Über die dunkle Seite der Geschichte

Carlo Ginzburg im Gespräch mit Trygve Riiser Gundersen

Die Geschichte klingt, als wäre sie einem trivialen historischen Roman entnommen. Im Frühjahr 1321, in der Osterwoche, verbreitet sich im Süden Frankreichs wie ein Lauffeuer das Gerücht, ein Komplott zur Ermordung aller Christen sei geschmiedet, und die Brunnen im ganzen Land seien vergiftet worden. Das Gerücht erfaßt binnen kürzester Zeit ganz Frankreich und breitet sich bald auch jenseits seiner Grenzen in der heutigen Schweiz und im heutigen Spanien aus. In manchen uns erhalten gebliebenen Chroniken wird behauptet, das Komplott sei das Werk von Aussätzigen. Anderswo wird behauptet, Juden und Aussätzige hätten die Brunnen gemeinsam vergiftet. Mancherorts beschuldigt man die muslimischen Herrscher in Granada oder Tunis oder den Sultan von Babylon, Juden und Aussätzige für die Ermordung von Christen bezahlt zu haben. Die Gerüchte führen zu Menschenjagden und Blutbädern in ganz Frankreich. Geständnisse und andere Beweise zu ihrer Rechtfertigung folgen auf der Stelle. Weitschweifige Erklärungen, wie das Gift in die Brunnen gekommen sei, kursieren. Komplizen der Verschwörer werden öffentlich angeprangert, und in zeitgenössischen Briefen und Dokumenten ist die Rede von einer Verbindung zwischen Juden und Sarazenen, aber auch von Plänen, denen zufolge eine Regierung aus Juden, Aussätzigen und Moslems nach den begangenen Untaten die Macht in Europa übernehmen sollte.

Als Folge dieser Geschehnisse im Frühjahr 1321 wurden in ganz Frankreich Leprakranke interniert, um Beziehungen zwischen Infizierten und dem Rest der Bevölkerung zu unterbinden und zu verhindern, daß Leprakranke Kinder zeugten. Hier wurden zum ersten Mal in der europäischen Geschichte nachweislich großangelegte Isolierungsmaßnahmen vorgenommen, die noch in den folgenden Jahrhunderten als Vorbild für Vorgänge dieser Art dienen sollten. Für die Juden bedeuteten die Ereignisse von 1321 Pogrome und den Scheiterhaufen, Beschlagnahmung ihres Besitzes, Ausschluß vom Wirtschaftsleben und schließlich, mit dem Erscheinen eines königlichen Edikts im Jahr 1323, ihre Vertreibung von französischem Boden. Schon im Sommer 1321 hatte der König verlautbaren lassen, daß die Anschuldigungen gegen die Juden wohlbegründet seien und ernstgenommen werden sollten.

Der Glaube an einen Hexensabbat

Mit dieser Erzählung beginnt das Buch Storia notturna: Una decifrazione del Sabba (1989) des italienischen Historikers Carlo Ginzburg, das auf deutsch unter dem Titel Hexensabbat: Entzifferung einer nächtlichen Geschichte1 erschien. Ginzburg vollzieht den Lauf der Ereignisse von 1321 bis ins kleinste Detail nach und beschreibt, wie sich das Gerücht von Flecken zu Flecken und Stadt zu Stadt verbreitet und wie die Anschuldigungen immer schwerwiegender werden. Der Autor ist überzeugt, daß die Verschwörungstheorien, die in diesen Monaten Fuß faßten, eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein Phänomen waren, das eine mehrere Jahrhunderte lange Spur in der europäischen Geschichte hinterließ: der Glaube an einen Hexensabbat.

Die große Verschwörung

Carlo Ginzburg: Im Frühjahr 1321 sind wir konfrontiert mit der Idee von einer großen Verschwörung, der zufolge äußere Feinde sich mit Personen in unserer Mitte verbünden können, um die soziale Struktur in ihrer Gesamtheit zu unterhöhlen. Diese Vorstellung hatte zu jener Zeit überwältigende Auswirkungen. 1348 wurden alle Juden Südfrankreichs massakriert, nachdem man sie der Verbreitung des Schwarzen Todes beschuldigt hatte. Im frühen 15. Jahrhundert tauchte dieses Verschwörungsmodell erneut auf, diesmal jedoch in anderer Gestalt. Nun waren es die Anhänger der Schwarzen Künste, die hinter einer verdeckten Attacke auf die Christenheit vermutet wurden. Sie galten nicht mehr als Verbündete der Moslems, sondern der des Teufels. Die Verschwörung war folglich allgegenwärtig, konnte nicht mehr lediglich einem bestimmten Teil der Bevölkerung zugeschrieben und aus zwischenmenschlichen Konflikten abgeleitet werden, sondern aus einem absoluten Kampf zwischen Gott und dem Teufel. Damit war ein festes Fundament für einen Glauben an den Hexensabbat gelegt. Die Auswirkungen dieses Glaubens konnte man noch zwei Jahrhunderte später in ganz Europa spüren.

Trygve Riiser Gundersen: Glauben Sie dennoch, daß die Geschehnisse von 1321 einzigartig waren?

CG: Gerüchte verbreiteten sich nicht zufällig so schnell und systematisch in jenem Frühjahr. Irgendeine zentrale Amtsgewalt muß bei der Verbreitung der Anschuldigungen nachgeholfen haben. Die Vorstellung von der Verschwörung beruhte also selbst auf einer Verschwörung. Die uns zur Verfügung stehenden Quellen lassen darauf schließen, daß Personen beteiligt waren, die dem Zentrum der Macht in Frankreich zugehörten. Die Anschuldigungen können natürlich auf lokaler Ebene entstanden sein, doch wurde ihre Verbreitung zentral gutgeheißen und gesteuert. Dadurch unterscheiden sich die Unruhen von 1321 von den Ereignissen von 1348 und um 1400, die eher spontaner Natur waren.

In den Jahren vor 1321 erstarkte in politischen Kreisen der Wunsch, sowohl die wirtschaftliche Position, die die Juden einnahmen, zu zerstören als auch die beträchtlichen Summen unter ihre Kontrolle zu bringen, die damals wohltätigen Einrichtungen zur Pflege der Leprösen zuflossen. Beide Ziele konnten realisiert werden.

Das Auftreten einer solch großen, wohlkoordinierten Kampagne läßt sich nur durch das gleichzeitige Erstarken des Nationalstaats erklären. Die Verschwörung erscheint als ein verzerrtes Bild des neuen politischen Systems, als eine groteske Karikatur der neuen Funktionen des Nationalstaats, versehen mit dem Körnchen Wahrheit, das alle Karikaturen in sich tragen.

Doch ergibt sich dieses Bild nur, wenn die Vorkommnisse von 1321 als Ganzes gesehen und in ihrem chronologischen Ablauf untersucht werden – die vielen unterschiedlichen Ereignisse müssen von Tag zu Tag, wenn nicht gar von Stunde zu Stunde, zusammengesetzt und analysiert werden. Nur dann wird die Verbindung zwischen ihnen klar. Ich bin fest davon überzeugt, daß schlichte Chronologie zu den mächtigsten Werkzeugen des Historikers zählt. Der modernen Geschichtsschreibung mag deren Tauglichkeit suspekt sein, ihr kritisches Potential ist jedoch weitaus größer, als viele wahrhaben wollen.

TRG: Wenn Sie von der mittelalterlichen Furcht vor Verschwörungen sprechen, fühlt man sich unweigerlich an bestimmte öffentliche Stimmungslagen nach den Ereignissen des 11. September 2001 erinnert.

CG: Natürlich habe ich nicht an Derartiges gedacht, als ich das Buch geschrieben habe. Aber es stimmt, aus heutiger Sicht erscheinen manche Ähnlichkeiten verblüffend. So etwas kann passieren, wenn man als Historiker arbeitet – ein plötzliches Aufblitzen von Zeitgenossenschaft. Die letzten Jahre haben uns vor Augen geführt, welch eine Macht die Angst vor Verschwörungen auch heute noch entfalten kann. Ich verstehe es als Teil meiner Aufgabe als Historiker, auf solche geschichtlichen Verbindungen hinzuweisen – um mit der Überzeugung zu brechen, daß unsere eigenen Lebensläufe von der Geschichte losgelöst sind. Ehrlich gesagt gefällt mir alles, was uns von der Illusion einer historischen Autonomie befreit.

“Ich bin ein Jude, der in einem katholischen Land aufgewachsen ist; meine Erziehung war nicht religiös; meine jüdische Identität ist größtenteils das Ergebnis von Verfolgung”, schreibt Carlo Ginzburg im Vorwort eines seiner jüngsten Bücher. Ginzburg wurde 1939 in Turin geboren. Sein Vater, Leone Ginzburg, unterrichtete russische Literatur an der dortigen Universität, bis er 1934 seinen Lehrstuhl verlor, da er sich geweigert hatte, einen Treueschwur auf das faschistische Regime zu leisten. Er starb 1944 in dem Flügel des römischen Gefängnisses, der von den Deutschen kontrolliert wurde. Carlo Ginzburg wuchs bei seiner Mutter, Natalia Ginzburg (1916-1995), auf, die zu den wichtigsten italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts gehört.

Man hat den Historiker Ginzburg sowohl als Mikrohistoriker als auch als einen Detektiv bezeichnet. Er vertritt die Ansicht, daß sich die Arbeit des Historikers nicht direkt mit anderen wissenschaftlichen Tätigkeiten vergleichen läßt, sondern in das Feld des Entzifferns oder des Spurenlesens gehört, eine Arbeit, die eher der des Jägers oder Kommissars als der des Wissenschaftlers gleicht. Sein Zugang zur “Mikrogeschichte”: Ginzburg gehörte einem Kreis italienischer Historiker an, die in den 70er und 80er Jahren argumentierten, historische Übergänge seien nur dann vollständig zu verstehen, wenn sie auf der Mikroebene untersucht würden, auf der sich die Folgeerscheinungen großer sozialer Strukturänderungen stets bemerkbar machten.

Ginzburgs mikrohistorischer Ansatz und detektivisches Gespür beweisen ihre Stärken in seinem bekanntesten Buch Il formaggio e i vermi (Der Käse und die Würmer)2, das 1976 veröffentlicht wurde. Es erzählt die Geschichte eines Müllers aus Norditalien, der 1599 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ginzburg entdeckte die Dokumente zum Verfahren gegen Domenico Scandella – auch Menocchio genannt – in den Archiven der Inquisition in der Region Friaul. In dem Buch präsentiert er die Welt aus der Sicht eines Laien und Handwerkers, der im Laufe seines Lebens im Bergdorf von Montereale eine einzigartige Kosmologie entwickelt hatte (der Buchtitel bezieht sich auf Menocchios Überzeugung, daß die Welt aus dem Chaos entstanden ist, “gerade so, wie der Käse aus Milch gemacht wird, und es erscheinen Würmer in ihm, und die Würmer sind die Engel”, wie er seinen Richtern erklärte) und der gegenüber den Inquisitoren bemerkenswerten Mut und Selbstsicherheit an den Tag legte. Der Käse und die Würmer ist als eine intellektuelle Biographie des lange vergessenen Häretikers angelegt: ein Nachvollziehen seiner Geschichte, eine Darstellung der Geistesströmungen, die ihn beeinflußt hatten, und nicht zuletzt eine sorgfältige Studie der Bücher, die Menocchio seinen eigenen Angaben nach gelesen hatte, sowie seine eigene Deutung ihres Inhalts. Das Buch wurde ein internationaler Bestseller. Seit seiner Veröffentlichung auf englisch im Jahr 1980 wurde die Geschichte von Menocchio der Reihe nach ins Deutsche, Französische, Spanische, Niederländische, Schwedische, Japanische, Portugiesische, Serbokroatische, Polnische, Ungarische, Griechische und Türkische übersetzt. Das Buch veränderte Ginzburgs Karriere von Grund auf – und es fügte der Lebensgeschichte des Müllers fast vier Jahrhunderte nach seinem Tod ein neues und unvorhergesehenes Kapitel hinzu.

Die Möglichkeiten der Subjektivität

CG: Manche behaupten, daß es eine Verbindung zwischen meinem jüdischen Hintergrund beziehungsweise meiner Identität und meinem historischen Interesse an Gestalten wie Menocchio gibt. Wahrscheinlich haben sie recht. Aber ich halte das nicht für ein Problem. Wir versuchen immer wieder, die unterschiedlichen subjektiven Motive hinter dem Werk von Historikern zu “entlarven”. Ist das nicht eher sinnlos? Es ist doch offensichtlich, daß unsere Interessen als Forscher durch unsere eigenen Erfahrungen geleitet werden. Und es gibt keinen Grund, weshalb solche subjektiven Einstreuungen der Arbeit des Historikers Beschränkungen auferlegen sollten, statt Möglichkeiten zu eröffnen. In meinem eigenen Fall war es entscheidend, daß ich mir dieser Verbindung nicht bewußt war. Deshalb konnte ich mich auf das Material konzentrieren, ohne vom Bewußtsein meiner autobiographischen Verbindung zu ihm abgelenkt zu werden.

TRG: Was denken Sie heute, wenn Sie auf Der Käse und die Würmer zurückblicken?

CG: Es ist verblüffend, wieviel Zeit und Energie ich allein in die Rechtfertigung dieses Projekts stecken mußte: ein ganzes Buch einer vollkommen unbekannten Person zu widmen, der man keine herkömmliche historische Bedeutung zuschreiben kann. Heute würde das Projekt wahrscheinlich eher akzeptiert. Ich betrachte Der Käse und die Würmer in erster Linie als einen Versuch, die Relevanz des Begriffs des Individuellen in der Geschichte auszudehnen – die Darstellung des Individuellen aus der “kulturellen Elite” auf das zu übertragen, was wir gemeinhin “die Masse” nennen.

TRG: Wie sehen Sie dieses Projekt heute – den Versuch, die von der Geschichte vergessenen Einzelpersonen wiederzuerwecken?

CG: Wir dürfen hier nicht zu naiv sein. Die Details von Menocchios Leben sind uns nur aus der Feder seiner Ankläger bekannt. Die Gerichtsakten sind alles, was wir haben. Damit kein falscher Eindruck entsteht: sie sind bemerkenswert detailliert, und das liegt nur daran, daß die Richter so erstaunt über das waren, was Menocchio ihnen zu berichten hatte. Seltsamerweise kam es erst dann zu einem echten Dialog in den Dokumenten der Inquisition, als die gegenseitige Verständigung scheiterte. Menocchios Antworten verwirrten die Richter. Vielleicht fanden sie sie auch faszinierend – das läßt sich oft nicht so einfach sagen. Auf jeden Fall begannen sie damit, echte Fragen zu stellen, also Fragen, zu denen es keine vorgefaßten Antworten mehr gab. Deshalb erhalten wir einen Einblick in eine Realität, zu der wir unter anderen Umständen keinen Zugang mehr haben würden. Für mich als Historiker ist das eine eigentümliche Situation – ich mußte verstehen, daß die Fragen der Inquisitoren meine eigenen Fragen sind, daß wir auf gleiche Weise von unserem Gegenüber überrascht waren.

Wahrscheinlich hatte Der Käse und die Würmer einen gewissen Einfluß auf die Sozialgeschichtsschreibung der Gegenwart. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Segen ist. Die Sozialgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte liest sich gelegentlich wie ein Defilee der stolzen Verlierer der Geschichte. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Einerseits sind die Aspekte der Geschichte, für die Menschen wie Menocchio stehen, offensichtlich wichtig. Aber wir brauchen wirklich keine historische Gegenkultur mit einer Ahnengalerie geschlagener Helden. Damit würden wir Geschichte in Ideologie verwandeln, und das ist nie gut. Insgesamt könnte man sagen, daß ich ein zwiespältiges Verhältnis zu Der Käse und die Würmer habe – natürlich stimmt, daß es mein bei weitem erfolgreichstes Buch ist; ich bin aber nicht sicher, ob es mein bestes ist.

TRG: Aber Ihr Buch verleiht Menocchio eine eigene Stimme. Ist das nicht an sich wichtig? Es ist doch eine unglaubliche Tatsache, daß er, der so lange um Gehör ringen mußte, zu guter Letzt Zuhörer und eine gewisse Anerkennung gefunden hat.

CG: Ich stimme Ihnen zu, wenn es um unsere Verpflichtung den Toten gegenüber geht. Wir haben die Pflicht, die Wahrheit über sie zu sagen. Und es trifft wohl zu, daß Menocchio durch mein Buch zu spätem Ruhm gekommen ist. Er wurde zum Lokalhelden seines Geburtsorts Montereale (man hat dort ein Menocchio-Zentrum errichtet). Und viele Leser aus vielen Ländern haben sich aus unterschiedlichen, oft unvorhersehbaren Gründen mit Menocchio identifiziert. Aber ich weiß nicht, ob das bedeuten kann, daß Menocchio heute endlich “gehört” wird. Die Bewertung eines solchen Vorgangs ist schwierig, und ich sehe mich in diesem Zusammenhang oft nur als Randfigur. Das Buch wurde veröffentlicht, es war ein großer Erfolg, und dann machten die Leser es sich zu eigen und benutzten es für ihre eigenen Zwecke. Obwohl es eigenartig anmuten mag, war ich darauf ganz und gar nicht vorbereitet. Das Verrückte daran ist ja, daß das Buch genau denselben Vorgang untersucht, nämlich wie sich Menocchio die Schriften anderer aneignet, die Macht des Lesers über den Text.

Carlo Ginzburgs erstes Buch, I benandanti3, wurde 1966 veröffentlicht. Mit ihm führt er das Thema ein, das ihn während des größten Teils seiner Karriere beschäftigen wird: die Verbindung zwischen den Hexenprozessen und dem Volksglauben. Wieder spielt sich die Geschichte im Friaul ab, und auch dieses Mal war das Erstaunen der Inquisitoren der Ausgangspunkt von Ginzburgs Forschungen. Als 1575 zwei Männer wegen Verdachts auf Hexerei verhört wurden, bekamen die Richter Geschichten von Zauberei, wilden nächtlichen Ritten und geheimen Ritualen zu hören, die sich dem ersten Anschein nach nahtlos in ihre Vorstellung von einem schreckenerregenden Hexensabbat fügten. Ein Element paßte jedoch nicht ganz: die Angeklagten stritten entschieden ab, Hexer zu sein. Ganz im Gegenteil bezeichneten sie sich als benandanti – Wohltäter -, gute Christen, die nächtens für den Herrn gegen die gefürchteten Hexen kämpften, die es auf die Ernte ihres Dorfes abgesehen hatten. In seinem Buch untersucht Ginzburg eine Serie von Prozessen gegen benandanti im Friaul des 16. und 17. Jahrhunderts. Seine Theorie lautet, daß die eigenartigen Zeugnisse der “guten” Hexer uns durch einen schmalen Spalt in einen volkstümlichen Fruchtbarkeitsglauben blicken lassen, der älter als das Christentum ist, aber auch noch gleichzeitig mit ihm existierte – ein Kult, der schließlich in pervertierter Form als der Glaube der Kirche an einen Hexensabbat wiederauflebt. Diese Theorie widersprach nicht nur den anerkannten Begriffen von Hexerei, sondern vertrug sich auch nicht mit allgemeinen Vorstellungen zur Volksreligion im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Diese Theorie beschäftigte Carlo Ginzburg fast 30 Jahre lang, und diese Auseinandersetzung mündete in die 1989 veröffentlichte Studie Hexensabbat: Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Ginzburg selbst versteht dieses Buch als sein Hauptwerk.

CG: Alles fing mit einem Zufall an – wie die meisten anderen Entdeckungen, die ich in meiner Karriere als Historiker machen konnte. Ich bin fest davon überzeugt, daß man sich an entscheidenden Punkten seiner Forschungen die Freiheit zur Dummheit lassen muß – einfach in einem Zustand von Unverständnis zu schweben. Dadurch bleibt man für die Zufälle offen, aus denen dann unerwartete Entdeckungen werden. Ich hatte mein erstes Buch eigentlich schon zu Ende geschrieben, als ich über einen Hinweis auf einen Mann in Livland (dem heutigen Estland und Lettland) stolperte, der 1692 als Werwolf angeklagt wurde. Er hatte den Richtern erzählt, daß er sich manchmal nachts in einen Werwolf verwandeln würde, um auf der Seite Gottes gegen die Hexen und Teufel zu kämpfen, die den Menschen das Getreide stehlen. Überraschenderweise stimmten seine Aussagen oft bis ins Detail mit denen der benandanti überein. Waren diese Ähnlichkeiten nur zufällig? Oder gab es die Möglichkeit, daß solche Fälle auf einem gemeinsamen Volksglauben beruhten, der früher einmal weiter verbreitet war? Ich konnte Teile von I benandanti in letzter Minute noch umschreiben, aber mir war bewußt, daß ich eigentlich noch einmal von vorn hätte anfangen sollen.

Verzerrte Quellen

TRG: In Hexensabbat untersuchen Sie Rituale und Ideen aus Fruchtbarkeitsreligionen, die aus historisch und geographisch sehr weit auseinanderliegenden Zusammenhängen stammen – sie alle ähneln in gewisser Weise Ihren Beispielen der benandanti und des Werwolfs aus dem Baltikum. Sie vollziehen die Verbindungen zwischen ihnen nach und beschreiben dann eine Reihe von Legenden, Gebräuchen und Glaubensvorstellungen, deren Wurzeln tief in die Frühgeschichte der Menschheit reichen und weite Teile des Globus umspannen. Haben Sie nicht Angst, daß Sie sich zuviel vornehmen?

CG: Beim Schreiben von Hexensabbat traf ich auf große methodologische Probleme. Man darf nicht vergessen, daß die fraglichen Glaubensvorstellungen zur – ich möchte sagen – dunklen Seite der Geschichte gehören. Wir wissen sehr wenig über sie. Es gibt nur wenige Quellen. Und wenn etwas in schriftlichen Quellen auftaucht, was selten ist, ist es unvermeidlich vermittelt und durch den Blick einer anderen Person gefiltert – eines Sammlers von Volksmärchen, eines Anthropologen oder eines Inquisitionsrichters zum Beispiel. Auf das Originalmaterial hat man nur ganz schwer Zugang. Außerdem sind diese Vorstellungen von Natur aus komplexe und undurchsichtige Erscheinungen, für die es keine einfache und unzweideutige historische Erklärung geben kann. Aber das heißt nicht, daß diese Vorstellungen nie existierten oder zu vernachlässigen wären. Wir stehen hier vor einem Aspekt der historischen Wirklichkeit, der sich fundamental von den Gegenständen unterscheidet, mit denen sich Historiker gewöhnlich beschäftigen. Aber es versteht sich von selbst, daß er dadurch nicht unwichtig wird.

TRG: Ihnen und Ihrem Buch wurde ein Hang zur übertriebenen Spekulation vorgeworfen. Wie würden Sie selbst Ihre Methode von Hexensabbat beschreiben?

CG: Als Historiker müssen wir unsere Methoden unserem Untersuchungsgegenstand anpassen. Selbst einige wenige Fährten können eine große historische Wirklichkeit erschließen, wenn wir sie nur richtig zusammensetzen. In diesem Fall, wo Quellenmaterial sowohl rar als auch weit verstreut war, war das entscheidende Werkzeug der Vergleich. Nehmen Sie die benandanti und die livländischen Werwölfe. Erst einmal gab es keine historische Verbindung im eigentlichen Sinn zwischen diesen beiden Fällen. Als ich sie aber verglich, war ich erstaunt über die vielen Gemeinsamkeiten. Vergleiche zeigen uns Übereinstimmungen, wo wir sonst nach Unterschieden Ausschau halten würden, und das war für dieses Projekt entscheidend.

Ein Kapitel in dem Buch widmet sich zum Beispiel dem Hinken. Die Werwölfe in Livonien wurden von einem humpelnden Kind geführt. Nach einiger Zeit stellte ich mit Verblüffung fest, in wie vielen Legenden das Hinken eine Rolle spielt. Wenn man einen herkömmlichen historischen Ansatzpunkt wählt, kommt man gar nicht erst auf die Frage, ob hier eine historische Verbindung besteht, wie ich das in meinem Buch zu zeigen versuche – zwischen der Ferse von Achilles, Aschenputtels verlorenem Schuh und dem chinesischen Yu-Tanz, wo man einen unbeschwert hüpfenden Gang durch Nachziehen der Füße erzielt. Sobald man sich jedoch dieser Ähnlichkeiten bewußt wird, die schwer abzustreiten sind, wenn man einmal auf sie aufmerksam wurde, hat man ein echtes historisches Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muß. Deshalb ist der Vergleich eine so einzigartige Ressource für Historiker: er hilft uns, Fragen zu stellen. In meinem eigenen Fall entwickelte sich das Netz mythologischer und ritueller Ähnlichkeiten, das ich beim Schreiben von Hexensabbat entdeckte, zu einer einzigen großen historischen Frage, eine von der allergrößten mir vorstellbaren Tragweite und eine, die ich unbedingt beantworten mußte, obwohl ich dazu auf Methoden und Ansätze zurückgreifen mußte, die zum Gesichtsverlust vor “seriösen” Historikern hätte führen können.

Ein Experiment mit dem Umfang

TRG: Besteht hier nicht ein Widerspruch – sozusagen zwischen Vergleich und Chronologie? Hexensabbat beginnt mit einer Darstellung der Ereignisse vom Frühjahr 1321. Sie arbeiten sich von einer einführenden Beschreibung, die sich auf einige wenige Monate in einem bestimmten Jahr beschränkt, zu einem Punkt vor, wo Sie zum Schluß etwas Grundlegendes über das gesamte Erdendasein der Menschheit sagen wollen. Wie versöhnen Sie diese beiden Begriffe miteinander?

CG: Für mich ist Hexensabbat ein Experiment mit dem Umfang. Mich begeisterte die Vorstellung, in einem Buch das Kleinste mit dem Größten zu verbinden – gleichzeitig Mikro- und Makrohistorie zu betreiben, wenn Sie so wollen. Außerdem ist der Aufbau des Buches auch polemisch gemeint: es kann als Kritik an der Geschichtsschreibung “in der Mitte” verstanden werden, also der Geschichtsschreibung, die sich unkritisch zu den sich uns in bestimmten Zusammenhängen als “natürlich ” nahelegenden Erklärungsebenen verhält – eine Nation, eine Epoche, ein Zeitabschnitt und so weiter. Ich wollte zeigen, wenn es mir denn möglich wäre, daß der Umfang einer Studie nie im voraus festgelegt werden kann. Der von uns angelegte Maßstab bestimmt immer, auf welche Fragen wir jeweils stoßen, sowohl auf der Mikro- als auch der Makroebene.

Die zwei Ebenen, die Sie erwähnt haben, müssen also immer zusammen gesehen werden. Am Anfang konzentriere ich mich auf die Herkunft des Glaubens an einen Hexensabbat in einer bestimmten Region und einem begrenzten Zeitraum und damit auf konkrete, datierbare historische Ereignisse. Aber wo kommen solche Dinge her? Wie können wir erklären, daß Vorstellungen von nächtlichen Ritten, wilden esoterischen Ritualen, kultischen Versammlungen und ähnlichem sich mit konkreten Vorstellungen von einer Verschwörung verbinden, für die wir einleuchtende Erklärungen finden können? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns auf eine andere Ebene begeben. Jedes Ereignis, auch das scheinbar unbedeutendste, kann nur im Rahmen einer größeren historischen Wirklichkeit verstanden werden.

TRG: Also könnte im Prinzip jedes Ereignis zum Gegenstand von ähnlich weitreichenden Deutungen werden, wie Sie sie für den Hexensabbat vorgelegt haben?

CG: Ja, im Prinzip wäre das möglich.

TRG: Wäre es dann aber nicht einfacher, zu behaupten, daß alles mit allem in Verbindung steht, und dieses Thema zugunsten neuer Aufgaben auf sich beruhen zu lassen?

CG: Stimmt es denn nicht, daß alles mit allem in Verbindung steht? Ich für meinen Teil bin davon überzeugt. Das ist nicht so lächerlich, wie Sie es gerade dargestellt haben. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß diese Idee nicht als Antwort formuliert werden darf. Als Antwort ist sie völlig trivial, eine komplette Sackgasse. Wenn wir sie jedoch in eine Frage verwandeln, haben wir einen Ausgangspunkt für unsere Arbeit.

Wenngleich Carlo Ginzburgs Kindheit und Erziehung von den radikalen politischen Aktivitäten seiner Eltern geprägt war, war er selbst nie politisch aktiv. Dennoch fanden in dem Jahrzehnt nach der Veröffentlichung von Hexensabbat im weiteren Sinne politische Themen ihren Weg in seine Arbeiten. Am deutlichsten ist das in seinem Buch Il giudice e lo storico (1991, dt. Der Richter und der Historiker)4 über das Verfahren gegen Ginzburgs langjährigen guten Freund, den italienischen Schriftsteller und Aktivisten Adriano Sofri, der 1988 zu 22 Jahren Haft für den Mord an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi verurteilt wurde. Ginzburg präsentiert in seinem Buch einen detaillierten Bericht über den Fall Sofri und stellt grundlegende Fragen nicht nur zu den Zeugenaussagen, auf denen das Urteil beruhte, sondern zum allgemeinen Zustand der Rechtsprechung in Italien.

Aber das Buch ist auch ein Beitrag zu der vor einiger Zeit wiederaufgelebten Debatte über das Wesen historischer Studien, denn es reflektiert die jeweiligen Rollen des Historikers und des Richters und deren Verhältnis zu Wahrheit und Geschichte. Ginzburgs Erforschung des Narrativen und seine Kritik an der herkömmlichen Geschichtsschreibung führten oft dazu, daß er dem postmodernen Flügel in der Historikerdebatte zugerechnet wurde, wogegen er sich strikt verwahrt. In einer Reihe von Aufsätzen trat er als ein energischer Befürworter des Begriffs von historischer Wahrheit und als ein überraschend scharfer Kritiker der postmodernen Geschichtstheorie auf.

CG: Ich glaube, ich werde oft mit meinen “Feinden” über einen Kammgeschoren. Das beweist nur, wie oberflächlich die ganzeDiskussion um die Postmoderne in der Geschichte war. Natürlich ist die Geschichtsschreibung Konstruktion: wir fügen einzelne uns überlieferte Gegenstände zusammen und schaffen so ein überzeugendes Bild der Vergangenheit. Aber dieses Bild ist auch eine Rekonstruktion. Diese innere Spannung – die regellose und oft unvorhersehbare Wechselwirkung zwischen diesen beiden Prinzipien – verleiht der Erforschung der Geschichte ihren eigentümlichen Charakter. Doch war es für beide Seiten der Debatte wohl zu schwierig, sich diese beiden Aspekte gleichzeitig zu vergegenwärtigen.

Wir hätten uns prinzipiell nicht auf eine Diskussion über Wahrheit in der Geschichte einlassen sollen. Statt dessen hätten wir von Beweisen sprechen sollen. Auf welcher Grundlage argumentiert man denn als Historiker? Was bedeutet die Aussage, etwas sei historisch erwiesen? Wann können wir sagen, daß eine Behauptung historisch widerlegt ist? Es ist schon bemerkenswert, wie postmoderne Historiker den naiven Glauben des Positivismus an eine unwiderlegbare und objektive historische Quelle, die ein für allemal für die letzte Wahrheit stehen kann, anscheinend unkritisch übernommen haben. Dieses Konzept hat seinen Zenit sicherlich überschritten, doch steht es immer noch im Mittelpunkt der Debatte. Manche scheinen zu denken, daß das ganze historische Wissen unmöglich wird, wenn gezeigt werden kann, daß es keine vollständig objektiven Quellen gibt. Das ist offensichtlich Unsinn. Was wir wirklich brauchen, ist ein feiner gearbeiteter Begriff von historischem Beweis – einen Beweisbegriff, der beispielsweise all die besonderen Probleme berücksichtigt, denen wir uns beim Erforschen von Gegenständen außerhalb des traditionellen Feldes der Geschichtswissenschaft stellen müssen. Der positivistische Beweisbegriff entstammt der Politik-, Militär- und Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts – die Sozial- und Kulturgeschichte von heute hängt offensichtlich von einer anderen Quellenkunde und anderen Beweistypen ab.

Unzählige mögliche Erklärungen

TRG: Aber hat nicht die postmoderne Kritik uns zur Einsicht verholfen, daß viele der Dinge, auf die wir uns in der Geschichte verlassen haben, ungewiß sind – daß viele der von uns so geschätzten historischen “Wahrheiten” tatsächlich Konstrukte sind?

CG: Ich unterstütze die antiautoritäre Haltung der postmodernen Position voll und ganz. Ich kann sogar ihre Skepsis in bestimmten Grenzen teilen. Zum Beispiel haben wir uns inzwischen mit der Aussage angefreundet, daß man jedes beliebige historische Phänomen immer wieder neu interpretieren kann, da nach Karl Popper alle wissenschaftlichen Aussagen widerlegt werden können und somit provisorisch sind. Und nach Marc Bloch gehören alle Aussagen über die Geschichte in das Reich der Wahrscheinlichkeit, auch dann, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Widerlegung gleich Null ist. Natürlich waren weder Karl Popper noch Marc Bloch Vertreter der Postmoderne. Sich bei der Behauptung, daß alle historischen Erklärungen gleichwertig sind, auf ihre Autorität zu berufen, wäre absurd. Der Rückzug auf den Relativismus ist eine viel zu einfach gestrickte Reaktion auf die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen – sowohl in der historischen Forschung als auch allgemein im Gesellschaftlichen. Die relativistische Position ist meiner Ansicht nach grundlegend verkehrt – sie ist sowohl intellektuell, politisch als auch moralisch falsch. Ich bin wirklich erstaunt über dieses merkwürdige Phänomen in der modernen Geistesgeschichte, daß Wörter wie “Wahrheit” und “Realität” eine gewissermaßen reaktionäre Tönung angenommen haben, während Wörter wie “Traum” und “Wunsch” als radikal gelten. Folglich wurde die kulturkonservative Position zur radikalen, sobald die grundlegenden Kategorien der kritischen Tradition über Bord geworfen wurden. Für die Linke war das ein tödlicher Fehler. Sich dem Wunsch zu verschreiben und gegen die Wirklichkeit (auch ihrer unangenehmen Seite) anzugehen, scheint mir verträumt und unsinnig. In dieser Sache verspüre ich eine große Distanz zwischen der Kultur von ¹68 sowie ihrer Nachwehen und mir selbst.

Genauso finde ich den größten Teil der Debatte um die Postmoderne in der historischen Forschung irreführend. Sie war eine Scheindebatte und hat dazu beigetragen, daß die wirklichen epistemologischen und politischen Schwierigkeiten der Geschichtswissenschaft heute verdeckt worden sind.

TRG: Könnte man sagen, daß eine dieser Schwierigkeiten der Geschichtswissenschaft ihr Verhältnis zur Literatur ist? Sie sprechen oft von Ihrem Interesse an der modernen Literatur. Aber die Kritik der modernen Literatur an traditionellen Darstellungen von Wirklichkeit wird häufig als ein Grund für die Unmöglichkeit herkömmlicher historischer Projekte angeführt.

CG: Für mich ist das ein weiterer künstlicher Widerspruch. Sich Geschichte und Literatur als zwei völlig unterschiedliche Bereiche vorzustellen ist sowohl falsch als auch unhistorisch. Sie überlappen mehr oder weniger und standen schon immer im Dialog miteinander. Daß Geschichtsschreibung manchmal romanhafte Züge annimmt und daß sie sich zudem oft auf literarischeModelle verläßt, sollte uns nicht weiter überraschen. Viel interessanter wäre es – sowohl mit Blick auf die Literatur als auch auf die Geschichte -, wenn man mit der von beiden Disziplinen geteilten Verpflichtung zur Wahrheit anfinge und sich damit beschäftigte, wie man dieser Verpflichtung zu verschiedenen Zeiten nachkam. Für mich ist die moderne Literatur zuallererst ein Versuch, neue Formen der Wahrhaftigkeit zu entdecken, nicht zuletzt auf der formalen Ebene. In dieser Beziehung ist sie für mich als Historiker äußerst wichtig.

Jedes literarische Mittel – ob in einem erzählenden oder historischen Text – macht die Realität in seiner eigenen Weise sichtbar, vermittelt seine Perspektive auf die Wirklichkeit. Man könnte sagen, daß bestimmte sprachliche Formen auf bestimmte Formen der Wahrheit bezogen sind. Hierbei gibt es gewisse formale Beschränkungen – jede literarische Form zwingt uns zur Entdeckung des einen Gegenstands und zum Übersehen des anderen. Die herkömmliche Art der Schilderung hat beispielsweise durch ihren sequentiellen Charakter ganz eigene Grenzen: etwas kommt zuerst, etwas anderes später. Als ich Der Käse und die Würmer schrieb, träumte ich davon, das ganze Buch auf eine einzige riesige Seite schreiben zu können, um dieser Zwangsjacke zu entkommen. Diese Idee war natürlich lächerlich. Doch die literarische Form, die der Historiker anwendet, wird immer eines der beiden Filter sein, die das historische Werk von der dargestellten Wirklichkeit trennen. Das andere Filter sind die Quellen selbst. Diese beiden Filter bringen nun eine unendliche Zahl an möglicherweise verzerrenden Faktoren ins Spiel. Deshalb ist die Vorstellung einer einfachen historischen Erzählung genauso abwegig wie die Vorstellung von einer unwiderlegbaren historischen Wahrheit.

Unser Wissen ist bruchstückhaft

TRG: Schon in Ihrer ersten wissenschaftlichen Abhandlung hatten Sie einen unverkennbaren Schreib- und Kompositionsstil. Ihre Texte sind als Reihen von selbständigen Abschnitten oder kurzen Kapiteln strukturiert, die Ihrer Art zu schreiben einen aufgelockerten, essayhaften Charakter verleiht, sogar in einem so umfangreichen Werk wie Hexensabbat. Weshalb haben Sie diesen Stil angenommen?

CG: Ich stieß auf diese Art des schriftlichen Darstellens, als ich als junger Mann einen Aufsatz von Luigi Einaudi, eines anerkannten Wirtschaftswissenschaftlers undWirtschaftshistorikers, las. Er ist der Vater von Giulio Einaudi, dem bekannten Verleger. Der Aufsatz war als eine Reihe durchnumerierter Absätze konzipiert – eine Technik, die meiner eigenen Begeisterung für Film und Montage entgegenkam. Die Montage entspricht für mich dem konstruktiven Element in der historischen Forschung: sie verdeutlicht, daß unser Wissen bruchstückhaft ist und einem offenen Prozeß entspringt. Ich wollte immer, daß die Unsicherheiten des Forschungsprozesses auch von meiner Art zu schreiben widergespiegelt werden – ich versuche gewissermaßen mein eigenes Zögern zum Ausdruck zu bringen und dem Leser ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Die Geschichtsschreibung sollte demokratisch sein, womit ich sagen möchte, daß man unsere Aussagen von außen überprüfen können soll und daß der Leser nicht nur an den Schlußfolgerungen, sondern auch an dem Vorgang, der zu ihnen führt, teilnehmen kann.

TRG: In den Jahren, die seit der Veröffentlichung von Hexensabbat verstrichen sind, haben Sie sich weitgehend auf das Verfassen von Aufsätzen oder Aufsatzsammlungen beschränkt. Die Ausnahme hiervon ist Ihr Buch über Adriano Sofri. Glauben Sie nicht auch, daß sich dieses Buch deutlich von Ihrem übrigen Werk abhebt?

CG: Ja, Sie haben recht, das tut es. Über dieses Buch zu sprechen macht mir große Schwierigkeiten. Es war mein erstes Buch über ein aktuelles Ereignis. Außerdem war es für einen eindeutigen Zweck geschrieben worden: Mein Ziel war die Freilassung von Adriano Sofri und der anderen beiden Männer, die mit ihm zusammen der Ermordung von Calabresi angeklagt waren. Das Buch sollte eine Intervention sein. Natürlich hat das stilistische Spuren hinterlassen. Aber meine Intervention war nicht erfolgreich, und das beschäftigt mich. Soweit ich das beurteilen kann, hatte das Buch keine Wirkung. Selbstverständlich lenkte es Aufmerksamkeit auf den Fall, aber es erreichte nichts. Adriano Sofri ist noch immer im Gefängnis, und in diesem Sinn ist es das wirkungsloseste Buch, das ich je geschrieben habe, obwohl es offenkundig mein pragmatischstes und politischstes Buch war.

TRG: Heißt das, daß Sie das Buch für einen Mißerfolg halten? Würden Sie es heute anders schreiben?

CG: Nein, ich bin mir sicher, daß ich genau dasselbe Buch geschrieben hätte. In der Sache ändert das allerdings nichts.

TRG: Sie sagen, daß Ihre Bücher nicht im herkömmlichen Sinn politisch sind. Trotzdem klingt an manchen Stellen Ihres Werkes ein Projekt der Befreiung an, obwohl es vielleicht eher utopisch als politisch ist. Im Vorwort von Der Käse und die Würmer zitieren Sie den Satz des deutschen Philosophen Walter Benjamin, “daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu”5. Wenn man die Dinge in diesem Licht ansieht, hat der Historiker eine nahezu religiös klingende Aufgabe – das Vergessene wieder in Erinnerung zu rufen und so die Menschheit zu versöhnen. Ist das nicht so?

CG: Dieses Vorwort habe ich vor langer Zeit geschrieben… Lassen Sie mich nur soviel sagen: heute würde ich das Zitat nicht mehr verwenden. Walter Benjamin schrieb diese Sätze als Jude und Radikaler im Zweiten Weltkrieg, unter Umständen, in denen er immer noch Hoffnung haben mußte, obwohl es nichts mehr zu hoffen gab. Dadurch wird ihre Wirkung noch eindrücklicher. Das Zitat bezieht sich auf eine Vorstellung, die tief in unserer Tradition verwurzelt ist – die Vorstellung, daß alles am Ende aufgeht. Wie einer der Kirchenväter schreibt, wird am Jüngsten Tag sogar der Teufel erlöst. Ein schöner Gedanke, aber ich habe Schwierigkeiten, an ihn zu glauben. Alles – das Leben, die Geschichte, die Natur – erscheint heute zu verletzlich. Es ist ganz allgemein schwierig, eine tiefere Bedeutung in der Geschichte zu erkennen. Ich habe nie daran gezweifelt, daß die Tätigkeit des Historikers sinnvoll ist, aber ich zweifle daran, daß die Geschichte selbst einen Sinn hat.

Geschichte, Urteil und Gerechtigkeit

TRG: Sie haben jedoch an einer Stelle geschrieben, daß uns ein ganz wichtiges Bindeglied zur Vergangenheit mit der Preisgabe der Vorstellung verlorenging, daß am Ende ein Urteil über die Geschichte gefällt wird und daß Gute und Böse ihren gerechten Lohn empfangen werden. Was meinen Sie damit?

CG: Unsere Gleichsetzung des Begriffs der Geschichte mit der Idee von Andenken oder Gedächtnis ist ein wenig problematisch. Wir reden gelegentlich von der Geschichte als dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit – aber das kollektive Gedächnis richtet sich in den meisten Fällen nach den Regeln des Vergessens. Bei der Entstehung des modernen Nationalismus oder der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zeigte sich das kollektive Gedächtnis dort am wirkungsvollsten, wo es Dinge wegließ. Die Geschichte wurde dadurch in eine Abfolge von symbolischen und abstrakten Größen verwandelt, die alle auf den Fluchtpunkt unserer ruhmreichen Vergangenheit zuliefen: Revolution, Krieg, Klassenkampf, Germania, Marianne, der Unbekannte Soldat und so weiter. Auch das persönliche Gedächtnis ist von Natur aus selektiv: wir erinnern uns nur an das, was wir nicht vergessen haben. Gedächtnis ist gewissermaßen mit Vergessen verwoben. Deshalb wies der jüdische Historiker Yosef Yerushalmi darauf hin, daß das Gegenteil von “Vergessen” nicht wirklich “Gedächtnis”, sondern “Gerechtigkeit” ist. Die Wurzel der alten Vorstellung von Urteil war der Begriff historischer Gerechtigkeit, und ich kann mich nur schwer dem Gedanken entziehen, daß es sich hierbei um ein befriedigenderes Modell für echtes Geschichtsbewußtsein handelt als die Modelle, mit denen wir heute hantieren.

Aber die Vorstellung von Urteil darf nicht mit der von Vergeltung verwechselt werden. Das ist ganz entscheidend. Mein Vater wurde 1944 im Gefängnis zu Tode gefoltert, und niemand aus der Familie sah ihn während seiner letzten Monate. Viele Jahre nach seinem Tod las ich die Lebenserinnerungen von Sandro Pertini, der wie mein Vater während des Krieges ein aktiver Sozialist war und später Staatspräsident Italiens wurde. Ich entdeckte, daß er im gleichen Gefängnis wie mein Vater eingekerkert war und ihm kurz vor seinem Tod dort begegnete. Mein Vater sagte zu Pertini: “Was immer auch passiert, wir dürfen die Deutschen auf keinen Fall hassen”. Geschichte darf nie zur Quelle von Schuld werden, die von der nächsten Generation abgetragen werden muß.

Dennoch folgt aus dem Begriff von historischer Gerechtigkeit eine ganz bestimmte Geschichtswahrnehmung, eine ganz bestimmte Weise der Anerkennung der Vergangenheit. Ich glaube, es ist diese abschließende Anerkennung, die den Urteilsbegriff ausmacht. Das kann man nur schwer in Worte fassen. Als ich aber für einige Zeit in Deutschland lebte, verblüffte mich, daß ich einen großen Unterschied zwischen denen feststellen konnte, die diese Art von historischem Bewußtsein hatten, und denen, die sie nicht hatten. Auf dieser Ebene könnte man sagen, daß ich als Historiker an einem politischen oder ethischen Projekt teilnehme.Wir können die Geschichte nicht ändern.Aber wir können unseren Teil dazu tun, unsere Verbindung mit ihr aufrechtzuerhalten.

Carlo Ginzburg, Hexensabbat: Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1990.

Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer, Frankfurt am Main 1983.

Carlo Ginzburg, Die Benandanti, Frankfurt am Main 1980.

Carlo Ginzburg, Der Richter und der Historiker, Berlin 1991.

Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, ("Über den Begriff der Geschichte"), Frankfurt am Main 1991, S. 694.

Published 31 October 2005
Original in Norwegian
Translated by Christian Skirke
First published by Samtiden 2/2003 (Norwegian version), Revista Histórica 7/2003 (Portuguese version), and Mittelweg 36 5/2005 (German version)

Contributed by Mittelweg 36 © Carlo Ginzburg/Mittelweg 36 Eurozine

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