Triumph des Bösen

Portrait of a war criminal

Radislav Krstic, Armeegeneral der Republika Srpska (RS) und Stabschef, später Kommandant des Drina-Korps, wurde vom UNO-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) am 2. August 2001 als erster Kriegsverbrecher wegen Völkermordes zu einer Haftstrafe von 46 Jahren verurteilt. In der UN-Schutzzone von Srebrenica waren zwischen dem 13. und dem 19. Juli 1995 über 7000 muslimische Männer erschossen und 30.000 Menschen zwangsdeportiert worden.

Das eine Bein leicht nachziehend und mit besorgter Miene betrat General Radislav Krstic den Verhandlungssaal. Auch er hatte in dem Krieg einen hohen Preis bezahlt, im Dezember 1994 hatte ihm eine Mine ein Bein weggerissen. Ein schlanker, fünfzigjähriger Mann im dunklen Sakko, das angegraute, dünne Haar über den kahlen Schädel gekämmt – ein sichtbares Zeichen seiner männlichen Eitelkeit.

Vornübergeneigt auf der Anklagebank sitzend, die Stirn von einer Sorgenfalte durchfurcht, blickt er nervös zu den Richtern. Alles an ihm verrät, dass er sich an diesem Ort sehr unbehaglich fühlt vor all den Repräsentanten des Rechts, die in ihren schwarzen und roten Kostümen an Schauspieler auf einer Bühne erinnern. Doch anders als im Theater ist das Spektakel hier tödliche Realität. Von Beginn seines Prozesses an, der sich über ein Jahr hinzog, lag auf Krstics Gesicht der Ausdruck von Müdigkeit. Und von Beginn an kam er mir wie ein Gefangener vor, ein schwacher Mann, ein Mann voller Ängste.

Während ich so dasitze, erinnere ich mich an eine Szene aus einer Fernsehdokumentation: Einzug der Armee der Republika Srpska in Srebrenica am Nachmittag des 11. Juli 1995. In dieser kurzen Szene sieht man General Ratko Mladic, den Oberbefehlshaber der bosnischen Serben, wie er den Befehl zum Angriff auf die Enklave gibt. Mir fiel dabei auf, dass Krstic von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, General Mladic, nicht mit seinem Titel oder seinem Vornamen angesprochen wurde, sondern mit seinem Spitznamen, Krle, als befänden sich die beiden auf einer privaten Veranstaltung. “Krle, komm her!”, bellte Mladic. So als riefe er seinen Hund. Krstic, den Blick auf den Boden gerichtet, folgte ihm offensichtlich nicht allzu bereitwillig. Dieses Bild hat sich mir symbolhaft für ihre Beziehung eingeprägt: Ein aggressiver, tyrannischer Herr und ein unterwürfiger Knecht; eine Beziehung, die Krstic mit einer 46jährigen Haftstrafe bezahlen sollte.

In seinem Eröffnungsplädoyer sagte der Ankläger Mark Harmon:

Hier geht es um den Triumph des Bösen, um eine Geschichte, wie Offiziere und Soldaten der bosnisch-serbischen Armee, Berufssoldaten, die sich den Idealen einer edlen serbischen Vergangenheit verpflichtet hatten – einen Genozid organisiert, geplant und freiwillig an ihm teilgenommen oder ihn stillschweigend geduldet haben. Jene, die die Verantwortung für diese verbrecherischen Taten tragen, haben den Ruf des serbischen Volkes beschmutzt und den ehrenwerten Beruf des Soldaten in Misskredit gebracht.

Zu Prozessbeginn war die Lage allerdings nicht so eindeutig. Als ich Krstic zum ersten Mal beobachtete – sein Art sich zu bewegen, den Ton seiner Stimme, die Aufmerksamkeit, mit der er den Aussagen der Opfer folgte, und die Naivität, die er ausstrahlte –, machte er auf mich nicht den Eindruck eines Mannes, der in derartige Greueltaten involviert gewesen sein konnte. Auf mich wirkte er ängstlich und verschreckt, doch keineswegs wie ein skrupelloser, hasserfüllter und rachedurstiger Mörder. In dem Dokumentarfilm stand er in Srebrenica in Uniform neben General Mladic, doch sah er im Gegensatz zu diesem nicht wie ein Angehöriger des Militärs aus; er machte nicht einmal den Eindruck eines aggressiven Menschen. Er war zu still, zu verschlossen, zu intellektuell; eher wirkte er wie ein Militärbürokrat, jemand der lieber Papiere auf seinem Schreibtisch ordnen würde als Soldaten in einer Schlacht zu befehligen.

Krstic erinnert mich an meinen Vater, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Berufssoldat wurde. Als Offizier in Titos siegreicher Armee hatte man gute Aussichten auf eine Karriere, bessere jedenfalls als wenn man abrüstete und zu seinem Schreinerhandwerk zurückkehrte. Ich hatte in meinem Vater allerdings immer einen white-collar man gesehen, mit einem Hang zu eleganter Kleidung und gutem Essen, der gern Tanzveranstaltungen im Offiziersclub besuchte – Dinge, die einen echten Soldaten weicher machen. Am Ende seiner Militärlaufbahn war er tatsächlich mit Schreibtischarbeit beschäftigt. Aus gesundheitlichen Gründen musste er allerdings in Frühpension gehen. Genau das hätte Krstic auch getan, wäre nicht der Krieg dazwischengekommen.

Wie ich Krstic so dasitzen sah, fragte ich mich, ob seine Uniform wohl auch den typischen Geruch hatte. Die Uniform meines Vater roch immer nach einer Mischung aus Tabak und Essig. Das war in den frühen fünfziger Jahren, und vermutlich besaß er nur eine. Ich erinnere mich, wie meine Mutter sie jeden Sonntag nachmittag auf dem Küchentisch bügelte, während mein Vater sich auf eine Fußballübertragung im Radio konzentrierte und dabei den Kopf dicht über den Apparat gebeugt hielt. Meine Mutter goss zunächst Wasser in eine Metallschale und fügte ein paar Tropfen Rotweinessig hinzu. “Das frischt die Farbe auf”, pflegte sie zu sagen. Dann tauchte sie ein dünnes Stückchen Stoff in die Schale, wrang es aus und presste es auf die Hose. Wir besaßen damals noch kein elektrisches Bügeleisen. Sie erhitzte das schwere Gerät auf dem Herd und drückte es danach kräftig auf das Tuch. Dabei stieg über dem Tisch eine zischende Dampfwolke auf. Die Uniform meines Vaters war immer perfekt gebügelt, und jedes Mal, wenn ich ihm einen Kuss gab, konnte ich den stechenden Geruch wahrnehmen.

Krstic erinnert mich aber auch an meinen Vater in Zivil, der ein anderer Mann war. Mit der Uniform hatte er zugleich seine Macht abgelegt. Auf einmal schien er kleiner, etwas schwächer, ruhiger. Wie Krstic in dem Verhandlungssaal in seinem dunkelblauen Sakko dasaß, wirkte er verloren. Seine ganze Identität bezog er aus der Uniform, und es muss für ihn entsetzlich erniedrigend gewesen sein, wie ein einfacher Zivilist aufzutreten.

Da Krstic mich so sehr an meinen Vater erinnerte, brauchte ich geraume Zeit bis ich begriff, dass er meiner Generation und nicht der meines Vaters angehört. Als ich 1998 von seiner Verhaftung durch die SFOR hörte, wurde mir das nicht sofort bewusst, denn ich kannte niemanden Gleichaltrigen, der Soldat geworden war. Das war kein Beruf, von dem junge Männer träumen würden. Wir waren Stadtkinder, studierten an der Philosophischen Fakultät von Zagreb Kunstgeschichte, Psychologie oder Philosophie, was damals als schick galt.

Anders war es, wenn man aus einem entlegenen bosnischen Dorf stammte. Berufssoldat zu werden war oft der einzige Weg, um aus dem Dorf herauszukommen, vor allem wenn die Eltern arme Bauern waren. Ein Bauernjunge wie Krstic konnte zwischen drei verschiedenen Uniformen wählen: der des Soldaten, des Polizisten oder des Priesters. Jede dieser Uniformen garantierte ihm Kleidung, ein Paar Schuhe und freie Unterkunft und bedeutete zudem für die Eltern einen hungrigen Mund weniger. Selbst wenn die Bauern nicht arm waren, herrschte auf dem Lande großer Respekt vor der Uniform. Eine Uniform, jede Uniform, bedeutete Macht, und Macht erzeugt Achtung und Furcht. Und obwohl die Gesellschaft Jugoslawiens angeblich eine egalitäre war, kam der Offiziersberuf einem sozialen Aufstieg gleich.

Es gab also zahlreiche Gründe für den jungen Krstic, Soldat zu werden. Ein Offizier sieht etwas von der Welt, erhält ein anständiges Gehalt und, wenn er heiratet, eine Wohnung. So überlegen wir uns auch fühlten, wir mussten auch nach der Heirat und der Geburt unserer Kinder bei den Eltern wohnen, weil wir uns keine eigene Wohnung leisten konnten. Sie lag für uns jenseits der kühnsten Träume. Ihre Privilegien konnten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Krstic und seinesgleichen unter ihrer Uniform immer noch Bauernjungen geblieben waren, die in der Stadt deplaziert wirkten. Und wenngleich Krstics Frau ihrem Mann die Uniform gewiss mit einem elektrischen Eisen bügelte, gehörte er doch eher der Generation meines Vaters als der meinigen an.

Es gab aber noch andere Gemeinsamkeiten, die meine Generation mit ihm teilte: Titos Personenkult, die Glorifizierung des Partisanenkampfes gegen den Faschismus, eine kommunistische Revolution während des Zweiten Weltkriegs und ganz besonders die Ideologie von Brüderlichkeit und Einheit zwischen den Völkern. In dieser Hinsicht unterschieden sich Krstics Kindheit und Jugend wahrscheinlich nicht wesentlich von der meinen. Obwohl es einen großen Unterschied machte, in einer Stadt oder am Lande aufzuwachsen, war doch vieles gleich. In Vlasenica und Han Pijesak, wo Krstic zur Schule ging, verwendete man nahezu die gleichen Lehrbücher wie in Zagreb. Wir wuchsen mit den gleichen Geschichten auf, etwa der vom jungen Tito, der einen geräucherten Sauschädel für seine kleinen Geschwister zubereitete (die davon Durchfall bekamen), und jener über Bosko Buha, einen Jungen, der als Kurier bei den Partisanen fungierte. Wir alle lernten die Offensiven der Partisanen auswendig. Sicherlich unternahm auch Krstic einen Klassenausflug zum Denkmal für die Schlacht von Sutjeska in Tjentiste und sang dabei mit seinen Mitschülern “Po sumama i gorama” (Durch die Wälder und die Berge). Schulklassen mussten sich Filme über die Partisanen anschauen – Neretva, Kozara oder Desant na Drvar (Absprung über Drvar). Am 25. Mai, dem Tag der Jugend und Titos Geburtstag, wohnte Krstic vermutlich den Feierlichkeiten in einem Belgrader Sportstadium bei. Dort wurde zu Titos Ehren eine Staffel abgehalten und danach eine spektakuläre Gymnastikschau. Später sah er vermutlich zu Hause die Fernsehserie “Pozoriste u kuci”, amüsierte sich über Ckalja und aß zu Silvester Sarma. Und ich könnte wetten, dass sein erstes Auto ein kleiner Fiat 750 war, der den Spitznamen Fico trug, und dass er seine Sommerferien in Brela oder Makarska an der Adria verbrachte.

Und weder er noch ich hatten je gedacht, dass es anders kommen würde. Jugoslawien erschien so stabil. Brüderlichkeit und Einheit zwischen den Völkern erschienen so wirklich. Serben, Kroaten und Muslime – wir wuchsen gemeinsam auf, gingen gemeinsam zur Schule, knüpften untereinander Freundschaft, heirateten, bekamen Kinder und dachten nie daran, dass die nationale Zugehörigkeit uns je auseinanderbringen könnte. Die einzige Ausnahme stellten die Albaner dar. Die wenigen von ihnen, die in Kroatien lebten, arbeiteten zumeist als Goldschmiede oder in Eissalons. In Serbien hatten sie die miesesten, am schlechtesten bezahlten Jobs. Sich mit ihnen zu vermischen war schwierig, nicht wegen der Sprachbarriere – sie sprachen alle Serbokroatisch – oder wegen ihres niedrigen gesellschaftlichen Status, sondern weil sie aus einer völlig anderen Welt kamen.

In seiner einleitenden Erklärung vor Gericht bestätigte Krstic: “Niemals gab es hier irgendwelche Vorfälle oder Konflikte, die aus ethnischer Intoleranz resultierten. Ganz im Gegenteil, wir gingen gemeinsam zur Schule, verkehrten privat miteinander und empfanden gegenüber dem anderen großen Respekt. Das galt auch für die älteren Leute im Dorf, vor allem aber für die jüngere Generation.” Ich verstand, was Krstic sagen wollte; ich hätte das gleiche gesagt. Ich erinnere mich an meine Schulkollegen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien, die sonderbare Namen trugen und einen merkwürdigen Dialekt sprachen. Natürlich waren wir uns der Unterschiede bewusst, doch die spielten keine Rolle.

Neben der Schule stellte die Armee das Hauptinstrument dar, in dem sich Brüderlichkeit und Einheit herausbildeten. Die jungen Rekruten wurden weit weg von ihrer Heimat eingesetzt, damit sie ihr Land kennenlernten. Die jugoslawische Armee galt als “die größte Schule für Brüderlichkeit und Einheit zwischen den Völkern”, einer der wahren Garanten für die Einheit zwischen den Völkern Jugoslawiens. Ein schreckliches Paradoxon des Krieges, dass gerade diese Armee sich in das Hauptinstrument gegen die Einheit verkehrte.

Dass es an der Zeit war, die nationalen Spaltungen zu überwinden, zeigte die Volkszählung von 1981, bei der sich etwa 1,2 Millionen Einwohner als “Jugoslawen” deklarierten. Damit konstituierten sie die sechstgrößte Gruppe im Lande. Diese Bürger gehörten überwiegend der Nachkriegsgeneration an, lebten in der Stadt, übten gehobene Berufe aus oder entstammten gemischten Ehen. Dies hätte der Beginn eines jugoslawischen Schmelztiegels sein können, doch das harmonische Zusammenleben dauerte nicht lange.

Wenn General Krstic über seine Vergangenheit, vor allem seine Jahre in Sarajevo, sprach, war eine fast nostalgische Romantik herauszuhören. Er hatte geheiratet, eine Tochter bekommen und lebte in einer eigenen Wohnung. “Es waren dies sehr schöne Jahre in meinem Leben”, sagte er. An Sarajevo schätzte er etwas, das andere jugoslawische Städte nicht besaßen. “Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl war in Sarajevo besonders ausgeprägt. Niemals stellten wir Überlegungen über den ethnischen Hintergrund unserer Mitbürger an. Wir fühlten uns alle als Bewohner Sarajevos”, sagte er, und vergaß vielleicht für einen Augenblick, dass er sich in einem Gerichtssaal befand und seine Worte in den Ohren der Richter und des Publikums nicht überzeugend klingen würden.

1991 brach der Krieg aus, zuerst in Slowenien, dann in Kroatien. Der Zerfall Jugoslawiens war auch für Krstic schrecklich, wie er dem Gericht mitteilte. Es muss für ihn tatsächlich quälend gewesen sein, zu sehen, dass alles, woran er glaubte, eine Illusion gewesen war. In dieser Zeit dachte ich häufig an meinen Vater, und wie schwer es ihn getroffen hätte. Er war allerdings schon 1989 gestorben. “Gerade rechtzeitig”, kam es mir in den Sinn, während der Krieg in Kroatien wütete. Ich bin froh, dass er den Zusammenbruch nicht erlebte, schließlich hatte er sein ganzes Leben gegen die nationalistischen Kräfte gekämpft. So war ihm erspart geblieben, den Aufstieg des einstigen Partisanengenerals Franjo Tudjman zum nationalistischen und autoritären Führer Kroatiens mitanzusehen. Das musste auch für Krstic verwirrend und beängstigend gewesen sein. Er war kein Politiker, und wie er selbst sagte, hatte er unterschätzt, in welchem Maße erst die Politik den Krieg möglich gemacht hatte.

Doch glaubte Krstic immer noch, wie die Mehrheit der Bosnier, dass ein derart multiethnisches Land wie Bosnien vom Krieg verschont bleiben würde. Hier muss ich ihm beipflichten. Auch ich war in Sarajevo gewesen und hatte die gleiche entspannte Atmosphäre der Toleranz empfunden. Als der Krieg in Kroatien ausbrach, pflegten die Menschen in Sarajevo zu sagen: “Uns kann niemand auseinanderbringen, hier leben Muslime, Serben und Kroaten miteinander.” Doch obwohl es in den fünfundvierzig Jahren seit der Entstehung des Staates keine ethnischen Konflikte gegeben hatte und ein Drittel der Kinder gemischten Ehen entsprang, kam es im April 1992 zum Krieg.

In diesem Jahr hielt Krstic sich in Pristina auf. Offiziere, die einer anderen Ethnie als der serbischen angehörten, traten aus der Bundesarmee aus. Mitte 1992, nachdem Bosnien seine Unabhängigkeit erklärt hatte, erkannt Krstic schließlich, dass er sich entscheiden musste, ob er in Serbien oder in Bosnien leben wollte. Als gebürtiger serbischer Bosnier entschied er sich für seine Heimat. Bei seiner Ankunft in Bosnien bemerkte er jedoch, dass er sich in einem zutiefst gespaltenen Land befand. Er war Serbe, und ihm wurde vielleicht zum ersten Mal bewusst, was dies bedeutete. Für ihn, wie auch für viele andere Menschen, wurde die ethnische Zugehörigkeit zum Schicksal. So trat Krstic im Juni 1992, als der Krieg bereits in vollem Gange war, in die Armee der Republika Srpska ein.

Bis hierher kann ich ihm folgen, nachvollziehen, wie sich sein Leben entwickelte, und seine Enttäuschung begreifen, seine Bestürzung, seine Naivität, seine Angst. Ich kann auch sein Vertrauen in die Politiker begreifen, zumal man von Politikern in einem kommunistischen Land erwartete, dass sie alle Probleme lösen. Krstic war überzeugt, dass sie eine Lösung finden würden, und er war nicht der einzige. Gerade darin bestand ein Teil des Problems. Die Menschen vertrauten so sehr auf eine politische Lösung, dass sie Politiker wie Slobodan Milosevic nicht durchschauten. Das Land war dabei auseinanderzufallen, und sein einziges Ziel war, an der Macht zu bleiben, selbst wenn der Preis dafür der Krieg war. Die serbischen Medien fachten die nationalistische Glut noch an, mit ihrer Propaganda gelang es ihnen, das Volk zu überzeugen, dass es von den “anderen” bedroht wurde. Die kroatischen und bosnischen Medien taten das gleiche. Vukovar war bereits von der serbischen Armee zerstört, Dubrovnik stand unter Beschuss, Sarajevo war belagert, doch Krstic hegte immer noch die naive Hoffnung, es könne eine politische Lösung für Bosnien geben.

Manchmal, wenn ich ihn mir so im Verhandlungssaal anschaute, tat er mir, zugegeben, leid. Die wichtigste Frage hat ihm niemand gestellt: Wie ist es möglich, dass jemand, der ohne ethnische Vorurteile aufwuchs, ein Berufsoffizier, der in der Bundesarmee im Geiste der Brüderlichkeit und Einheit ausgebildet worden war, schließlich des Völkermords an seinen muslimischen Nachbarn angeklagt werden konnte? Wenn er tatsächlich so frei von ethnischen Vorurteilen war, wenn er sich im multiethnischen Sarajevo so wohl fühlte, warum unterstützte er dann die nationalistische Politik der Republika Srpska? Wie gerät man in die Lage, dass man die Ermordung von Menschen anordnet, die man noch gestern beschützte? Wie konnte ein integerer Mensch so handeln?

Vielleicht handelte Krstic gegen seine Instinkte, agierte im Widerspruch zu all dem, was er je gelernt und geliebt hatte – verleugnete sein wahres Wesen. Oder aber er war tatsächlich überzeugt, dass er durch seinen Beitritt zur Armee der RS sein eigenes Leben retten und sein Volk verteidigen würde.

Zweifellos war seine Situation dramatisch, doch keineswegs dramatischer als die von anderen Menschen. Nachdem der Krieg ausgebrochen war, musste jeder eine Entscheidung treffen. Mitunter bedeutete das den Bruch mit der Familie. Wer sich nicht entscheiden wollte, musste das Land verlassen. Das kam nicht selten vor. Es gab aber auch unter den einzelnen Ethnien Menschen, die im Krieg weiter miteinander lebten, ganz besonders in Sarajevo. Die Mehrheit entschied sich jedoch für eine der beiden Seiten. Krstic war Berufssoldat, für ihn bedeutete das den Eintritt in die Armee der RS.

Am Beginn des Krieges in Bosnien beschloss Krstic, der Sarajevo so liebte, nicht in die Stadt zurückzukehren. Vielleicht weil die Stadt belagert wurde, wahrscheinlich aber auch, weil er sich nicht mehr als Bürger Sarajevos fühlte. Seiner bäuerlichen Wurzeln wegen zog er das Dorf vor, er fühlte sich dort sicherer. Die Bewohner Sarajevos sagten oft, der Krieg in Bosnien sei ein Konflikt zwischen Städtern und Bauern – angeführt von Menschen wie Radovan Karadzic, der aus einem kleinen montenegrinischen Dorf stammte – die das Stadtleben nicht begriffen, die sich niemals integrierten, sich von den Städtern belächelt fühlten und nun endlich Rache nehmen konnten.

Nachdem Krstic sich für die Armee der RS entschieden hatte, ergab sich das Weitere fast automatisch. In den folgenden drei Jahren wurde er mehrmals befördert, zuletzt, einen Monat vor dem Massaker von Srebrenica, zum Kommandanten des Drina-Korps. Im Juli 1995 wurde das Korps auf seine Mission nach Srebrenica und Zepa entsandt. Zur gleichen Zeit übernahm der Anführer der bosnisch-serbischen Armee, General Ratko Mladic, den Oberbefehl in Srebrenica. Dies war für Krstic der entscheidende Moment, in dem er “das Böse zuließ”, wie Ankläger Harmon es formulierte. Ein Moment, in dem er sich dem Zwang der Verhältnisse hätte widersetzen sollen – vorausgesetzt, er war, wie wir annehmen, gegen die Deportation und Ausrottung der Muslime. Krstic konnte sich jedoch nicht der Macht der Umstände entziehen, dazu war er nicht stark genug. Er war ein Opportunist, er ging mit der Masse. In den drei Jahren, die er in der Armee der RS diente, kam er langsam an den Punkt, wo er sich nicht länger den Befehlen General Mladics widersetzen konnte. Doch in Srebrenica mussten ihm die Konsequenzen klar gewesen sein.

Ich halte Krstic nicht für einen schlechten Menschen, einen pathologischen Fall, für einen, der Muslime hasste und sie daher vernichten wollte. Im Gegenteil. Doch er erstaunte mich als ein Mann, der mit seiner Persönlichkeit kämpft. Er ist ein schwacher Mensch, ein Mensch, der sich fürchtet, seinem Vorgesetzten die Stirn zu bieten. Doch wie bei Millionen anderen Menschen war es eine “Politik der kleinen Schritte”, von Entscheidungen und Konzessionen im alltäglichen Leben, der Kollaboration in kleinem Maßstab, die sich zu einer Situation auswuchsen, in der Krstic entweder gehorchen oder sich Mladics Entscheidung, die Muslime von Srebrenica zu ermorden, widersetzen musste. Er hätte Mladic den Gehorsam verweigern, er hätte zurücktreten oder er hätte einen Gegenbefehl erlassen können. Er tat nichts dergleichen.

Dies versuchte er dem UNO-Kriegsverbrechertribunal zu erklären:

… nicht in meinen kühnsten Vorstellungen gestattete ich mir, Gegenmaßnahmen zu setzen. Wir durften über solche Dinge überhaupt nicht sprechen, geschweige denn Schritte gegen einen Befehlshaber unternehmen, unabhängig davon, ob ich wusste, dass er oder jemand anderer möglicherweise Kriegsverbrechen begangen hatte.

Tatsache ist, dass Krstic nicht protestierte, als Mladic das Kommando über die Truppen übernahm und Befehle erteilte; er schwieg, als Mladic drohte, die Bevölkerung von Srebrenica auszurotten. Krstic behauptete, er habe nichts von den Massenhinrichtungen gewusst, aber er hätte vermutlich auch nichts getan, um sie verhindern. Als die Hinrichtungen ihren Anfang nahmen, war es zu spät. Mladic war zu mächtig. Ein Offizier hat seinen Vorgesetzten nicht herauszufordern, erst recht nicht, wenn er zuvor in der jugoslawischen Bundesarmee gedient hatte. Jede Armee ist per definitionem eine autoritäre Institution, und eine kommunistische Armee in noch größerem Maße. Nach seiner eigenen Aussage hatte Krstic Angst vor Mladic, sowohl in Srebrenica als auch später. In mehreren Kreuzverhören sagte Krstic aus, er habe Angst um seine Familie und um sich selbst gehabt, was die Richter jedoch wenig beeindruckte. Sie ließen dies nicht als Entschuldigung gelten. Für sie zählen das Kriegsrecht, moralische Pflichten, Ethik und die Offiziersehre. Es wäre seine Pflicht gewesen, Kriegsverbrechen zu verhindern, und, falls er sie nicht verhindern konnte, hätte er sie melden müssen. Beides hatte Krstic unterlassen. Krstics Argument, er habe zu diesem Zeitpunkt von den Kriegsverbrechen keine Kenntnis besessen, enthebt ihn nicht der Pflicht, sobald er davon erfuhr, Meldung zu erstatten. Vielleicht aber war die Vorstellung von individueller Verantwortung für General Krstic zu abstrakt. Wo sollte er sie auch gelernt haben? Die kommunistische Gesellschaft, aber auch die nationalistische, von der sie abgelöst wurde, sind kollektive Gesellschaften; sie bieten keinen Spielraum für individuelle Verantwortung, weil das Individuum kaum zählt.

Wir müssen uns die Frage stellen: Wie kann aus einem Nachbarn ein Feind werden? Wie internalisiert man den Feind, und wie lange dauert es, bis es dazu kommt? Bei der Erstürmung von Srebrenica hatte die serbische Propagandamaschine, insbesondere das Fernsehen, den Feind – Kroaten, bosnische Muslime und Albaner – bereits fast zehn Jahre lang dämonisiert. Srebrenica war nur durch eine lange psychologische Vorbereitung möglich geworden. 1995 waren die Muslime zu Unmenschen geworden – wie die Juden im Zweiten Weltkrieg. Auf die Frage, warum er Juden getötet habe, antwortete ein Mitglied des deutschen Polizeireservebatallions 101 in Polen: “Für mich waren das keine Menschen.”

In Bosnien waren bereits vor 1995 von allen Seiten zahlreiche Kriegsverbrechen im Namen der Ethnie begangen worden. Der Angriff auf die Enklave von Srebrenica dürfte eine Vergeltungsmaßnahme für einen früheren Angriff der bosnischen Armee auf das benachbarte serbische Dorf Kravice gewesen sein, bei dem viele serbische Zivilisten getötet wurden. Die Ermordung von Muslimen war daher in den Augen der Täter, Krstic miteingeschlossen, gerechtfertigt. Die Ereignisse von Srebrenica waren jedoch nicht eine bloße militärische Operation mit gewissen “Kollateralschäden”, sondern der Versuch, die muslimischen Männer auszurotten. Über 7000 Männer wurden hingerichtet, 30,000 Frauen, Kinder und ältere Personen vertrieben, um eine ethnische Säuberung des Drinatals zu garantieren. Eine Maßnahme, die nach Aussage des Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadzic, erfolgte, um “eine unerträgliche Situation der völligen Unsicherheit zu schaffen, ohne Hoffnung auf ein zukünftiges Leben für die Bewohner von Srebrenica und Zepa.” Fast immer gibt es bei Massenhinrichtungen Überlebende. Einer von ihnen trat beim Krstic-Prozess als Zeuge für das schlimmste systematische Töten seit dem Zweiten Weltkrieg auf. O. war gerade 17 Jahre alt, als er die folgende Erfahrung machte:

Einige Leute riefen: ‘Gebt uns Wasser, bevor ihr uns erschießt.’ Es betrübte mich, dass ich durstig sterben würde, und ich versuchte mich zwischen den anderen zu verstecken, so lange ich konnte, wie alle es taten. Ich wollte einfach noch eine oder zwei Sekunden leben. Als ich drankam, sprang ich heraus [aus dem Lastwagen], ich glaube mit vier anderen. Ich ging mit gesenktem Kopf und fühlte nichts … Ich sah Reihen von ermordeten Menschen. Es sah aus, als ob sie Reihe um Reihe hingelegt worden wären. Und dann dachte ich, ich würde sehr schnell sterben, ich würde nicht leiden. Und meine Mutter würde niemals erfahren, was aus mir geworden ist.

Während O. sprach, schwenkte die Kamera auf Krstics Gesicht. Krstic hatten diese Worte sichtlich berührt. Er wusste nicht, wo er hinblicken sollte. Dies unterstrich noch den Eindruck, dass er mit seinen Opfern Mitleid verspürte. Mir kam vor, es war ihm nahezu unerträglich, O. zuzuhören. Gleichsam als führte dieser junge Mann, der zufällig überlebt hatte, Krstic die Wirklichkeit seiner Handlungen viel direkter vor Augen als die abstrakte Zahl von 7000 Toten.

Dieses Bild von Krstic als einem schwachen Mann mit passivem Wesen, einem Opfer der Umstände, sollte sich radikal verändern, als der Ankläger ihn einem Kreuzverhör unterzog. Da vermittelte er plötzlich ein ganz anderes Bild.

Krstics Verteidigungslinie war einfach. Er leugnete nicht, dass die Armee der RS Kriegsverbrechen begangen hatte, wohl aber, dass dies auf seinen Befehl geschehen sei. Mladic stand rangmäßig über Krstic, als er das Kommando übernahm und gab den Batallionanführern direkte Befehle. Krstic versuchte in den Kreuzverhören immer wieder, den Ankläger und die Richter zu überzeugen, er habe mit der ganzen Operation nichts zu tun gehabt. Seine Strategie baute er auf Leugnung auf. Er behauptete, er habe weder an der Planung und Organisation noch an der Anordnung der Hinrichtungen oder der Vertreibungen teilgenommen, ja, er sei zu diesem Zeitpunkt nicht einmal anwesend gewesen. Ab dem Nachmittag des 12. Juli habe er sich in Zepa aufgehalten. Zudem habe er von den Greueltaten weder gehört noch gewusst, sondern erst im Laufe seines Prozesses davon erfahren.

Zumeist antwortete er auf die Fragen des Anklägers mit einem “Ich weiß nicht”, selbst wenn dies höchst unwahrscheinlich schien. Er musste davon gewusst haben. In den Zeitungen waren bereits Berichte erschienen über vermutliche Kriegsverbrechen in Srebrenica, selbst die chinesische Presseagentur schrieb darüber am 17. Juli, doch General Krstic wollte davon nicht gehört haben.

Noch absurder war seine Antwort auf die Frage eines Anklägers, ob er auf der Fahrt nach Potocari, einem UN-Posten bei Srebrenica, nicht die zahlreichen Busse und Laster gesehen habe, die zur Deportation der Menschen aus der Enklave geschickt wurden. Krstic verneinte dies, er habe nichts bemerkt. Diese Vorgänge ereigneten sich in einem Gebiet von 35 km2. Es wäre ungefähr so, wie wenn ich als Vizebürgermeisterin behauptete, ich wüsste nichts von dem bedeutenden Fußballmatch in der Stadt Karlova, ich hätte nicht den Konvoi von 50, 60 Bussen bemerkt, die in die Stadt fuhren, oder die Tausende von Fans in den Straßen oder den Verkehrsstau und die zahlreichen Polizisten!

Wie der Ankläger bewies, war es für jemanden in seiner Position schlichtweg unmöglich, nicht zu bemerken, was um ihn herum passierte. Die Deportation von 30,000 Menschen und die Hinrichtung von 7000 Männern bedeutete einen enormen logistischen Aufwand. Diese Vorgänge mussten die Kooperation, das Mitwissen und die Teilnahme von zahllosen Soldaten erfordert haben, wie McCloskey darlegte.

Zunächst ging es darum, Befehle an alle Einheiten zu erteilen, die an der Ermordung der Opfer und der Beseitigung der Leichen beteiligt waren. Dazu benötigte man eine entsprechende Anzahl von Bussen und Lastwagen, um die Tausenden von Opfern vom Ort der Gefangennahme und Kapitulation zu Sammellagern zu bringen, die sich in der Nähe der Hinrichtungsorte befanden. Das erforderte die Bewilligung für Treibstoff für die Fahrzeuge, Wach- und Sicherheitspersonal für jedes Fahrzeug, Gefängnisse mussten ausgemacht werden, die entsprechend sicher waren und in unmittelbarer Nähe der Hinrichtungsstätten lagen. Weiters mussten genügend Augenbinden und Handfesseln vorhanden sein, um die Gefangenen vor der Hinrichtung festzubinden (…) eine ausreichende Menge von Leuten, Bewachungspersonal um die Sammellager abzusichern und die Gefangenen in den Tagen oder Stunden vor ihrer Hinrichtung zu bewachen, die Bereitstellung von Fahrzeugen (…) Man musste Erschießungskommandos zusammenstellen und sie bewaffnen (…) [Es erforderte] die Bereitstellung und den Transport schwerer Ausrüstung für das Anlegen der Massengräber, und man brauchte Männer, die jene Tausenden von Opfern verscharrten, die wir später entdeckten.

Im September desselben Jahres wurden in einer systematischen Verschleierungsoperation Massengräber ausgeräumt und die Leichen an verschiedene entfernte Orten transportiert. Selbst wenn General Krstic in Zepa war, so musste er über diese Vorgänge informiert gewesen sein, und es waren seine Offiziere und Soldaten vom Drina-Korps, die an dieser Operation beteiligt waren.

Krstic hatte offenbar vor dem Tribunal gelogen und noch dazu nicht überzeugend. Darauf beruhte seine Strategie. Nicht etwa, um eine mildere Strafe zu erhalten. Diese Anstrengung hätte sich nicht gelohnt, wusste er doch, er würde nicht nur für seine individuelle Verantwortung, sondern auch für seinen Befehl verurteilt werden. Vermutlich log er in der vergeblichen Hoffnung, er könne sein Gesicht und seine Selbstachtung wahren, wenn es ihm gelänge, die ganze Schuld für Srebrenica auf Mladic abzuwälzen. Es mochte aber noch einen anderen Grund gegeben haben. Seine Verantwortung kann nur bewiesen werden, wenn man ihn mit dem noch rauchenden Gewehr in der Hand erwischen würde, so seine psychologische Erklärung.

Wenn Krstic je eine Chance gehabt hatte, die Anklagevertretung, die Richter und die Öffentlichkeit zu überzeugen, er sei Berufsoffizier und ein integerer Mensch, so wurde sie zunichte gemacht, als McCloskey die Tonbandaufnahme eines abgefangenen Gesprächs zwischen Krstic und seinem Major Dragan Obrenovic abspielte. Zuvor fragte McCloskey Krstic: “General Krstic, haben Sie die Ermordung der Muslime angeordnet?” Krstic antwortete heftig: “Nein”. Nachdem die Aufzeichnung abgespielt worden war, wurde klar, weshalb ihm McCloskey diese Frage gestellt hatte.

Krstic: Arbeitet ihr da unten?
Obrenovic: Natürlich arbeiten wir.

Krstic: Gut.

Obrenovic: Wir haben noch ein paar andere erwischt, mit dem Gewehr oder auf den Minenfeldern.

Krstic: Bringt sie alle um!

Obrenovic: Alles verläuft plangemäß.

Krstic: Kein einziger darf überleben.

Obrenovic: Alles verläuft plangemäß.

Krstic: Gut gemacht. Wahrscheinlich hören uns die Türken zu. Lass sie zuhören, diese Motherfuckers (“Türken” war das Schimpfwort für Muslime).

Danach erfolgte eine kurze Pause. Der Anklagevertreter blickte zu Krstic und alle Augen richteten sich auf ihn. General Krstic senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Es war dies eine Geste schierer Verzweiflung. Als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Es muss ihm gedämmert haben, dass dies das Ende bedeutete – das Ende seiner Hoffnung, aus diesem Prozess als integerer Mensch, mit der intakten Würde eines Offiziers hervorzugehen. Das bedeutete sein Ende, und er wusste es. Er war ruiniert. Der Mann auf der Anklagebank wirkte auf einmal viel kleiner und verletzlich. Zum zweiten Mal im Laufe des Prozesses empfand ich Mitleid mit ihm, weil er sich so verkalkuliert hatte. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass der Ankläger derart belastendes Beweismaterial vorlegen würde.

“General Krstic, haben Sie am 2. August 1995 Major Obrenovic befohlen, die Menschen, die man an diesem Tag gefangengenommen hatte, zu töten?”, fragte der Ankläger. Plötzlich, in einer dramatischen Transformation, schrie ihn Krstic beinahe an: ” Nein, Mr. McCloskey! Das hier ist zu hundert Prozent eine Montage! Ich habe an diesem Tag überhaupt nicht mit Obrenovic gesprochen. Auch habe ich die andere Person in dem Gespräch nicht erkannt, und vor allem nicht meine eigene Stimme. Ich wiederhole: Das hier ist eine zu hundert Prozent manipulierte Montage.”

Es war dies das einzige Mal im Prozessverlauf, dass Krstic so heftig reagierte. Mir schien, dass er in diesem Augenblick wirklich Angst bekam, dass er tatsächlich bei einer Lüge ertappt worden war und seine Taten ihn schließlich eingeholt hatten. Krstic hatte den Befehl zur Exekution gegeben – auch wenn er dies leugnete. Das Gespräch war von zwei verschiedenen Seiten abgehört worden, doch das Gericht brauchte dies nicht einmal zu berücksichtigen, denn es gab genügend weitere Beweise für einen Urteilsspruch.

Am Endes des Tages empfand auch der Ankläger Mitleid mit Krstic. Krstic hatte offenbar nach Srebrenica ein Dokument unterzeichnet, in dem er Mladic in seinem Machtkampf gegen Karadzic unterstützte. Zu diesem Zeitpunkt war Krstic nach eigener Aussage darüber informiert, dass Mladic Kriegsverbrechen begangen hatte. “Ich musste es unterzeichnen, alle anderen Generäle hatten bereits unterschrieben (…) Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn ich mich geweigert hätte?”, fragte er mit leichtem Zittern in der Stimme. McCloskey sah ihn mit einem Blick an, der Mitleid ausdrückte. Dann nannte er die Namen von fünf Generälen, die das Dokument nicht unterzeichnet hatten und noch am Leben und wohlauf waren. Er stellte Krstic die Frage, die ihm jeder andere Anwesende im Verhandlungssaal gerne gestellt hätte: “Warum haben Sie nicht Ihren Dienst quittiert, General, als dies alles sich abspielte? (…) War das die richtige Entscheidung, General? Haben Sie die richtige Entscheidung getroffen?” Dies versetzte dem Angeklagten den Gnadenstoß. General Krstic brach zusammen und vermochte nur zu stammeln: “Auf diese Frage möchte ich lieber nicht antworten.”

Der Prozess gegen Radislav Krstic ist ein Zeugnis des Zusammenbruchs einer Gesellschaft, die ihre Werte verraten, und einer Armee, die ihre Ehre verloren hat, demonstriert am Fall eines Mannes, der seine Seele verkauft hat, als er im Juli 1995 das Böse zuließ. Vielleicht war Krstic wirklich naiv genug zu glauben, er könne die Anklage überlisten und Mladic als einziger Sündenbock dastehen lassen. “Aber Sie waren anwesend, General Krstic, Sie haben alles gehört (…) Sie haben Befehle erteilt (…) Sie wussten Bescheid (…) Sie waren zugegen, als man die Männer von den Frauen, Kindern und alten Leuten absonderte. Es war unmöglich, ihren physischen Zustand nicht zu sehen; es war unmöglich, die Schreie der Männer nicht zu hören, die man in das ‘Weiße Haus’ abführte, wo sie geschlagen wurden.” So lauteten die abschließenden Worte von Richter Almiro Rodrigues, und diese Rede resümierte vielleicht am besten Krstics Verantwortung. Krstic wollte sich selbst in der Rolle des neutralen Zuschauers präsentieren, doch im Krieg gibt es keine Zuschauer.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch: Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Deutsch von Barbara Antkowiak. Paul Zsolnay Verlag 2004.

Published 12 February 2004
Original in English
Translated by Andrea Marenzeller
First published by Transit

© Transit / Eurozine

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