deren Mutter in der Gegend gelebt hat, heute befindet sich in diesem Dorf das nach dem Petersburger zweitgrößte Museum Achmatowas. Der Film hat ihm viel Lob, aber auch schiefe Blicke eingebracht. Aber er könne doch nichts dafür, dass das Russische die Stadt genauso geprägt habe, wie etwa das Polnische oder das Jüdische. Heute sei Russisch zum Politikum verkommen. Leider!

“Früher glühte mein Telefon. Jede Schule wollte mich zu jeder Feier holen. Es war überwältigend, den Kindern wahre Poesie vorzutragen!” Das letzte Mal habe man ihn 2014 eingeladen. Dann kam der Krieg und sein Telefon verstummte.

Nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hätte es eine kurze Zeit der Euphorie gegeben, als viele Russischsprachige in der Ukraine bereit waren, Ukrainisch zu lernen. “Die Machhthabenden haben alles versaut. Sie wollten alles und sofort. Wenn du auf der Stelle nicht Ukrainisch sprichst, bist ein Schweinehund!” Aus Protest hätten die Menschen dann Russisch gesprochen. Nach der Orange Revolution hätte die Ablehnung alles Russischen an Schärfe zugenommen. Er fühle sich in diesem Land als ein potenzieller Feind, nur weil er Träger russischer Kultur sei. Offen würde man das nicht sagen. Das sei aber die offizielle Staatspolitik.

“Als ich anfing, Ukrainisch zu lernen, begann mein Kiefer zu schmerzen. Die Zungenstellung ist ganz anders. Du musst ständig die Härte und die Weichheit der Konsonanten kontrollieren”. PAL-JA-NY-TSJA – Sergej Nikolajewitsch demonstriert das Gesagte an der “unaussprechlichen ukrainischen Vokabel” für Brotlaib. “Heute kann ich es richtig, zu meiner Studienzeit haben sich die Kommilitonen über meine Aussprache tot gelacht”. Er lächelt.

Und plötzlich fängt er an, Ukrainisch zu sprechen. Gehobenes, literarisches Ukrainisch. Und amüsiert sich über den hinterlassenen Effekt. 1999 – das wisse er noch ganz genau – hätte man ihn gebeten, die Gedichte eines lokalen Dichters, der gerade mit 48 Jahren verstorben sei, bei einem Literaturabend zu lesen. “Unter “lokalem Dichter” witterte ich Mittelmaß. Ich las und traute meinen Augen nicht. Seine Poesie hat mich ins Mark getroffen. Ich sagte mir, jetzt wirst du überall hin fahren und diese Gedichte vortragen. Auf Ukrainisch. So fing es an. Im westlichen Kolomyja, dem Geburtsort des Dichters las ich. Im Saal saßen stattliche Burschen in Huzulen-Mänteln. Ich wurde als Vorsitzender der russischen Bewegung vorgestellt. Etwas Finsteres blitzte in ihren Augen. Da erhob sich einer – ich dachte schon, meine letzte Stunde hat geschlagen – und sagte mit bewegter Stimme: unser tiefer Dank gilt diesem Russen, der uns unseren Dichter zurückgebracht hat! Seitdem spreche ich Ukrainisch”.

Ein junger Mann begrüßt die Runde und nimmt am Tisch neben Sergej Nikolajewitsch Platz. Pawel ist ein Ex-Schüler. Er will ihn später zu einer Vernissage abholen. Sergej Nikolajewitsch soll dort eine Laudatio halten. “Nach und nach habe ich auch andere ukrainische Autoren für mich entdeckt”. Ukrainisch sei ein Universum, wie Russisch auch. Aber eigentlich spiele es keine Rolle, welche Sprache man spreche. Du müsstest sie nur perfekt beherrschen. “Wenn ich aber diesen fürchterlichen Surschyk (Gemisch aus Russisch und Ukrainisch, Red.) auf der Straße höre, wird es mir speiübel…”

“Lassen Sie Sergej Nikolajewitsch bloß nicht über Surschhyk reden, sonst sitzen wir hier auch morgen noch”, wirft Pawel ein. Dazu falle ihm übrigens ein schöner Witz ein. Wer ist jemand, der nur eine Sprache spricht? Ein Moskauer. Und wer drei Sprachen spricht? Richtig, ein Ukrainer! Und zwar, Ukrainisch, Russisch und Surschyk”. Beide brechen in Gelächter aus. “Und wenn Sie meine Meinung hören wollen”, setzt Pawel fort. Seine Muttersprache sei Russisch. Früher habe er sich wie Sergej Nikolajewitsch, für Russisch als zweite Staatssprache eine Lanze gebrochen.

“Jetzt ist aber Krieg. Russisch ist zur Sprache des Feindes geworden, wie schlimm das auch klingen mag”. Das sei die Realität. Viele aus seinem Freundeskreis hätten ihre Einstellung zur ukrainischen Sprache geändert. “Wir sprechen jetzt bewusst Ukrainisch, um Flagge zu zeigen”. Vor dem Krieg hätte sich Pawel darüber keine Gedanken gemacht. Jetzt nähme er Ukrainisch als Symbol der Ukraine wahr, wie die ukrainische Fahne oder die Hymne. “Und wenn du die Ukraine unterstützt, dann unterstützt du alles, was sie symbolisiert”. Vieles sei in den letzten drei Jahren in Bewegung geraten. Nahezu jede ihm bekannte Familie hätte entweder Tote aus dem Verwandtschafts- oder Freundeskreis zu beklagen oder müsse sich um Geflüchtete aus dem Donbass oder von der Krim kümmern. Einige Freunde seien nach Russland ausgereist, er kenne aber auch welche, die aus Russland hierher gezogen seien. Es seien harte aber auch spannende Zeiten. “Zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine formiert sich hier gerade eine politische Nation”.

Tatsache sei, dass Russisch in der Ukraine seinen dominierenden Status, den es zu Sowjetzeiten innehatte, verloren habe. Jetzt sei russische Sprache hierzulande eine Fremdsprache, so wie es auch Englisch oder Deutsch seien. Aber keiner hindere dich daran diese Sprachen perfekt zu beherrschen. Man solle sich übrigens an Georgien ein Beispiel nehmen. Nach der russischen Invasion 2008 habe man dort Russisch aus der Schule entfernt. Jetzt würden die Jugendlichen perfekt Englisch können und seien für russische Propaganda nicht mehr anfällig.

Zugegeben, es komme manchmal zu Exzessen, zur totalen Ablehnung alles Russischen, sei es Filme oder Waren “made in Russia”. Russland verkörpere die Idee eines Imperiums, die Idee der Sowjetunion. Genau das sei es, wovon man sich in der Ukraine abgrenzen wolle. Wenn der Krieg zu Ende sei, würde sich alles wieder einpegeln. In Pawels Familie würde auch heute noch Russisch gesprochen. “Wir lesen den Kindern nach wie vor Puschkins Märchen. So wie wir ukrainische Märchen auf Ukrainisch lesen. Oder englische auf Englisch.”

Sergej Nikolajewitsch steht auf. “Wunder gibt es nicht, am allerwenigsten, wenn es um Spracherwerb geht. Es ist ein langer und schmerzhafter Prozess”. Es ist nicht ganz klar, wem er diese Worte mit auf den Weg geben will.

Saisoneröffnung im Monotheater “Kut”. “Gedichte sind für Ehefrauen bestimmt, Lieder aber sind für alle da!” Sagt Volodymyr Smotritel und stimmt auf der Gitarre eine selbst vertonte Ballade an. Er sitzt auf der hell beleuchteten Bühne im überfüllten Saal. Sein zehnjähriger Sohn, der gerade zum Auftakt das Theaterglöckchen geschwenkt hat, trägt ein besticktes Wyschywanka-Hemd.

Die Gedichte stammen aus der Feder eines bekannten Dichters. Präsentiert wird eine CD, die es vielleicht gar nicht geben wird, es sei denn es fände sich ein Sponsor im Saal, sagt Smotritel und strahlt das Publikum kurz an. Der Verfasser der Verse nimmt es als Einladung auf. Er erhebt sich von der ersten Reihe und lässt sich von eifrigen Helfern auf die Bühne hieven.

“Ein Labsal ist dieses Theater hier, ein Ort, wo man gemeinsam schweigen kann, denn Quaselstrippen gibt es bei uns noch und nöcher”. Gekicher im Saal. Im Übrigen entschuldige er sich, weil er nicht ganz nüchtern sei. Er käme gerade von einer Beerdigung zurück. Das tut der Beseeltheit des Saales keinen Abbruch. Das Publikum singt mit, lacht, applaudiert. Es gibt viele Blumen zum Schluss. Der größte Strauß besteht aus in den Nationalfarben gehaltenen gelben und blauen Chrysanthemen. “Dobroho wetschora! Guten Abend noch”, trägt Volodymyrs Sohn zum Abschied vor. Und “Slawa Ukrajini! Ruhm der Ukraine!”

Die Zuschauer verlassen das Theater in Grüppchen und gesellen sich zu den festlich gekleideten Menschen, die durch die Fußgängerstraße flanieren. Es ist ein lauer Abend. “Diese “Ecke”, dieses Theater hier, ist das geistige Zentrum für uns”, sagt Maria, eine Endfünfzigerin, die sich als Vorsitzende des regionalen ukrainischen Schriftstellerverbandes vorstellt.

Maria verfasse ihre Gedichte auf Russisch und Ukrainisch. Neulich habe sie sogar einen Lyrik-Preis aus Russland bekommen. Sie könne nicht erklären, wann ihr und warum nach der einen oder anderen Sprache zumute sei. Sie habe, wie viele andere in der Stadt, eine russische Schule absolviert und ausschließlich Russisch gesprochen. Bis 2004 die Orange Revolution ausbrach. Da strömte es aus ihr hervor, das Ukrainische. Sie entdeckte dessen Schönheit und eigene Wurzeln.

Jetzt habe sie das Bedürfnis etwas aus ihrer Lyrik vorzutragen, sagt Maria und legt auf der Stelle los: “Der prächtige Boulevard hier ist ein Ballsaal, wo die Kastanienbäume Walzer tanzen…” Ein paar Passanten bleiben neben ihr stehen und hören zu. Ein junger Mann hält einen Zettel und ein Handy in der Hand. Er bittet eine Frau ihm eine Nummer einzutippen. Diese versteht nicht gleich, was er meint. Dann zeigt ihr der Mann seine Hände mit gekrümmten Fingern. Sie sehen wie Krallen aus. “Verzeih, Schwester! Ich komme von der Scheiß-Front. Und die Finger machen nicht mehr mit”. Die Hand der Frau zittert, als sie die Nummer eintippt.

Published 9 December 2016
Original in German
First published by First published in Eurozine (English and German versions)

© Irina Serdyuk / die tageszeitung / Eurozine

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