Von Gibraltar bis Accra, über Marokko, Mauretanien, Mali, Senegal,
Burkina Faso, Togo und Ghana, durch Wüsten und Sumpfgebiete,
Vogelparadiese und Savannen. Die mehr als 10.000 Kilometer lange
Strecke in einem betagten “Pijo” (Peugeot) quer durch Westafrika zu
fahren, ist keinesfalls eine Heldentat und nicht einmal ein
gefährliches Abenteuer. Aber es ist eine sehr ungewöhnliche,
wunderbare Erfahrung – mit sonderbaren Ritualen bei jedem
Grenzübertritt, mit beglückenden Begegnungen und mit einer
Entdeckung: Das Lebensgefühl afrikanischer Menschen, die man im
chaotischen Verlauf einer unberechenbaren Reise trifft, kann den
Luxus gewohnten, aber ängstlichen und verdrossenen Europäer auf
ganz neue Gedanken bringen.
Journalist, ehemaliger Redakteur von Le Monde diplomatique,
Gründungsmitglied des Observatoire de la Mondialisation (Paris).
Wer gut geschützt in seinem bequemen Wagen über das endlose
Teerband durch Frankreich und Spanien in Richtung Algeciras rollt,
behält ein bestimmtes Bild von Europa in Erinnerung: die immer
gleichen Abfolgen von Autobahnkreuzen, Mautstellen, Parkplätzen und
Raststätten, die, zum Verwechseln ähnlich und in aseptische Musik
getaucht, mit tausend nutzlosen Produkten werben. Eine virtuelle
Reise wie ein Videospiel.
Jenseits der Straße von Gibraltar macht die spanische Enklave Ceuta
– die “zweite Säule des Herkules”, wie die Geografen der Antike
sagten – den Eindruck eines altmodischen, verfallenen
Kolonialkontors, in dem lauter gehetzte Gangsterbosse vom Typ
Pépé le Moko1 ihr Unwesen treiben. Kleine Weiße, kleine
Rentner, kleine Geschäfte – eine Freihandelszone der Armen, aber
auch die Schleuse, die den Weg nach Süden öffnet, beginnend mit
einzeln erstandenen Zigaretten und Benzin in Flaschen. Am Rand der
Städte oder Dörfer grüßen Plastiktüten zu jeder Jahreszeit
wie abgestorbene Blätter, flattern und wirbeln durch die Luft,
lassen sich einen Augenblick auf Feldern oder Brachland nieder und
bleiben schließlich im Geäst der Bäume hängen, ehe ein
Windstoß sie losreißt und erneut zum Tanzen bringt.
Im Untergeschoss des hübschen, unauffälligen Konsulats von
Mauretanien in einem gehobenen Wohnviertel von Rabat hat ein
Visumsbevollmächtigter seinen Sitz. Jung, elegant, mit gewichtiger
Miene steht er den Amtsgeschäften vor. Das Büro ist morgens von 8
bis 10 für den Publikumsverkehr geöffnet. Unsere Uhr zeigt
Viertel vor zehn, die Wanduhr hinter dem Beamten ebenfalls. Aber er
hat die Macht, die Zeit für verstrichen und das Büro für
geschlossen zu erklären: Er bittet uns trocken, am nächsten Tag
wiederzukommen. Während ein schwarzer Diener ihm Tee serviert,
steht er auf, um ans Telefon zu gehen, durchaus höflich, aber ohne
jede Ehrerbietung.
Wir überlegen, was zu tun ist. Wir sind vor Morgengrauen von
Chefchaouen im Rifgebirge aufgebrochen und müde, etwas abgerissen
und nachlässig beim Konsulat vorstellig geworden. Um binnen weniger
Minuten zu bekommen, was der Beamte uns verweigert hatte, müssen
wir lediglich bereit sein, eine etwas förmlichere Haltung
einzunehmen und über ein anderes Thema zu plaudern. Der Beamte
erwartete kein in den Pass geschobenes Schmiergeld; er wollte uns
daran erinnern, dass der Repräsentant eines noch so armen
souveränen Staates die gleichen Willkürmethoden walten lassen
kann, wie sie die Länder der westlichen Welt nur allzu oft gegen
seine emigrierten Landsleute anwenden.
Das war uns eine Lehre bei den zahllosen Kontrollen, die zu jeder
Fahrt durch Afrika gehören: Gendarmerie, Zollstellen, Polizei vor
und hinter jeder Grenze, bei der Ankunft in und der Ausfahrt aus den
Städten, an großen Straßenkreuzungen, an Brückenköpfen, auf
den Treidelfähren, beim Durchqueren eines Nationalparks – wo auch
immer. Das Ritual ist jedes Mal gleich: abbremsen, anhalten, warten
und dann nur noch palavern, am laufenden Band, bis man vergessen hat,
um was es geht; haufenweise Papiere – Pass, Visum, Impfausweis,
Durchfahrtsgenehmigung, Versicherung, internationaler Führerschein,
auszufüllende Formulare in drei oder vier Exemplaren -, bevor man
den erlösenden Stempel bekommt.
Der persönliche Umgang kann unterschiedlich sein, aber meistens
verhalten sich die Beamten freundlich und neugierig. Häufig werden
kleine Geschenke erwartet, seltener ein Bakschisch, getarnt als mehr
oder weniger fantasievolle Gebühr oder Steuer. Organisierte
Erpressung bleibt die Ausnahme, doch wo sie existiert, sind die
Techniken gut eingeübt. In Rosso beispielsweise, der am
Senegalfluss gelegenen Grenzstadt Mauretaniens, hat man kaum eine
Chance, die notwendigen Stempel ohne Einschaltung eines Mittelsmannes
zu erhalten, der Zugang zu den zuständigen Instanzen hat und sich
zu einem hart ausgehandelten Preis erfolgreich um sämtliche
offiziellen Vorgänge bemüht.
Alle Macht geht vom Stempel aus
Der Preis steigt mit vorrückender Zeit, wenn die Schließung der
Büros und die Abfahrt der letzten Fähre naht, während der Ton
der Palaver lauter wird, die Betriebsamkeit zunimmt und die immer
dichtere Menge sich unter den gleichgültigen Blicken der Anwohner
in aufgeregtem Gezeter, Beschimpfungen, Lachen und Drängeln ergeht.
Trotzdem verläuft alles ohne Feindseligkeit und endet ohne Groll,
sofern man nur das Spiel der kleinen Arrangements und der
förmlichen Anerkennung staatlicher Autorität mitspielt – vor
allem dann, wenn diese schwach ist und ihre Vertreter, die mit einem
einzigen Stempel bewaffnet in notdürftigen Büros die Amtsgewalt
ausüben, oft seit Monaten nicht bezahlt worden sind.
Vor dem Storchenhaus in Tilmasma, einem kleinen Ort nahe Ouerzazate
in Marokko, versucht der “Dorfidiot” – ein zahnloser Alter mit leicht
beängstigendem Gesichtsausdruck und einer verdreckten Dschellaba –
die Aufmerksamkeit der sich abwendenden Passanten auf den Inhalt
eines Stoffbeutels zu lenken, den er in der Hand hält. Nur zwei
hübsche kleine Mädchen, die mit wippenden Ranzen auf dem Rücken
gerade aus der Schule kommen, bleiben furchtlos stehen, betrachten
neugierig den Inhalt des halb geöffneten Beutels und beginnen
tuschelnd und lachend eine lange Diskussion. Als sie weggehen, lassen
sie den Alten beglückt zurück, mit einem Lächeln auf den
Lippen. Endlich hat ihn jemand als seinesgleichen betrachtet, sich
für seinen Schatz interessiert.
Der Süden des Landes erwartet einen offiziellen Besuch des Königs
von Marokko, der sich durch eine Unmenge von Kontrollposten und
Straßensperren ankündigt. Im westsaharauischen Laayoune herrscht
brodelnde Erregung, eine bunte Menschenmenge tummelt sich auf den
flaggengeschmückten Straßen. Alles wartet auf Mohammed VI.
Unmöglich, die Stadt in den nächsten Stunden zu durchqueren. Wir
bekommen vage Hinweise auf die Möglichkeit, sie über eine Piste
zu umfahren, über die wir hinter dem Flughafen wieder auf die
Hauptstraße stoßen sollen. Unter der sengenden Sonne schlingern
wir durch eine mächtige Sandwolke, in gelblichen Staub gehüllt,
den der Wind stoßweise aufwirbelt – der Beginn einer dantesken
Irrfahrt, die zwei Stunden dauern wird. Zuerst bietet sich rechts und
links der Anblick heruntergekommener Behausungen, kaum fertig gebaut
und schon zu Ruinen zerfallen, verstreute Blöcke aus
schmutziggrauen Betonsteinen in verlassenem, unbebautem Gelände.
Dann folgt ein riesiges Areal, das einer einzigen Müllhalde
gleicht, bedeckt mit Schutt, Eisenschrott, Unrat und gelegentlich dem
stinkenden Aas eines Esels oder Kamels. Eine Zone, in der vereinzelte
Hütten aus Brettern und Wellblech stehen, zuweilen von einer
Fernsehantenne überragt: Hier leben Leute im wirklichen Elend, die
alles auflesen und sammeln, was sie nur finden können, umgeben von
Geiern, streunenden gelbäugigen Hunden und ausgemergelten Ziegen,
die den Müll abweiden – ein tierischer Abfallbeseitigungsdienst.
Dahinter nur noch Staub, in dem wir versinken, und ein endloser, sich
über Hunderte von Hektar erstreckenden Wald aus Plastiktüten, die
im trockenen Gesträuch hängen geblieben sind. Diese Vorhölle,
Nebenprodukt der Moderne, liegt in der gleichen Gegend wie der
Flugplatz, auf dem Jean Mermoz, Saint-Exupéry und die Piloten der
Luftpost, Pioniere der Globalisierung, in den Zwanziger- und
Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts gelandet sind, in jener
Region, die “Wind, Sand und Sterne” und dem “Kleinen Prinzen” als
Kulisse diente.
An der äußersten Spitze der marokkanischen Sahara, 300 Kilometer
südlich von Dakhla, gibt es einen 60 Kilometer breiten Streifen
vermintes Niemandsland, der Marokko von Mauretanien trennt und nur
unter Führung eines Militärfahrzeugs im Konvoi durchquert werden
darf. Trotzdem sind Unfälle nicht selten. Bei unserer Ankunft
stellt sich heraus, dass der Militärschutz seit einigen Wochen
nicht mehr gewährt wird und jeder sich auf eigene Gefahr ins
Abenteuer stürzen muss. Solcherart gewarnt, schließen wir uns mit
mehreren anderen zusammen und machen uns nachts auf den Weg, um das
Niemandsland in mehr als 7 Stunden zu durchqueren. Die verformte
Teerpiste ist praktisch unbefahrbar. Ohne sich allzu weit zu
entfernen, muss man sich rechts oder links von ihr am Rand halten –
und sinkt regelmäßig im Sand ein.
Da unsere Weggefährten unerfahren sind, überlassen sie uns die
Führung; unter ihnen ist ein deutscher Pastor mit seiner
hochschwangeren Frau und drei Kindern zwischen zwei und acht Jahren
in einem viel zu kleinen Auto. Der Pastor hat weder einen
Werkzeugkasten noch irgendwelche Hilfsmittel, kein Verbandszeug,
nichts – außer einer dicken Bibel vorne auf dem Armaturenbrett. Er
bleibt häufiger stecken als die anderen. Und jedes Mal entwischen
die Kinder durch die Heckklappe, rennen vergnügt durch den Sand,
während wir ein besorgtes Auge auf sie haben und versuchen, das
Auto wieder in Gang zu bringen: Luft ablassen, Räder freischaufeln,
Bleche auslegen, schieben, die Bleche aus dem Sand ziehen und die
Reifen wieder aufpumpen. Ein mühsames Geschäft. Aber für die
angespannten und bald erschöpften Erwachsenen sind die drei kleinen
Prinzen im Schlafanzug, die unter dem funkelnden Sternenzelt
unbekümmert ihr Kinderglück genießen, ein Lichtblick.
Die Wüste ist nicht wüst
Während einer Pause mitten in der Sahara, mehrere hundert Kilometer
von der nächsten Siedlung entfernt, zieht auf Sichtweite ein
bonbonrosafarben gestrichener Lieferwagen mit einem Kanu auf dem Dach
vorbei. An der Seite prangt ein Firmenzeichen: Au péché mignon –
Pâtissier, chocolatier, glacier – Blois. Uns kommen “die süßen
kleinen Sünden” wie eine Fata Morgana vor, aber sie sind echt.
Übrigens treffen wir den Lieferwagen auf einem Campingplatz in
Nouakchott wieder. Er gehört zwei lustigen Holländern, die nicht
hergekommen sind, um einen fernen Kunden zu beliefern, sondern ihr
gebraucht gekauftes Fahrzeug einfach gelassen haben, wie es war.
Für den Neuling hält die Wüste noch andere Überraschungen
bereit. Es ist eher kühl in diesem meeresnahen Teil der
mauretanischen Sahara, nicht nur nachts, sondern auch am Tage, sogar
in der Frühjahrszeit. Ein weiteres Paradox: Die Wüste ist nicht
wüst. Durch den Westen der marokkanischen Sahara zieht sich eine
1.500 Kilometer lange Teerstraße mit Tankstellen und Siedlungen,
von Tiznit bis Guerguarat, wo in einer felsigen oder mit Buschwerk
bewachsenen Landschaft nur die Kamele auf den vor kreuzenden
Viehherden warnenden Straßenschildern daran erinnern, dass das
französische Charolais weit weg ist.
In der mauretanischen Sandwüste gibt es keine gespurte Piste mehr,
dafür umso mehr verstreute Autowracks. Angeblich dauert es nur ein
paar Stunden, bis ein verlassenes Fahrzeug ausgeschlachtet ist. Es
existieren Pläne, diese Strecke bald zu asphaltieren, aber bis auf
weiteres hat man keine andere Wahl: Man muss schnell durchbrettern
und sich von einem ausgewiesenen und teuer bezahlten Führer, der
sich ohne Markierungen zurechtfindet, lotsen lassen: Eine Art
gebührenpflichtige Autobahn ohne Autobahn, hin und wieder von Wadis
unterbrochen, den berühmten Wasserläufen, die kein Wasser
führen.
Die 500 Kilometer Wüste zwischen Nouadibou und Nouakchott sind
zauberhaft. Wenn man die große Stadt des Nordens hinter sich
gelassen hat, umfährt man die Bucht von Lévriers, indem man sich
zunächst in östlicher Richtung von der Atlantikküste entfernt,
ehe es geradewegs nach Süden geht, zur Bucht von Arguin. Hier
beginnt ein märchenhaftes Schauspiel. Riesige ockergelbe und orange
getönte Weichsanddünen schieben sich in das Matisse-Blau eines
spiegelglatten Meeres. So weit das Auge reicht, erstreckt sich ein
Teppich aus niedrigem Schlickgras, Sumpfinseln und Mangroven,
durchsetzt mit schimmernden Eichen, wo tausende von Vögeln leben:
rosafarbene Flamingos, weiße Pelikane, Fischreiher, Löffelreiher,
Silbermöwen, Kormorane, Seeschwalben und noch viele andere Arten
mehr.
Auf einer Fläche von 12 000 Quadratkilometern diesseits und
jenseits des 20. Breitengrads bietet der Nationalpark Banc d’Arguin
ein üppiges Fischparadies, in dem sich die Zugvögel aus Afrika,
Europa und sogar Sibirien versammeln. Weiter südlich geht die Route
zwischen Dünen und Meer weiter. Dann folgt ein schmaler, 200
Kilometer langer Spülsaum, der nur bei Ebbe und mit einiger
Geschwindigkeit befahren werden kann, wobei man aufgescheuchte
Schwärme strahlend weißer Vögel vor sich her treibt und eine
Gischtfahne hinter sich lässt. In den vereinzelten Fischerdörfern
dieser Gegend leben ferne Nachkommen der Almoraviden-Stämme, wilde
Kämpfer und muslimische Mystiker, die im 11. und 12. Jahrhundert,
nachdem sie die Berber überrannt hatten, erst Marokko und dann
Spanien eroberten. Ein Ereignis, von dem wir füher schon gehört
hatten, war der Schiffbruch einer französischen Fregatte am 2. Juli
1816 in der Bucht von Arguin. Von den 147 Passagieren trieben
dreißig Überlebende lange Zeit auf einem Floß, bis sie sich am
Ende gegenseitig auffraßen. Die Fregatte hieß Medusa.
Von Marokko bis Ghana zeigt sich auf Straßen und Pisten ein niemals
abreißender Film afrikanischen Alltagslebens. In Technicolor und
Dolby-Stereo. In diesen Ländern, die kein Schienennetz haben, wo
Flüge für die meisten unerschwinglich sind und es nur wenige und
kaum schiffbare Flüsse oder Ströme gibt, läuft alles über die
großen Straßenverbindungen zwischen den Städten und Regionen.
Wer sie benutzt, bekommt ein unendliches, wechselhaftes Schauspiel
geboten. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und noch lange
danach ist dort alles unterwegs, was sich bewegen kann, meistens im
Schneckentempo und mit vielen, nicht immer freiwilligen
Unterbrechungen: ein vollständiges motorisiertes Panoptikum vom
Gebrauchtwagenmarkt.
“Ich habe keine Uhr, aber ich habe Zeit.”
Uralte, scheppernde Lastwagen, die schwarzen Qualm ausspucken und in
Staubwolken gehüllt auf glatten Reifen durch die Landschaft
kriechen, weit über die zulässige Höhe hinaus mit den
verschiedensten Waren beladen, die in jeder Kurve, bei jedem
Schlagloch bedrohlich ins Schwanken geraten und auf denen oft noch
Passagiere mitsamt ihren eigenen sperrigen Transportgütern Halt zu
finden suchen: Ballen, Tüten, Fahrrädern, sogar Ziegen, die oben
auf die Spitze gehievt werden. Man sieht Beförderungsmittel vom
Linienbus bis zum Buschtaxi, die unterschiedlichsten Sammelfahrzeuge
inklusive: Laster, Kleintransporter, Lieferwagen, im Eigenbau für
die Personenbeförderung hergerichtet, mit ausgeschnittenen
Belüftungsvierecken, -kreisen oder -herzen an den Seiten,
rustikalen Bänken im Inneren, mehreren Türen und Trittbrettern,
an denen Trauben von Menschen hängen, die keinen Platz gefunden
haben, voll bepackten Dachträgern und Leitern zum Dranhängen des
Federviehs. All diese Ungetüme machen den Eindruck, jeden
Augenblick unter ihrer Last zusammenzubrechen, Klapperkisten aus
Urgroßvaters Zeiten.
Dazwischen wimmelt es von Eselskarren, Handwagen, Fahrrädern und
Mofas, auf denen sich Männer, Frauen und Kinder samt Körben mit
Hühnern, Gemüsekisten, Stoffballen, Tischen, Küchenherden oder
Nähmaschinen in unsicherem Gleichgewicht halten, begleitet von
Rinder-, Ziegen- und Kamelherden, die den Rand der Straße oder
Piste säumen, sie manchmal unverhofft überqueren oder
beschließen, mitten auf der Fahrbahn eine Ruhepause einzulegen. Und
überall, von morgens bis abends, Leute zu Fuß, die ohne Hast
gehen und gehen, viele Kilometer vom nächsten Dorf entfernt;
Menschen jeden Alters, in kleinen Gruppen, schwatzend, diskutierend,
Hand in Hand oder die Arme um die Schultern gelegt, oft schwer
beladen. Vor allem Frauen – das gebräuchlichste Transportmittel -,
die in aufrechter Haltung große bunte Plastikschalen mit Wasser,
Holz, Kohle, Getreide, Obst, Gemüse, Stoffen oder
Haushaltsgeräten auf den Köpfen balancieren.
Die Durchfahrt durch kleine Ortschaften verführt oft zu einem
ausgedehnten Aufenthalt. Am Straßenrand reihen sich Dutzende
winziger Läden aneinander, Geschäfte mit Kurzwaren, Lebensmitteln
oder Schmuck, dazwischen ein Frisör, ein Schlosser, vielleicht auch
ein Internetcafé, Verkaufsstände und fliegende Händler mit
einem bunt gemischten Sortiment aus Mangos, Bananen, Ananas, Orangen,
Papayas, Gebäck, Pasteten, Grillspießen, Trockenfisch, gekochten
Speisen, Tabak, ja sogar Telefonkarten. Das Ganze ist kunstvoll
eingebettet in eine Märchenwelt aus Farben und Gerüchen, ein
angeregtes Leben, das sich bis spät in die Nacht hinzieht, wenn man
im Schein der Feuersglut einen Instantkaffee mit Milchpulver
schlürft, zubereitet mit der theatralischen Geste eines Barmixers,
der den Shaker schüttelt wie beim Cocktail im Grand Hotel. Morgens
wenn der Tag anbricht, sitzen hier und dort versprengte kleine
Gruppen im Schatten eines Baumes, nie ohne einen Haufen schlecht
verschnürter Pakete und Tüten aller Art. Unendlich lange, dabei
ohne Ungeduld warten sie auf die unwahrscheinliche Gelegenheit, dass
ein mutmaßlicher Bus oder ein überfülltes Sammeltaxi anhält
und sie mitnimmt. “Wann kommt er vorbei?” – “Heute.” – “Ja, aber um
wie viel Uhr?” – “Ich habe keine Uhr, aber ich habe Zeit.” Hier ist
die Zeit nicht käuflich.
Es ist schnell dunkel geworden, aber auch Stunden nach
Sonnenuntergang hat die Nacht keinerlei Erfrischung gebracht, die
Luft ist immer noch glühend heiß. Wir befinden uns in Senewaly,
einem kleinen Saharadorf zwischen Kayes und Nioro im Nordwesten von
Mali, nahe der mauretanischen Wüste, im Herzen des einstigen ersten
Königreichs von Ghana, das durch den Transsahara-Handel mit Gold,
Salz und Sklaven fast tausend Jahre wirtschaftlicher Blüte erlebte.
Betört vom Zirpen der Zikaden, sitzen wir mit untergeschlagenen
Beinen unter dem Strohgewölbe des Innenhofs, der die traditionellen
Lehmhütten verbindet, und genießen bei kochend heißem Tee die
Gastfreundschaft einer Hirtenfamilie. Wir haben einen jungen Neffen
hergefahren, einen Schmiedelehrling, den wir bei Einbruch der
Dämmerung als Anhalter mitgenommen hatten und der uns in der
Dunkelheit geholfen hat, eine sichere Piste von Dorf zu Dorf zu
finden. Der Tag war anstrengend gewesen: stundenlange Fahrt über
schlechte Straßen und Wellblechpisten, durch Schluchten und
Staubwolken, in einer immer spärlicher bewachsenen Landschaft, die
kaum mehr zu bieten hat als hässliche Affenbrotbäume mit riesigen
Stämmen und verkrüppeltem Geäst. Die Außentemperatur lag bei
über 45 Grad, und unsere Erfrischungsgetränke konnten es durchaus
mit heißem Badewasser aufnehmen.
Ein wenig zur Ruhe gekommen, bleiben wir still im Halbdunkel sitzen,
die Blicke auf die Glut der Feuerstelle gerichtet, an der eine
schöne und elegante Frau das Essen kocht, Eintopf aus Reis und
einem Nackenstück vom Lamm. Neben ihr steht ein kleines Mädchen
mit eingeflochtenen Perlen im Haar, Ton in Ton mit ihrem leichten
Kleid, und betrachtet uns mit ernster Miene. Sie hat die anmutige,
rührende Haltung, die man in Afrika so oft an kleinen Mädchen
sieht: einen Arm hinter dem Rücken, wie eine Liane, den anderen bei
leicht vorgewölbtem Bauch seitlich an den Körper angelegt. Alles
um uns ist beruhigend einfach, es gibt kein nutzloses Objekt: Ein
paar Matten und Kissen, drei Teegläser, die nach einem Ritual, das
dem Familienoberhaupt obliegt, regelmäßig gefüllt und
zurückgereicht werden, in der Mitte eine Emailleschüssel, der
jeder mit den Fingern etwas Reis und Fleisch entnimmt.
Einige Nachbarn sind herübergekommen, um die “Toubabs” zu sehen und
zu palavern. Nur einer spricht annäherungsweise Französisch. Er
muss übersetzen, den ganzen Abend lang. Dem Ältesten, der seine
Herde zum ersten Mal nicht auf die alljährliche Wanderschaft
begleiten konnte, ist es unbegreiflich, warum ich von so weit her
gekommen bin. Das Hirtenvolk der Peul ist das Reisen gewöhnt, aber
man reist nicht ohne Grund. Was ich und meinesgleichen tun, versetzt
sie in ungläubiges Staunen. Wohlwollend, aufmerksam, neugierig,
heiter, mit langen nachdenklichen Pausen geht das Gespräch dahin
und lässt ganz allmählich die Freude am Zusammensein aufkommen,
während die Nacht endlich die ersehnte Kühle bringt.
Die Kinder Afrikas sind kein Markt
Die Peul reden untereinander in einer sanft klingenden Sprache, die
uns wie ein Zauber berührt. Es sind Augenblicke des Glücks, wie
wir sie im Lauf der zufälligen Begegnungen unterwegs immer wieder
erleben – flüchtige Augenblicke, denn das Unglück ist nie weit
entfernt. Das kleine Mädchen ist eingeschlafen. Wir erfahren, dass
sie die beste Freundin einer Tochter der Familie war, die vor einigen
Wochen an Malaria gestorben ist. Malaria zählt immer noch zu den
tödlichsten Infektionskrankheiten der Welt, an denen jedes Jahr
hunderttausende Kinder sterben. In den Großlabors der
pharmazeutischen Industrie interessiert sich dafür schon lange
keiner mehr. Dort zählen im Namen einer effektiven
Unternehmensführung andere Ziele. Der Markt der armen Kinder
Afrikas ist nicht rentabel genug für den Rückfluss der Dividenden
in die Rentenfonds, mit denen sich die alten und reichen Anleger des
Nordens gesundstoßen. Eben diese hemmungslose Habgier verurteilt
die Opfer der verheerenden Aidsepidemie auf dem afrikanischen
Kontinent zum schnellen Tod: Sie bekommen rund um die Uhr und an
jeder Straßenecke die Slogans der Verhütungskampagnen geboten –
aber keine Therapie.
In Mali, Gastgeber beim Afrika-Cup Anfang dieses Jahres, sieht man am
Straßenrand große Plakate, auf denen drei Spieler eine Mauer vor
dem Torhüter bilden, die Hände vor dem Unterleib verschränkt.
Darunter der Text: “Das ist kein guter Schutz. Nehmt lieber ein
Kondom.” Und auf der Fahrt durch Burkina Faso lässt ein Schild an
der Rezeption eines kleinen Hotels in Bobo-Dioulasso die
bestürzende Hilflosigkeit erkennen: “Wir bitten unsere verehrten
Gäste, ihre Präservative beim Verlassen des Hauses am Empfang
abzugeben.”
In einem volkstümlichen Viertel von Lomé in Togo, nicht weit vom
großen Markt entfernt, hat sich eine dicht gedrängte Schar Kinder
und Erwachsene mitten auf der Gasse vor einem Fernseher versammelt,
um so die Abendfrische zu genießen. Mit erstaunten Gesichtern, von
ehrlichem Mitleid ergriffen, sehen sie im französischsprachigen
Programm einen Dokumentarfilm über die schmerzlichen Probleme und
die kostenintensive Behandlung fettleibiger Jugendlicher in der
Schweiz. Ein Hohn. Der reinste Zynismus. Knapp drei Jahrzehnte nach
dem ersten Lomé-Abkommen, das dazu beitragen sollte, die
Ungleichheiten im Nord-Süd-Gefälle zu beseitigen, liegen die
Hilfszahlungen für Togo seit Jahren auf Eis – eine Maßnahme, die
das Land in die Rezession getrieben hat. So wird ein Volk dafür
bestraft, dass es eine Diktatur über sich hat ergehen lassen, die
von den Geberländern etabliert und dreißig Jahre lang gestützt
wurde.
Der tägliche Überlebenskampf ist schwer in Lomé, wie in den
meisten Städten und Dörfern, die wir durchquert haben. Die
große Mehrheit der Menschen in Westafrika lebt in Armut, die
öffentlichen Dienste versagen, mal gibt es kein Wasser, mal wird
der Strom abgestellt. Man braucht ein hohes Maß an Fantasie und
Improvisationsfähigkeit, um bei einem Durchschnittseinkommen von
nicht einmal einem Euro pro Tag wenigstens eine Mahlzeit zu
organisieren. Zwar belaufen sich die Lebenshaltungskosten auf die
Hälfte oder auch nur ein Drittel der Kosten in Frankreich, aber der
Mindestlohn eines Arbeiters oder Beamten beträgt gerade ein
Zwanzigstel, wobei feste Arbeitsplätze selten sind und die Zahl
derer, die ihren Lohn regelmäßig ausgezahlt bekommen, noch
geringer ist.
Trotz aller Leiden ist Afrika lebendig wie das Leben selbst:
überschäumend, ausgelassen, zügellos. Wo die Mehrheit der
Bevölkerung unter zwanzig Jahren ist, sind die sozialen Beziehungen
geprägt von der Jugend mit ihrer Lebenskraft, ihrer Mischung aus
Enthusiasmus und Sorglosigkeit. Die wenigen Alten leben nicht lange.
Zurück in Frankreich und der gedämpften Filzpantoffelatmosphäre
unserer Gesellschaft, fühlen wir uns wie erschlagen von den
Ängsten, den Sicherheitsbedürfnissen, dem Fremdenhass einer immer
älter werdenden Bevölkerung, die sich vor ihren Kindern
fürchtet.
Das Leben der Afrikaner besteht vor allem in Musik, die nicht nur ein
ritueller Kult, sondern auch ein psychologisches Bedürfnis ist.
Musik und Tanz sind unzertrennlich, allgegenwärtig – auf der
Straße, auf den Märkten, in Höfen, Gärten und im “Busch”. Die
Babys lernen es, lange bevor sie laufen können, auf dem Rücken
ihrer Mütter. Musik – das heißt alle Rhythmen und Klänge des
Kontinents in ihrer unerhörten Vielfalt, aber auch Musik von
anderswo. Daraus schöpfen die Menschen ihre Hoffnung und ihren
Stolz.
Die afrikanische Unterscheidung zwischen zwei Sorten Hühnern, dem
“Leichenhuhn” und dem “Fahrradhuhn”, hat symbolischen Charakter. Das
“Leichenhuhn” wird in keimfreien Legebatterien aufgezogen, ist mit
Hormonen, Antibiotika und Mehlen vollgestopft, markt- und
konkurrenzfähig, fett, ohne Würze und ohne Geschmack,
klassifiziert, kontrolliert, etikettiert, mit einem Strichcode
versehen und in den Kühltruhen der Supermärkte zur letzten Ruhe
gebettet. Ein perfektes Abbild unserer westlichen Gesellschaften.
Das “Fahrradhuhn” dagegen, schmächtig, eher mager und staubig, ist
ein freilaufendes Tier, das auf der Straße und in den Höfen
Afrikas kräftig scharren muss, um ein paar Körnchen zu finden,
und bei glühender Hitze die Beine hebt, als träte es in die
Pedale, um hier und dort etwas zu ergattern, ehe es fest,
wohlschmeckend und kopfunter an den Beinen aufgehängt vor einem
kleinen Laden endet.
Pépé le Moko ist der Held des gleichnamigen Films über einen
vorbestraften Gangsterboss in der Kasba von Algier, gedreht 1936
unter der Regie von Julien Duvivier, mit Jean Gabin in der
Hauptrolle.
Published 6 September 2002
Original in French
Translated by
Grete Osterwald
Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine
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