Zur Verbreitung rechtsradikaler Haltungen und Auffassungen in Polen

Pawel Spiewak zeigt hier die Verbreitung von Rechtsradikalismus in Polen und hebt hervor, dass weniger das Phänomen selber die Gefahr darstellt, sondern eher die Tatsache dass nationalistische Parolen im öffentlichen Diskurs nicht kritisiert werden. Anschliessend an den Text erscheint eine am Brandenburgischen Institut gehaltene Diskussion zu dem Text.

Zunächst sollte die Frage, welchen Einfluß oder welche Einflußmöglichkeiten die rechtsextremen oder – wie Rafal Pankowski sagt – die neofaschistischen Organisationen auf die polnische Gesellschaft haben, klar trennen von der Frage, welche rechtsradikalen Parolen in Polen auf gesellschaftliche Zustimmung stoßen. Man sollte diese Fragen deswegen sorgfältig voneinander trennen, weil es bei der rechtsradikalen Bewegung um eine Verschmelzung von ideologischen Einstellungen und Verhaltensweisen geht. Die faschistischen Bewegungen lassen sich vom Prinzip des extremen Negationismus leiten. Es ist eine Negation, die antisemitische, antideutsche, antiukrainische, antidemokratische Elemente beinhaltet. Weitere Elemente sind die Verherrlichung der Stärke, der Gewalt und die Idee eines korporativistischen oder mit anderen Worten eines autoritären Staates. Dazu gehört die Überzeugung, man erfülle seine bürgerlichen Pflichten durch eine militante Einstellung. Mit anderen Worten: Die wahre faschistische Einstellung erfüllt und realisiert sich durch die bewaffnete Tat oder andere Gewaltakte.

Man kann die Frage untersuchen, ob solche rechtsradikalen Einstellungen und Verhaltensmuster in Polen Gefallen finden. Während es Forschungen zum Antisemitismus, zu nationalen Stereotypen, oder auch zu Staatsidealen gab, hat man die Frage, ob solche Gruppen in Polen wahrgenommen und wie sie beurteilt werden, bisher nicht aufgeworfen. Die einzige Umfrage, die ich fand, wurde in den Jahren 1993-94 durchgeführt, sie ist also ein wenig veraltet. Trotzdem möchte ich sie heranziehen. Meine soziologische Nase sagt mir – was selbstverständlich nicht maßgebend sein kann -, daß sich die Lage inzwischen nicht wesentlich geändert hat.

Die erste Schlußfolgerung lautete, daß die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft von der Existenz solcher Gruppen nichts weiß, sie werden nicht wahrgenommen. In der Umfrage hatte man nach Boleslaw Tejkowski gefragt, zur damaligen Zeit eine ziemlich bekannte Person, nicht nur wegen seiner Publikationen oder der von ihm organisierten Demonstrationsmärsche, sondern auch weil die Gazeta Wyborcza, die größte Tageszeitung in Polen, zwei Interviews mit ihm veröffentlicht hatte. Das verhalf dieser Person zu einer unverhältnismäßigen Popularität. Wichtig ist noch, daß diese Umfrage während eines Prozesses gegen Tejkowski durchgeführt wurde. 24% der polnischen Gesellschaft hatte von Tejkowski schon einmal etwas gehört, fast 76% wußte überhaupt nichts über diese Person. Vermutlich würde man, wenn man heute eine Umfrage zu den rechtsradikalen Gruppen wiederholen würde, auf noch größere Unkenntnis stoßen.

Die nächste Frage lautete, ob man einer Verurteilung von Tejkowski zustimmen würde. 58% der Befragten beantworteten diese Frage mit ja, 12% mit nein, und 30% hatten keine Meinung. Fast 60% waren also der Meinung, Tejkowskis Organisation sollte delegalisiert werden, das möchte ich hervorheben. Ein Problem liegt darin, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der polnischen Gesellschaft etwas von der Existenz solcher Gruppen weiß. Das sind vor allem Menschen mit höherer Bildung, d.h. diejenigen, die die Presse lesen oder von den Informationssendungen der Massenmedien Gebrauch machen.

Man fragte auch, ob in Polen Parteien, die gegen Juden, Deutsche, Russen und Zigeuner hetzen, verboten werden sollten. Die Ergebnisse waren ziemlich eindeutig. Jeweils stimmten fast 60% einem Parteiverbot zu. Etwa 14% sprachen sich dagegen aus und der Rest hatte dazu keine Meinung. Man kann also sagen, daß die Existenz solcher Organisationen gesellschaftlich kaum wahr–genommen wird und es akzeptiert würde, wenn die Behörden ein Verbot solcher Organisationen und Parteien aussprächen. Diese Ergebnisse hängen auch mit einer generell negativen Bewertung jeder Art von Radikalismus zusammen, egal ob er links, rechts oder populistisch ist. Meiner Meinung nach hätten diese Organisationen keinerlei Chance, wenn sie selb-ständig auf der politischen Bühne aufträten. Weder bei den Parlaments- noch bei den Präsidentschaftswahlen überschritt eine dieser Organisationen die 5%-Hürde. Selbst wenn sich mehrere dieser Organisationen vereinigten, was wenig wahrscheinlich ist, da sie eher durch Sekten- als durch Parteistrukturen gekennzeichnet sind, würden sie das Minimum an Stimmen nicht erlangen, das nötig ist, um einen Sitz im Parlament zu gewinnen. Ein gewisser Leszek Bubel, Herausgeber antisemitischer Zeitungen in Polen, erreichte zwar die 100.000 Unterschriften, die nötig waren, um als Präsidentschaftskandidat vom Wahlkomitee aner-kannt zu werden, bei der Wahl selbst bekam er jedoch nicht einmal diese 100.000 Stimmen. Man darf also annehmen, daß die Unterschriftenliste gefälscht war. Bei derselben Wahl wollte auch Boleslaw Tejkowski kandidieren. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Unterschriften zum größten Teil gefälscht waren, so daß seine Kandidatur nicht anerkannt wurde. Die rechtsradikalen Organisationen haben also in Polen in der nächsten Zeit überhaupt keine Chance, eine selbständige Position auf der politischen Bühne einzunehmen.

Welche anderen Argumente sprechen für die These, daß diese Organisationen lediglich gesellschaftliche Randerscheinungen sind? In der europäischen und amerikanischen Politik wird es immer radikale Gruppen geben. Es ist ähnlich wie mit dem Ebola-Virus, der immer irgendwo latent vorhanden ist und aktiv werden kann. Fraglich ist allerdings, ob er sich gegenwärtig aktivieren kann. Allein die Tatsache, daß solche Gruppen existieren, sollte nicht verwundern. In einer Nation von 40 Millionen Menschen finden sich immer ein paar Hundert Personen, die radikale Meinungen vertreten. Ein weiteres Argument ist die Tatsache, daß sich die Leute in Polen vor Gewaltanwendung fürchten. Diese Angst vor der körperlichen Gewalt ist ein wesentlicher Faktor in unserem Leben. Die Sorge um die tägliche Sicherheit ist uns sehr wichtig. Ich bin davon überzeugt, daß die Skinheads nicht als politische Gruppierung, sondern als Hooligans wahrgenommen werden. Es gibt eine allgemeine Verurteilung des aggressiven Verhaltens der Fußballfans in den Stadien. Die Brutalität der Skinheads, egal ob sie unter sportlichen oder politischen Akzenten auftreten, wird eindeutig verurteilt.

Ein weiteres Problem stellen die ethnischen Verhältnisse in Polen dar. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang nicht mit einer Unmenge von Daten und Fakten konfrontieren, aber alle uns zur Verfügung stehenden Daten weisen in eine optimistische Richtung. Tatsache ist, daß in den letzten zehn Jahren die Toleranz gegenüber Anderen, Fremden und gegenüber den nationalen Minderheiten zugenommen hat. Berücksichtigt man den Ausgangspunkt, d.h. den in Polen verbreiteten Antisemitismus, so kann man einen wahren Fortschritt in Richtung Offenheit gegenüber allen Formen des Andersseins verzeichnen. Schwer zu sagen, ob diese Offenheit lediglich deklariert wird oder ob sie real ist. Das Stereotyp des Deutschen hat sich in Polen z.B. stark verändert, heute ist das Bild viel freundlicher als vor ein paar Jahren. Es gibt keine genauen Angaben zum Antisemitismus, da es schwer fällt, Indikatoren für den Antisemitismus zu bestimmen. Aber besonders bei der jüngeren Generation nehmen antisemitische Einstellungen ab. Der Antisemitismus ist selbstverständlich nicht verschwunden, aber er ist schwächer geworden. Es gibt eine Polarisierung zwischen den Personen, die frei von antisemitischen Einstellungen und Vorurteilen sind, und denen, die sie hegen.

Ein anderer Faktor, der zur Stabilisierung der polnischen Gesellschaft beiträgt und bewirkt, daß sie der neofaschistischen Propaganda ablehnend gegenübersteht oder zumindest weniger anfällig dafür ist, besteht in einem verbreiteten bestimmten Ideal des Staates. Abgelehnt werden sowohl eine autoritäre Staatsordnung als auch der Nationalstaat, so wie ihn die Nationalisten auffassen. Das bedeutet natürlich nicht, daß dieses Staatsideal nicht einige Elemente von nationaler Diskriminierung beinhalten kann. In einer der letzten Umfragen wollte man wissen, ob die Befragten den nationalen Minderheiten das Recht auf Bildung eigener Parteien zugestehen. Diese Idee befürworteten aber nur 20% der Gesellschaft.

Ein weiterer wichtiger Indikator für die Einstellung gegenüber den Fremden ist die Tatsache, daß die Mehrheit unserer Gesellschaft dagegen ist, daß polnischer Grund und Boden an Ausländer verkauft wird. 70% möchten nicht, daß Grund und Boden an Juden, Deutsche, Russen oder Zigeuner verkauft werden (diese Gruppen von Menschen waren in der Umfrage erwähnt worden).

Ich möchte noch auf zwei andere Faktoren hinweisen, die meiner Meinung nach die Verbreitung von neofaschistischen Einstellungen in Polen verhindern. Erstens: Trotz des Traumas, das der Übergang von einem System zum anderen bei den Polen hinterlassen hat, unterstützen sie im allgemeinen die demokratischen Ideale. Abgesehen von einer Gruppe, auf die ich noch zurückkomme, gibt es keine gesellschaftlich relevanten Gruppen, die diese Ideale und das Prinzip des Rechtsstaates in Frage stellten. Es gibt einen Konsens unter den großen Parteien, der sich auf die demokratischen Prinzipien stützt. Auch wenn die faschistischen Gruppierungen nicht delegalisiert werden, wird doch keine der ernsthaften politischen Parteien und kein ernsthafter führender Politiker die Tätigkeit dieser Gruppierungen als akzeptabel bezeichnen.

Gewiß, ich habe bisher sehr allgemein und von der ganzen Gesellschaft gesprochen. Ein etwas anderes Problem stellen die Jugendlichen dar, an die sich die Propaganda jener radikalen Gruppen vor allem richtet und die zugleich ihr wichtigstes Rekrutierungsfeld bilden. Ich sehe drei Gründe, die es erlauben, anzunehmen, daß diese Bewegung bei den Jugendlichen kein Gehör finden wird, und drei Gründe, die für eine gefährliche Entwicklung sprechen. Alle Indikatoren weisen darauf hin, daß die Jugendlichen die Prinzipien von Toleranz, Demokratie und Bereitschaft zum Kompromiß akzeptieren. Es besteht also kein Grund zur Befürchtung, daß ein Mißtrauen gegenüber den demokratischen Werten ausbricht. Ambivalent ist dagegen das ausgeprägt apolitische Verhalten der polnischen Jugendlichen, das sich auf zweierlei Weise äußert. Erstens gehören nur 7% der jungen Menschen irgendwelchen Organisationen an, d.h. 93% der jungen Generation bleiben außerhalb jeglicher gesellschaftlichen Aktivitäten. Zweitens ist die Wahlbeteiligung unter den jungen Menschen am niedrigsten. Sie beteiligen sich nicht an den Wahlen und lesen eigentlich keine Zeitungen. So sind sie in gewissem Sinne immun gegen politische Manipulationen, sowohl von der rechten als auch von der linken Seite. Eigentlich sind sie an der politischen Sphäre überhaupt nicht interessiert.

Gleichzeitig lassen sich zwei oder drei dieser positiv angeführten Faktoren auch negativ auslegen. Generell bewerten die Jugendlichen die polnische Politik radikal negativ, sie halten sie für schmutzig und gemein, die Politiker für Schurken. Es ist nicht auszuschließen, daß diese radikale Ablehnung der Politik in eine Ablehnung der Demokratie im allgemeinen umschlagen könnte. Dann hieße es, die Demokratie sei ein schmutziges System und ein brutales Geschäft, in dem es tatsächlich nur ums Geld geht. Das könnte das politische System auf längere Sicht delegitimieren. Zweitens, wenn die polnischen Jugendlichen die Teilnahme am öffentlichen Leben eigentlich ablehnen, bedeutet das auch, daß in Polen Sozialisationsmuster fehlen, die die junge Generation an demokratische Werte binden. An den Schulen gibt es nach wie vor nur wenige Programme zur verfassungsrechtlichen oder demokratischen Erziehung. Die Schwäche der Schule könnte bewirken, daß dieselbe apolitische Jugend zugleich hilflos ist und über keine natürlichen Antikörper verfügt, um einer radikalen Propaganda gegenüber unempfindlich zu bleiben. Auch die fehlende Teilnahme am öffentlichen Leben und der schwache Grad an Organisiertheit könnten die Jugendlichen für ein Angebot der radikalen Organisationen zur Befriedigung von Zugehörigkeits- und Verwurzelungsbedürfnissen empfänglich machen. Vorerst wird dieses Bedürfnis massenhaft – und dies ist die gefährlichste Erscheinung – von den Sport-Fangruppen befriedigt, die zur soziologischen Kategorie eines Rudels zu zählen wären. Die Kultur des Stadions, d.h. auch die Kultur von Gewalt, Aggression und Parteilichkeit ist eine von den Jugendlichen anerkannte Form der öffentlichen – nicht der politischen – Präsenz.

Solche Fangruppen sind besonders populär unter den Jugendlichen, die an den Berufsschulen lernen und eigentlich einen sicheren Weg in die Arbeitslosigkeit vor sich haben. Die Jugendlichen mit Berufsschulabschluß bilden die einzige Gruppe, bei der eine real niedrige Akzeptanz demokratischer Werte festgestellt wurde. In diesem Sinne ist diese Gruppe gefährdet oder gefährlich. Diese Gruppe ist überall zu finden, aber am zahlreichsten ist sie in Dörfern und Kleinstädten. Um Ihnen das quantitative Ausmaß zu verdeutlichen: Drei Viertel der Jugendlichen in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern besuchen nach der Grundschule ein Gymnasium oder eine Ober-schule. In Dörfern besuchen dagegen drei Viertel der Jugendlichen die erwähnte Berufsschule. Meiner Meinung nach ist das eine ernstzunehmende Lücke im Bildungssystem.

Um diesen Teil meiner Ausführungen zusammenzufassen: Ich sehe keine größere Gefahr, daß der Ebola-Virus von der radikalen Rechten aktiviert werden könnte. Man sollte aber die Frage, die hier bereits aufgeworfen wurde, untersuchen, ob die Einstellungen der radikalen Rechten ebenfalls eindeutig negativ bewertet werden, oder ob Teile der faschistischen Ideologie nicht in das gesellschaftliche Denken eingehen und Akzeptanz finden. D.h. ob es nicht so ist, daß man sich zwar vor der radikalen Rechten nicht fürchten muß, dafür aber davor, daß ein Teil der auf Haß aufgebauten Parolen eine Art gesellschaftliche Akzeptanz findet und sich verbreiten kann. Es wurden hier auch viele Organisationen erwähnt, die zwar nicht rechtsradikal sind, aber an der einen oder anderen Stelle mit den Rechtsradikalen in Berührung kommen, wie z.B. die National-Demokratische Partei und verschiedene Organisationen der Allpolnischen Jugend. Persönlich bin ich der Meinung, daß das Wahlbündnis Solidarnosc (AWS) mit der radikalen Rechten nichts zu tun hat, was jedoch nicht heißt, daß dort nicht einige radikale Parolen auftauchen.

Für das ernsthafteste Problem der polnischen Gesellschaft halte ich den allgemein auftretenden Mechanismus der “Judaisierung” des Gegners. Jeder politische, sportliche oder gesellschaftliche Gegner wird zum Juden erklärt. Dies hängt keinesfalls mit der Nationalität zusammen, wesentlich ist, daß der Begriff Jude eine negative Bewertung impliziert. Während einer Demonstration vor dem Regierungssitz riefen die Arbeiter den Politikern zu: “Ihr Juden, kommt heraus zu uns!” Dabei ist es unwichtig, ob sie Juden sind, wichtig ist, daß sie als Juden dargestellt werden. Es gibt eine beständige Tendenz, die Namen oder Vornamen so zu entstellen, daß sie jüdisch klingen. Zum Beispiel wurde die ehemalige Premierministerin und heutige Justizministerin Hanna Suchocka, die aus einer katholischen Familie aus Großpolen stammt, von ihren politischen Gegnern Haja Suchocka genannt. Niemanden stört es, daß Hakenkreuze mit dem Davidstern an die Mauern geschmiert werden. Es ist normal. Der Begriff des Juden hat sich von seiner eigentlichen Aussage vollständig gelöst und ist zu einem gewöhnlichen Schimpfwort geworden, das Verachtung oder Geringschätzung ausdrückt. Das bedeutet jedoch weder – das möchte ich betonen -, daß der Antisemitismus zugenommen hätte, noch daß er aktiver geworden wäre oder daß wir es mit aktiven Angriffen auf Vertreter der jüdischen Minderheit in Polen zu tun hätten. Obwohl die radikale Rechte für den Tod von 20 Personen verantwortlich ist, waren diese Angriffe, auch wenn wir sie als terroristisch bezeichnen, nicht gegen konkrete Personen gerichtet. Ihre Opfer waren zufällige Menschen.

Von einem Exzeß abgesehen, wo ein Junge in der Schule von einem anderen Kind als Jude angegriffen wurde, kennen wir in Polen keinen einzigen Fall, wo jüdische Institutionen angegriffen worden wären. Grabsteine werden zerstört oder ein Hakenkreuz wird an die Mauer der Synagoge gemalt. Aber ich betone, das geschieht in Polen und nicht in Amerika oder England. Das ist polnische Normalität – das eben ist Polen. Wir sollten ein realistisches Bild von den Polen haben und keine Ansprüche an sie stellen. Man muß wissen, von wem die Rede ist. Zugleich aber gibt es in der jungen Generation große Anstrengungen und viel Arbeit, um diese Einstellung zu den Juden zu ändern. In Zoppot gründete sich die Organisation “Polin” (d.h. auf hebräisch Polen, d. Red.), die einen polnisch-jüdischen Dialog anstrebt, und die sich bemüht, den Jugendlichen das polnische Judentum und die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen näherzubringen. In Warschau entsteht eine andere Organisation, die eine Art Monitoring der polnisch-jüdischen Beziehungen betreibt und eine Lobby für ihre Normalisierung schaffen will.

Das antisemitische Stereotyp war und ist in Polen immer noch so tief verwurzelt, daß Veränderungen nur sehr langsam erfolgen können. Man kann nicht darauf zählen, daß diese Veränderungen im Laufe von fünf, sieben Jahren eintreten werden. Es bedarf einer riesigen Arbeit, denn das Feld von Stereotypen und Unkenntnis ist sehr breit – aber das ist schon ein anderes Thema.

Meiner Meinung nach geht in Polen die größte Gefahr für die Entwicklung von Gewalttätigkeit nicht von der radikalen Rechten aus, sondern sie kommt aus der Bauernbewegung von Andrzej Lepper, einem selbsternannten, aber anerkannten Führer dieser Bewegung. In seiner Sprache zeigt er sich als Antisemit und Nationalist, zugleich ist er mit seinen Aktionen sehr erfolgreich. Wegen seines Erfolgs kokettieren verschiedene andere politische Parteien mit ihm, wie z.B. die Polnische Bauernpartei (PSL), die Polnische Sozialistische Partei (PPS) und zum Teil auch das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD). Lepper wird als Instrument benutzt, zugleich aber findet er auf diese Weise eine bestimmte politische Legitimation. Dank Lepper bedient man sich auf der politischen Bühne einer gewalttätigen Sprache. Die Verantwortung dafür trägt zum Teil die rechte, antikommunistische Republikanische Liga, die den Postkommunisten das Recht abspricht, demokratisch gewählte Politiker zu sein, was sehr gefährlich ist.

Zur Verbreitung nationalistischer Einstellungen trägt auch die antideutsche Einstellung bei. Das ist eine Erscheinung, die ebenfalls vor allem aus der Bauernbewegung kommt. Dort herrscht die Meinung vor, es gäbe eine gewisse Fortsetzung des deutschen Drangs nach Osten, dieses mal allerdings im wirtschaftlichen Bereich. Angeblich kaufen die Deutschen den Boden auf und wollen die polnische Wirtschaft zerstören. Auf diese Ideologie treffen wir sowohl in der Bauernbewegung als auch im Rundfunksender Radio Maryja. Übrigens möchte ich bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß nach Angaben und Berechnungen meiner Forschungsarbeit, das reale Niveau der Einschaltquoten von Radio Maryjawesentlich unter fünf Millionen – bei höchstens zwei Millionen – liegt.

Für gefährlich halte ich es, wie in Polen Geschichte geschrieben wird. Ich befürchte, die polnische Geschichtsschreibung und die Geschichtsbücher sind nationalistisch. In den polnischen Büchern zur Geschichte und Literaturgeschichte werden andere ethnische Gruppen, die sich zur polnischen Nation zusammengefügt haben, nicht berücksichtigt. Die polnische Nation ist ein Produkt vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, im 15. oder 16. Jahrhundert gab es sie nicht. In polnischen Geschichtsbüchern kommt die multikulturelle Perspektive nicht vor. Die Geschichte Polens wird ohne Berücksichtigung der Juden, Deutschen, Litauer, Russen, die doch die polnische Ethnie, den polnischen Staat bildeten, geschrieben. Die Jugend lernt von Anfang an ein verfälschtes Bild der Vergangenheit kennen. Sie kann daher weder die zwischen-ethnischen Beziehungen von damals noch die von heute verstehen. Ich betone das, weil schließlich alle zur Schule, dagegen nicht alle in die Kirche gehen müssen.

Abschließend möchte ich noch einmal wiederholen, daß nicht der rechte Radikalismus die eigentliche Gefahr ist, sondern die Tatsache, daß nationalistische Parolen im öffentlichen Diskurs in Polen auftauchen können, ohne kritisiert zu werden.

Diskussion

Helga Hirsch: Wenn Pawel Spiewak erzählt, der polnische Antisemitismus sei eben polnisch und gehöre zum normalen Alltag, dann muß man fragen, wo eigentlich die Grenze zwischen dem, was hier als rechtsradikal oder faschistisch bezeichnet wurde, und dem, was eine generelle Akzeptanz in der Gesellschaft findet, liegt. In Deutschland gab es nach dem Krieg eine Wendung nach links, insbesondere nach 1968, als Abgrenzung gegenüber einer Rechten, die sich wehrlos dem Nationalismus ausgeliefert hatte. Meine Frage wäre: Ist es nicht so, daß die polnische Rechte niemals diskreditiert wurde, weil sie antideutsch war, weil sie für die polnische Souveränität gekämpft hatte, und weil gleich nach dem Krieg der Kommunismus an die Macht kam? Hat sich in Polen – verglichen mit Deutschland – nicht eine umgekehrte Entwicklung vollzogen? Offensichtlich gibt es doch eine Blindheit auf dem rechten Auge, die man auch daran erkennt, daß diese rechten Organisationen gar nicht bekannt sein müssen, ihre Losungen aber trotzdem große Unterstützung finden. Für uns im Westen ist das, was in Polen mancherorts passiert – z.B. die Auf-stellung der Kreuze auf dem Kiesplatz in Auschwitz – skandalös, und auch für Juden in Amerika ist es skandalös. Juden in Polen können dagegen offensichtlich ein gewisses Verständnis dafür aufbringen. Warum müssen wir denn soviel Verständnis für einen angeblich volkstümlichen Antisemitismus zeigen? Wir in Deutschland lösen manche Dinge im rechten Bereich durch Ausgrenzung. In Polen ist es offensichtlich genau umgekehrt. Themen und Losungen, die man vor zehn Jahren überhaupt nicht hätte äußern können, sind heute salonfähig geworden. Ich will damit nicht sagen, daß es eine Anfälligkeit für Rechtsradikalismus gibt, aber es gibt eine Legitimierung für rechtes Gedankengut.

Ruth Henning: Zunächst wurde über angeblich (oder auch wirklich) gesellschaftlich unwichtige, kleine rechtsradikale Organisationen gesprochen. Zwischendurch war auch einmal kurz die Rede von jugendlicher Gewalt in den Fußballstadien. Dann hat uns Pawel Spiewak erklärt, der Rechtsradikalismus sei keine Gefahr, aber der Antisemitismus gehöre in Polen zur Normalität, das sei eben Polen. In diesem ganzen Komplex vermisse ich die Analyse der Zusammenhänge. Gibt es z.B. unter bestimmten Bedingungen einen Treffpunkt zwischen rechtsradikalen Organisationen und jugendlicher Gewalt in den Stadien? Und wenn der Antisemitismus in Polen so tief verankert (“so normal”) ist, ist die Gesellschaft dann nicht besonders anfällig für eine undemokratische Entwicklung? Zwar kenne ich die soziologischen Untersuchungen nicht so gut wie Pawel Spiewak, aber ich habe nicht die Erfahrung gemacht, daß in der Zeit nach 1989 der Antisemitismus in Polen zurückgegangen sei. Meiner Meinung nach ist es gerade umgekehrt, heute tritt man leichter, offener und schärfer als Antisemit auf.

Michael Roeder: Mir schien Ihre Aussage, Sie befürchteten, daß der Haß, der in den einzelnen Gruppen vertreten wird, in der Gesellschaft Widerhall finden könnte, besonders wichtig. Die Diskussion darüber, welche Gruppe was anstellt und wie die verschiedenen Gruppen miteinander zusammenhängen ist im Grunde genommen nicht so relevant, sondern vielmehr die Frage, wie kommt es überhaupt zu dem Haß? Darüber müßte man mehr erfahren, denn die Grundlage dafür bildet Unzufriedenheit.

Gabriele Lesser: Ich möchte etwas aus der Praxis beitragen. Zu diesem Thema habe ich recherchiert. Ich suchte nach konkreten Zahlen über Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund. Ich bat bei der Polizei nach den Zahlenangaben für die letzten 10 Jahre. Dort erhielt ich die Antwort, eine nach Opfern aufgeschlüsselte Straftatenstatistik würde nicht geführt. Dann fragte ich, ob man bei der Polizei die Zeitschrift Nigdy Wiêcejkenne, in der in einem Kalendarium sämtliche Straftaten mit diesem Hintergrund aufgeführt werden. Es hieß, nein, man kenne sie nicht, habe sie nicht abonniert, nie davon gehört und es sei auch nicht beabsichtigt, sie zu abonnieren. Ich rief auch im Justizministerium an und bat um ein Interview mit Frau Suchocka. Meine Anfrage formulierte ich schriftlich und wartete dann zwei Monate auf eine Antwort. Schließlich hieß es, Frau Suchocka fühle sich nicht kompetent in dieser Frage und könne mir kein Interview erteilen. Der Brief sei durch das gesamte Ministerium gegangen, aber es habe sich niemand gefunden, der sich kompetent fühlte, mir z.B. die Frage zu beantworten, warum es keine Statistik antisemitischer Straftaten gibt. Meine zweite Frage bezog sich darauf, warum von 15 Fällen solcher Straftaten, in denen Anzeige erstattet worden war, 13 Fälle mit der Begründung niedergeschlagen worden waren, es sei kein Schaden für die Gesellschaft entstanden. Das ist übrigens die Standardformulierung. In zwei Fällen hatte es tatsächlich Verurteilungen gegeben. Jemand war zunächst als “Saujude” beleidigt und anschließend mit dem Messer niedergestochen worden. Verurteilt wurde der Täter natürlich nicht wegen Antisemitismus, sondern wegen Körperverletzung. Im zweiten Fall war ebenfalls jemand mit antisemitischen Sprüchen beleidigt und danach bewußtlos geschlagen worden. Auch hier eine Verurteilung wegen Körperverletzung. Es gibt ein Gesetz, das eine Strafe von 6 Monaten bis zu zwei Jahren für die Verbreitung antisemitischer Parolen vorsieht. Es wird aber nicht angewandt. Ich fragte also die Justizministerin, was eine antisemitische Beleidigung sei, die tatsächlich zu einer Verurteilung führe, denn “Saujude” reiche ja offensichtlich nicht aus. Kein Kommentar. Schließlich wollte ich noch wissen, ob mir das Justizministerium sagen könnte, was ihrer Meinung nach Antisemitismus sei. Das wußten sie auch nicht.

Meine nächste Recherche betraf die katholische Kirche. Peter Raina, ein bekannter antisemitischer Publizist, schreibt die offizielle Kirchengeschichte Polens, bzw. einen Teil davon. In der letzten Zeit hatte er mehrfach den bekannten Danziger Pfarrer Henryk Jankowski verteidigt und zwei Bücher darüber herausgegeben. Ich fragte bei verschiedenen kirchlichen Stellen nach, wie es möglich sei, daß ein antisemitischer Autor die offizielle Kirchengeschichte Polens schreiben könne. Kein Kommentar.

Christian Semler, freier Journalist: Ich habe zwei Fragen, eine allgemeine und eine spezielle. Die allgemeine lautet: Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere, Spezifische, das den zeitgenössischen polnischen Antisemitismus auszeichnet gegenüber vergleichbaren Erscheinungen im Westen und im Osten? Was macht im Kern seine Besonderheit aus? Und die spezielle Frage: Wir haben ja gerade von den mangelnden Reaktionen des polnischen Episkopats auf die Frage der Herausgabe einer Kirchengeschichte durch einen antisemitisch orientierten Autor gehört. Welche Abgrenzungen gibt es vonseiten der offiziellen Kirche gegenüber denjenigen Kräften, die sich als katholisch bezeichnen und gleichzeitig antisemitische und nationalistische Positionen vertreten? Oder wird das als Koexistenz verschiedener Strömungen akzeptiert? Wem gegenüber grenzt sich die offizielle katholische Welt ab und was toleriert sie noch? Von der Beantwortung dieser Frage würde ja auch abhängen, wie weit antisemitisches und chauvinistisches Gedankengut allgemeine gesellschaftliche Toleranz findet.

Michal Wachala, Verein Nigdy wiêcej: Ich möchte darauf hinweisen, daß in Polen die Literatur des sogenannten Negationismus (die die Leug–nung des Holocaust propagiert) allgemein zugänglich ist. Im Laufe des letzten Jahres sind zwei oder drei Bücher von David Irving erschienen, dem wichtigsten negationistischen Historiker. Diese Bücher werden im Buchhandel angeboten, sie sind gut aufgemacht, jeder kann sie erwerben. Zweites Beispiel: In Polen produziert ein gewisser Herr Edward Prus eine Unmenge von Büchern, 10-12 Titel jährlich, die Haß gegen Ukrainer schüren. Drittes Beispiel: Unlängst gab es eine Affäre mit einem Historiker der Oppelner Universität. Er brachte ein Buch heraus, in dem er die Ansichten westlicher Vertreter des Negationismus – u.a. David Irvings – zusammenfaßte und es unter den Studenten vertrieb. Ich kritisiere nicht in erster Linie, daß man solche Bücher überhaupt kaufen kann, sondern vielmehr, daß sie als wissenschaftliche Publikationen gelten. David Irvings Bücher werden im Fernsehen besprochen und man behandelt sie wie normale, glaubwürdige Quellen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Es gibt keinerlei Kritik an diesem Autor, nur Zustimmung. Die größte katholische Tageszeitung Nasz Dziennikäußerte sich sehr freundlich über Irving, sowie über den Negationismus. Letzteres möchte ich als einen Beitrag zur Frage des Zusammenhangs zwischen dem polnischen Katholizismus und dem Antisemitismus verstanden wissen.

Pawel Spiewak: Zu der Frage, ob der polnische Antisemitismus seine Spezifik hat, wie gefährlich er ist und wie das aus der kirchlichen Sicht aussieht: Es gibt in Polen den Jesuitenpater Stanislaw Musial. Er sagte u.a., das Aufstellen der Kreuze auf dem Kiesplatz in Auschwitz sei eine Äußerung der Feindseligkeit und nicht eine Verwirklichung der christlichen Idee. Er ist übrigens einer der ganz wenigen Priester, die sich mit der Meinung von Elie Wiesel solidarisieren. Elie Wiesel hatte vor zwei Jahren in Kielce gesagt, das Aufstellen von Kreuzen in Auschwitz raube den Juden das Recht, die Opfer des Holocaust auf ihre Weise zu ehren. Nachdem sich Pfarrer Musial in der oben zitierten Weise geäußert hatte, wurde ihm von der kirchlichen Hierarchie ein offizielles Auftrittsverbot auferlegt. In Zukunft sollten alle seine Äußerungen von der Kirche autorisiert werden. Wenn Kardinal Glemp meinte und meint, was er in Tschenstochau offen aussprach, daß die Weltpresse sich in jüdischen Händen befände und die Juden eine antipolnische Kampagne organisierten, dann ist das nichts anderes als das Wiederholen eines klassischen antisemitischen Klischees. Ich will nicht behaupten, alle Priester seien Antisemiten, aber es scheint mir, daß ein gewisses Unverständnis oder eine fehlende Sensibilität für dieses Thema Bestandteil der kirchlichen Lehre ist. Und das obwohl die katholische Kirche ein spezielles Dokument zu den polnisch-jüdischen Beziehungen veröffentlichte, in dem Antisemitismus als Sünde bezeichnet wird. Aber das Schreiben einer Erklärung ist eine Sache, historische Belastungen, feh-lende Sensibilität für die Problematik des Holocaust und Unverständnis gegenüber einer anderen als der katholischen Perspektive die andere.

Ich untersuche im Moment die Situation der Juden in Polen. Eine der Fragen lautet: Haben Sie antisemitische Angriffe erfahren und ist Antisemitismus in Polen Ihrer Meinung nach gefährlich oder nicht? 100% der Befragten antworteten, Antisemitismus sei in Polen eine drastisches Problem. Lediglich einige Personen waren bis jetzt keinen Angriffen, antisemitischen Äußerungen oder Beleidigungen ausgesetzt. Der Antisemitismus ist also tatsächlich eine Alltagserscheinung in Polen. Ich habe sogar den Eindruck, die Menschen in Polen wissen nicht, daß sie Antisemiten sind. Es ist sozusagen eine höhere Stufe des Antisemitismus. Man wiederholt gewisse Klischees und Pauschalisierungen, ohne zu wissen, daß man damit jemanden verletzt.

Bei den Kreuzen in Auschwitz handelte es sich nicht um ein Problem des Antisemitismus. Es resultierte eher aus Unverständnis. Die Polen begreifen nicht, daß die Juden auf einem Friedhof keine religiösen Symbole haben wollen.

Der polnische Antisemitismus ist nicht besonders aggressiv. Das Problem besteht darin, daß es mit Ausnahme ganz weniger Gruppen keine gesellschaftliche Verurteilung antisemitischer Einstellungen gibt. Man ist generell nicht der Meinung, Antisemitismus sei eindeutig falsch, eindeutig sündhaft, etwas, was man bekämpfen müßte. Es gibt andererseits auch keine “political correctness”, die in jeder Gesellschaft vorhanden sein muß, damit sie friedlich funktionieren kann. In der polnischen Geschichte hat es nie eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, mit dem polnischen Verhältnis zu den Juden gegeben. Es gibt vor allem Abwehr und ein Gefühl, die Juden seien undankbar. “Wir haben Euch geholfen, und Ihr mögt uns nicht.” Diese Einstellung ist in jeder öffentlichen Diskussion präsent. Es werden Generationen und viele Jahre vergehen müssen, bis sich daran etwas ändert. Man kann nur hoffen, daß es nicht zu Akten körperlicher Gewalt kommt. Im Gegensatz zur Mehrheit von Ihnen bin ich ein Minimalist, aber vielleicht bin ich auch ein Realist.

Noch einmal zur katholischen Kirche: Ein großer Teil der Priester versteht das Problem nicht oder ist geneigt, Positionen zu vertreten, die dem Antisemitismus nahe sind. Daher ist der Rundfunksender Radio Maryjanicht wegen des Antisemitismus gefährlich, sondern weil er die Autorität der Bischöfe untergräbt und einem radikalen religiösen Traditionalismus anhängt, der die Lehre des Papstes in Frage stellt. Vor zwei Jahren hatte ich den Eindruck, der Kirche drohe ein Schisma. Der Episkopat und Kardinal Glemp befürchteten, die Anhänger von Radio Maryjakönnten die Kirche verlassen. Aus diesem Grunde war die Kritik an diesem Sender sehr gemäßigt. Es war für die Kirche vor allem ein politisches Problem.

Grundsätzlich betrachte ich das Problem des Anti–semitismus in Polen als Realist. Ich würde von den Polen nicht allzu viel erwarten. Polen ist ein Land, aus dem fast alle Juden emigrierten. Sie reisten nicht wegen des Kommunismus aus, son-dern wegen des Antisemitismus, den die Kommunisten unterstützten. In den 70er und 80er Jahren gab es unter der Schirmherrschaft der Partei profaschistische Organisationen, wie z.B. die Organisation “Grunwald”, die bis heute besteht und in der brutalste, offen faschistische Verhaltensweisen beibehalten worden sind. Es gab zu Zeiten des Kommunismus eine legale Zeitung Rzeczywistosc(Die Wirklichkeit), es gab das Theater EREF. Dieser Name war zweideutig: einerseits waren das die Initialen des Schauspielers und Regisseurs Ryszard Filipski, andererseits heißt EREF auf Hebräisch Dämmerung. Gemeint war der Untergang des Judentums. Das war offen antisemitisch. Die institutionelle Kontinuität reicht also weiter zurück als bis zur Mitte der 80er Jahre. Es gibt in Polen keinen Juden oder keine Person jüdischer Abstammung, die nicht den Antisemitismus oder zumindest boshafte antisemitische Äußerungen persönlich erfahren hätte.

Zur Frage eines Zusammenhangs zwischen der Gewalt in den Stadien und der rechten Gewalt: Es gibt keinen Grund zu behaupten, die Gewalt in den Stadien müsse zur faschistischen Gewalt werden. Aber es gibt die Möglichkeit, daß die Sprache, in der sich auch die Gewalt in den Stadien äußert, die Sprache der Faschisten sein wird. Das ist zum Teil eine Frage des Kostüms. Aber wir sollten das eine mit dem anderen nicht gleichsetzen. Man sollte bei den Bewertungen zurückhaltend bleiben und sich dessen bewußt sein, daß es zwischen dem Rechtsradikalismus und dem Wiederholen verschiedener Dummheiten doch einen Unterschied gibt. Und es ist nicht Aufgabe der Polizei, die Zeitung Mysl Polskazu bekämpfen. Das ist keine polizeiliche, sondern eine erzieherische Aufgabe. Der Segen der Freiheit hat verschiedene Konsequenzen, u.a. gehören dazu auch derartige Einstellungen.

Zwischenruf aus dem Saal: Als Sie sagten, Primas Glemp sei Antisemit, war das wohl eine leichte Übertreibung.

Pawel Spiewak: Nein, das war keine Übertreibung. Ich habe mich zu dieser Frage auch in der rechten Zeitung Zyciegeäußert. Und ich werde es wiederholen. Die Äußerungen Kardinal Glemps hatten antisemitischen Charakter, oder können so interpretiert werden. Ich vermute, Kardinal Glemp war sich des Charakters seiner Äußerungen nicht völlig bewußt. Aber das ist keine Rechtfertigung für den Kardinal. Als Primas der katholischen Kirche in Polen trägt er die Verantwortung für das, was er sagt.

Zur Frage nach dem blinden Auge gegenüber der Rechten: Ich bin fest davon überzeugt, daß es der polnischen Rechten nicht gelungen ist, ein eigenes Gedankengut zu entwickeln, das eine Alternative zur Tradition der Nationalen Demokratie von Roman Dmowski darstellen könnte. Die polnische Rechte steckt nach wie vor in dieser Tradition und nur ein kleiner Teil läßt sich von konservativ-liberalen und nicht nationalen Ideen inspirieren. Das ist ein Drama der polnischen Rechten, das ist ihre – vielleicht unheilbare – Krankheit, denn nach 100 Jahren quasselt sie immer noch denselben Unsinn über Juden und Deutsche. Aber lassen Sie uns realistisch sein. Es bedarf der Zeit und neuer Menschen. In diesem Sinne sollte man gefaßter sein.

Rafal Pankowski: Ich stimme Pawel Spiewaks Bewertung der Äußerungen des Primas Glemp zu. Aber ich möchte davor warnen, das Verhältnis der katholischen Kirche in Polen zum Antisemitismus zu sehr zu vereinfachen. Man muß auch sehen, daß sich in der Kirche in den letzten Jahren viel getan hat, nicht unbedingt beim Primas selbst. Die Kirchenleute haben auch viel Gutes beim Abbau gewisser Stereotypen bewirkt, die es allerdings selbstverständlich immer noch gibt und die in der Kirche nach wie vor vertreten sind.

Ich möchte noch etwas zur angeblichen Spontaneität der Gewalt in den Stadien sagen. Sehr oft ist es eine Gewalt, die auf keine Weise ideologisch untermauert wird. Nichts desto weniger spielt sich alles in einem “Kostüm” ab, das man sehr leicht identifizieren kann, wenn man ein Fußballspiel der ersten Liga besucht. Da sieht man Transparente mit Aufschriften “White Power”, “Skinheads”. Das Kostüm ist sehr konkret. Es gibt Menschen, die imstande sind, diese spontane, gedankenlose Gewalt bewußt zu nutzen. Sie versuchen, die frustrierte Jugend für ihre politischen Organisationen anzuwerben. Die Organisation “Nationale Wiedergeburt Polens” (NOP) geht ganz bewußt so vor. Sie verteilt Flugblätter und vertreibt Zeitschriften in den Stadien und wirbt Fußballfans für ihre Reihen an. Es ist also nicht ganz so, wie Pawel Spiewak meinte, daß die Gewalt von Fußballfans und die Organisationen der radikalen Rechten zwei voneinander vollkommen unabhängige Probleme seien. Die aggressivsten Fans sind oft Angehörige der Kampfgruppen rechtsradikaler politischer Parteien.

Auch der “volkstümliche” Antisemitismus wird zum Teil organisiert. Nehmen wir die berühmten Kreuze auf dem Kiesplatz in Auschwitz. In den Medien wird diese Aktion oft als spontan, als Ausdruck des sogenannten volkstümlichen Antisemitismus dargestellt. Aber so völlig spontan ist diese Aktion nicht, sie wird auch organisiert. Im März 1998 fand in Kattowitz ein Treffen statt, auf dem das Komitee zur Verteidigung des Kreuzes gegründet wurde und die Entscheidung fiel, diese Aktion durchzuführen. Diejenigen, die sich dort trafen, leiten die Aktion bis heute und stammen aus rechtsradikalen Organisationen. Es handelt sich nicht um zufällige polnische Katholiken. Es sind Mitglieder der “Nationalen Partei – Vaterland”, des Vereins “Polen ist mein Vaterland” und der Organisation “Nationale Wiedergeburt Polens”. Der bekannteste von ihnen ist Kazimierz Swit. Vorsitzender des Komitees ist Jan Barula, derselbe, der vor einiger Zeit die Skinhead-De-monstration in Auschwitz organisierte. Es ist also nicht alles so spontan. Gewiß, was das Ausmaß der Unterstützung dieser Aktion betrifft, kann man vom volkstümlichen Antisemitismus reden. Die Grundlage des modernen Antisemitismus, besonders unter Jugendlichen, hat ebenfalls ihre aufklärbaren Ursachen. Sie resultiert selbstverständlich aus den in vielen Generationen tief verwurzelten Vorurteilen, aber dies alleine würde nicht ausreichen. Der Antisemitismus unter Jugendlichen wird geschürt, u.a. durch die Kassetten mit nationalistischer, antisemitischer, rassistischer Musik, die man sich verhältnismäßig ungehindert besorgen kann. Jemand produziert diese Kassetten und zwar aus politischen, nicht aus kommerziellen Beweggründen. Ein sehr gutes Beispiel eines solchen Organisators des Hasses ist Leszek Bubel, Herausgeber der Zeitschrift Tylko Polska(Nur Polen), die in ihrem Antisemitismus dem Stürmer ähnelt. Ich habe keine westliche Veröffentlichung gesehen, und ich kenne viele, die so antisemitisch wäre. Auch Leszek Bubel unterstützt übrigens die Aktion mit den Kreuzen in Auschwitz.

Zu Andrzej Lepper und den Straßenblockaden seiner Bauernbewegung: In einem internen Schreiben der “Nationalen Wiedergeburt Polens” konnte man genaue Anweisungen für die Mitglieder der Organisation finden, die bei den Blockaden mitmachen, wie sie mit den Bauern sprechen und ihnen erklären sollten, was der Grund der wirtschaftlichen Misere sei. Die Juden seien an allem schuld, bzw. genauer gesagt das Bankensystem, das die Juden kontrollieren etc. Diese Menschen versuchen, in die mehr oder weniger organisierten Bauerngruppen einzudringen und sie zu ideologisieren. Und wieder hat etwas, was als spontan und volkstümlich erscheint, seinen organisatorischen Hintergrund, der eindeutig und einfach identifizierbar ist.

Wer sind die Organisatoren? In den letzten Jahren ist das Niveau der Parteikader der radikalen Rechten wesentlich gestiegen. Anfang der 90er Jahre waren es junge, meist ungebildete und oft arbeitslose Menschen. Jetzt gehören oft Studenten oder Hochschulabsolventen diesen Organisationen an, also belesene und redegewandte Menschen, die imstande sind, ihre Arbeit auf ein höheres Niveau zu heben. Als Beispiel kann die Studentenzeitschrift Reakcja(Reaktion) dienen, die an der Universität in Warschau er-scheint. Sie ist kostenlos, hat eine hohe Auflage, ist gut aufgemacht, und wird von Menschen mit Hochschulbildung redigiert, die flink mit gewissen Euphemismen hantieren.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, daß wir meiner Meinung nach aufhören eine Gesellschaft zu sein, wenn wir auf all diese Er-scheinungen nicht reagieren, z.B. darauf, daß die Zeitschrift Tylko Polskadurch einen der größten Pressevertriebe (Ruch) in Polen angeboten wird und d.h. allgemein zugänglich ist.

Dietrich Schröder: Es wundert mich ein bißchen, welche Persönlichkeiten und Strömungen in Polen dem Rechtsradikalismus zugeordnet werden. Zum Beispiel der Bauernführer Lepper, der auch hier in Frankfurt/Oder, bzw. in Swiecko den Grenzübergang zusammen mit dreitausend Bauern blockiert hat. Solche Bauernproteste gelten im Westen als normal, als Interessenvertretung einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. In Polen wird gleich eine nationale Bedrohung daraus gemacht. Dies nur als Kommentar am Rande. Vielleicht könnte es uns Deutschen helfen, den polnischen Rechtsextremismus besser zu verstehen, wenn Sie noch etwas sagen würden zum Umgang mit Ausländern in Polen. Darin zeigt sich ja gerade die böse Fratze des Rechtsradikalismus in Deutschland. Wie sieht es damit in Polen aus?

Jacek Tyblewski, SFB 4 – Multi-Kulti: Ich möchte einen anderen Blickwinkel vorschlagen. In unseren Rundfunksendungen fragen wir unsere Gäste, die in Polen leben, aber nicht polnischer Herkunft sind, wie es ihnen in diesem Land ergeht. Ich möchte einen schwarzen Musiker zitieren, der in Warschau lebt: “Die Polen sind sehr tolerant, ich fühle mich sehr wohl bei meinen Freunden, aber ich fühle mich weniger sicher, wenn ich auf die Straße gehe. Wenn es dunkel wird, fahre ich in Warschau nicht mit der Straßenbahn.” Meine Frage betrifft den Blickwinkel solcher Menschen und ihre Situation. Wird in Polen über so etwas wie Zivilcourage, über individuelle (nicht nur gesellschaftliche) Verurteilung von Gewaltexzessen gesprochen. Ist das ein Thema einer öffentlichen Diskussion? Gibt es entsprechende Programme an den Schulen?

Susanne Lenz, Berliner Zeitung: Wer sind in Polen die Opfer rechter Jugendgewalt? Läßt sich die Situation in Polen mit der Situation in Ostdeutschland vergleichen? D.h. gibt es für Ausländer auch in Polen nur eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit?

Renate Marsch, dpa: Bisher hatte ich immer den Eindruck, daß der Rechtsradikalismus in Polen eher verbal ist, während in Deutschland die Ausländer auf der Straße zusammengeschlagen werden. Heute war hier aber von 20 Opfern der polnischen rechtsradikalen Gruppen die Rede. Wer sind diese Opfer? Handelt es sich um Opfer von Hooliganismus oder tatsächlich um Opfer rechtsradikaler Organisationen?

Burkhard Schröder: Es ist interessant, daß in Polen die christlich geprägte Alltagskultur eine Basis dafür ist, daß sich antisemitische Vorurteile über Jahrzehnte tradieren. In den neuen Bundesländern gibt es so gut wie gar keine religiöse Alltagskultur. Wir wissen, daß der Antisemitismus die Gemeinsamkeit aller rechten Bewegungen seit spätestens 1945 ist, aber es gibt offensichtlich zwei vollkommen unterschiedliche Voraussetzungen: in Polen ist es der sehr tief sitzende Katholizismus und in Deutschland gerade das Gegenteil. Und wo ist die Gemeinsamkeit?

Szymon Rudnicki: Erstens wollte ich vorschlagen, mit dem Begriff Faschismus vorsichtiger umzugehen. Nicht jeder Radikalismus (selbst wenn Kampfgruppen organisiert werden) ist Faschismus. Es müßten schon entsprechende ideologische Elemente vorhanden sein. Die Bauernbewegung von Lepper ist meiner Meinung nach z.B. keine rechtsradikale Bewegung, sondern vor allem eine populistische. Grundlage ihres Programms sind nicht Nationalismus oder Antisemitismus. Das sind nur Werkzeuge im politischen Kampf und nicht einmal die wichtigsten. Man greift darauf zurück, weil der Antisemitismus unter den Bauern eine endemische, traditionelle Erscheinung ist, die bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht.

Das zweite Problem ist das Verhältnis der katholischen Kirche zu den hier angesprochenen Geschehnissen. Für die Kirche ist der Antisemitismus nicht das wichtigste Problem. Zur Zeit geht es um eine viel wichtigere Sache, nämlich um das Er-scheinungsbild dieser Kirche, durch die sich ein Riß zieht. Man erkennt diesen Riß sogar in den Äußerungen einzelner Bischöfe. Der Antisemitismus kommt hinzu. Die Kirche läßt sich oft in etwas hineinmanövrieren. Es war die Rede von Primas Glemp und dessen unglücklichen Formulierungen in seiner Predigt vom August 1989, die später die radikale Rechte aufgriff und ausnutzte. Dann soll man aber auch bedenken, daß die polnischen Bischöfe etwa ein Jahr später einen Brief veröffentlichten, in dem sie den Antisemitismus verurteilten. Dieser Brief wurde in allen polnischen Kirchen verlesen. Natürlich zeigte er keine sofortige Wirkung. Zugleich aber verloren damit rechtsradikale Gruppen das Recht, zu behaupten, sie verteidigten die katholische Kirche, indem sie Antisemitismus verbreiten. Außerdem gibt es tatsächlich eine große Gruppe von Bischöfen, die den Nationalismus scharf verurteilt. Der Klerus ist, wie jede Gruppe, Ausdruck der Gesellschaft. Und es gibt auch viele Priester, die dem Nationalismus und Antisemitismus anhängen. Aber heute wird eine neue Generation von Priestern im Geiste des Vatikanischen Konzils und im Geiste der Ökumene ausgebildet.

Pawel Spiewak: Gewisse Organisationen folgen einer bekannten Strategie, indem sie offizielle Staatsstrukturen oder größere Parteistrukturen infiltrieren und strategisch wichtige Posten mit ihren Leuten besetzen. Das betrieb das National-Radikale Lager (ONR) und später PAX; so gingen die Kommunisten in der Volksfront vor. Die Infiltration ist ein wichtiges Element für die radikalen Parteien, denn allein sind sie nicht imstande, eine politische Rolle zu spielen. Rafal Pankowski erwähnte nicht, wer Leiter der letzten Wahlkampagne Lech Walêsas war. Zur allgemeinen Überraschung war es ein Herr Kowalski, Vorsitzender der National-Demokratischen Partei und Chefredakteur jenes Hetzblattes. Solche politisch radikalen Leute werden in hochrangigen Institutionen mit neutralen Aufgaben, wie z.B. im Gesundheits- oder Bildungswesen akzeptiert. Und darin sehe auch ich in der Tat eine Gefahr.

Für Professoren mag es wichtig sein, ob Andrzej Lepper als Populist oder als Nationalist zu charakterisieren ist. Mir reicht es, daß er sich einer nationalistischen und gewalttätigen Rhetorik bedient. Gewiß, wenn deutsche oder französische Landwirte im Stadtzentrum demonstrieren, ist das unangenehm. Wenn sie dabei gegen die EU-Ost-erweiterung protestieren, ist das sogar sehr unan-genehm, insbesondere für uns. In Polen sollte man allerdings dafür sorgen, daß die realen Probleme der Landwirtschaft im Prozeß des EU-Beitritts nicht ideologisch betrachtet werden. Ich halte den “Lepperismus” für gefährlich, weil die demokratischen Regeln nicht eingehalten werden, sondern Gewalt propagiert wird. Bisher hat kein polnisches Gericht Lepper zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Man hat Angst vor ihm. Deshalb kann Lepper immer leichter die Medien als Forum benutzen und seine scharfe politische Rhetorik erscheint zunehmend gerechtfertigt.

Wie verhalten sich die Polen gegenüber Ausländern? Ich kenne keine Umfragen zu diesem Thema. Ich weiß nur, daß ausländische Touristen in Polen kein Problem darstellen. Aus den mir bekannten Forschungen unter Studenten und Immigranten geht allerdings hervor, daß sich alle diejenigen, die “anders aussehen” in hohem Grade gefährdet fühlen. Für sie ist das ein Problem, wie es auch in der polnischen Gesellschaft ein Problem ist. Aber es gibt auch positive Beispiele: In einer Kleinstadt in der Nähe von Kielce wurde ein Afrikaner, der in Polen studiert hatte und Arzt geworden war, zum Stadtrat gewählt.

Zum Hooliganismus: Er wird von der Gesellschaft restlos verurteilt. Die Menschen haben Angst vor der Gewalt, egal, ob sie von Skinheads sind oder anderen Jugendlichen ausgeht. Sie fühlen sich ausgeliefert. Die Aufklärungsquote bei Straftaten ist dramatisch gesunken. Die Polizei arbeitet immer weniger effektiv, die Gerichte agieren immer schwerfälliger. Daher wächst in der Gesellschaft ein Gefühl der Hilflosigkeit.
Die Opfer der faschistischen Gewalt sind – meiner Meinung nach – zufällige Menschen. Abgesehen von ein paar Fällen, wie dem Angriff auf den deutschen LKW-Fahrer in Nowa Huta oder einige Angriffe auf Schwarze, ist die Aggression nicht gezielt.

Rafal Pankowski: Meiner Meinung nach unterscheidet sich die Lage in Polen nicht so sehr von der in Deutschland. Es gibt im Gegenteil Ähnlichkeiten. Die Opfer sind zum Beispiel Schwarze, Ausländer, auch Deutsche oder Zigeuner und Juden. Die Opfer sind nicht “zufällige Menschen”, denn die Aggression richtet sich gegen Personen, deren Lebensstil nach Meinung der rechtsradikalen Ideologen dem Muster eines sogenannten echten Polen nicht entspricht. Manchmal reichen ein anderer Haarschnitt, andere Kleider oder andere Ansichten aus. Es sind keine zufälligen Opfer und sie sind auch nicht lediglich Opfer von Hooliganismus. Die Überfälle sind sehr wohl auch ideologisch motiviert.

Michael Minkenberg, Europauniversität Viadrina: Mir ist hier ein Problem aufgefallen, das in der Rechtsradikalismusforschung generell immer wieder auftaucht, nämlich eine unklare Verwendung von Begriffen. Z. B. wird der Faschismus als Schlagwort eingeführt, der aber ganz konkrete historische Bezüge hat. Und es ist wichtig, daß man nicht alles mit diesem Begriff belegt, sondern klar differenziert. Im Zentrum der Diskussion steht hier der Begriff des Rechtsextremismus. Auch dieser Begriff ist problematisch, gerade wenn man Vergleiche über Landesgrenzen hinweg anstellt. In Deutschland gilt man als Rechtsextremer, sobald man vom Verfassungsschutz als solcher identifiziert wird. Zumindest ist das die staatliche Lesart, die in der öffentlichen Diskussion das Deutungsmonopol besitzt. Das gibt es so in Polen und andern Ländern nicht. Man muß aufpassen, daß man mit dem Begriff nicht automatisch eine Grenze zieht, die es vielleicht in der Realität gar nicht gibt, nämlich die Grenze zwischen Tolerieren und Handeln oder die Grenze zwischen rechts von der Mitte und Rechtsradikalen. Ich plädiere für die Bezeichnung Rechtsradikalismus, gerade um die Grauzone mit ins Blickfeld zu rücken. Um untersuchen zu können, wie weit der Rechtsradikalismus in die Gesellschaft hineinreicht, auch wenn sich eindeutig identifizierbare Gruppierungen, die sich offiziell dazu bekennen, nicht feststellen lassen. Soviel zur begrifflichen Seite dieser Diskussion, ein Problem, das wir wahrscheinlich hier nicht lösen können, das aber immer mitschwingt und zu Mißverständnissen und Verwirrung führt.

Ich möchte eine Frage aufwerfen, die bisher noch gar nicht angesprochen wurde. Anfang der 90er Jahre wurde in einer Umfrage in mehreren Ländern Osteuropas unter anderem danach gefragt, ob es Forderungen nach Rückgabe verlorener Territorien, also so etwas wie eine irredentistische Einstellung gibt? In Deutschland war die Frage der ehemaligen deutschen Ostgebiete in den 60er Jahren ein wichtiges Thema für die Entwicklung des Rechtsradikalismus. In Polen äußerten mehr als 40% der Befragten die Ansicht, es gebe Gebiete, die zu Polen gehören, die aber nicht Bestandteil des Staatsgebietes sind. Kann man sagen, daß es immer noch ein Ressentiment gibt, das in diese Richtung weist, oder hat sich das Problem der verlorenen polnischen Ostgebiete erledigt?

NN: Meine Frage schließt sich gleich an. In der letzten Zeit gab es zunehmend Entschädigungsforderungen von ehemals Vertriebenen. Es gab auch einen Bundestagsbeschluß, der diese mehr oder weniger verkleideten revisionistischen Forderungen unterstützte. Wird das in Polen als Bedrohung empfunden? Schürt das antideutsche Gefühle, zumindest bei rechtsextremen Gruppierungen? Meine zweite Frage bezieht sich auf das Verhältnis der Polen zur deutschen Minderheit? Gibt es Aversionen oder Aggressionen gegen die deutsche Minderheit?

Justus Werdin: Die Antwort auf die Frage, wie sich die potentiellen Opfer in Polen fühlen, hat mich unbefriedigt gelassen. Die geringe Sensibilität öffentlicher Einrichtungen, etwa der Kirche, korrespondiert ja mit einer Übersensibilität der potentiellen Opfer. Ich kenne diese Sensibilität potentieller Opfer gegenüber jeglichen gegen sie gerichteten Regungen aus Lebensbeschreibungen alter polnischer Juden. Und ich möchte von den Journalisten und Wissenschaftlern aus Polen wissen, ob sie auch die Untersuchungen und Publikationen z.B. der Juden in Polen, des Jüdischen Historischen Instituts und verschiedener Presseorgane berücksichtigen? Aus deren Publikationen könnte man doch viel erfahren über die Gefühle potentieller Opfer.

Helga Hirsch: Woher kommt eigentlich die Zurückhaltung der polnischen Diskutanten? Warum wird nicht – wie man bei uns sagen würde – radikal diskutiert? Sind Sie mißtrauisch gegenüber den Ergebnissen einer scharf und prononciert geführten Diskussion? Glauben Sie eher, die Dinge würden sich schon regeln? Wir verfallen in Deutschland sicher eher in das andere Extrem und diskutieren weiter und weiter. Aber bei einer jeden solchen Diskussion verändert sich die öffentliche Meinung ein bißchen. Gerade diese Erfahrung in der Diskussionskultur erlebe ich als etwas Positives. Die Gesellschaft einigt sich darauf, was sie für richtig hält, was zur political correctnessgehört. Wenn man dabei nicht schematisch oder dogmatisch vorgeht, eignet sich die Gesellschaft auf diese Weise ein Kategorienraster an, das hilft, gesellschaftliche Urteile herauszubilden. Könnte man sagen, daß es in Polen – im Unterschied zu Deutschland – einen Rechtsradikalismus ohne Ausländer gibt?

Burkhard Schröder: Das war gerade ein gutes Beispiel dafür, wie auch in Deutschland die Diskussion den Kernpunkt verfehlen kann. Es geht nicht um Ausländer. Dänische Müllkutscher werden z. B. nicht angegriffen. Ich bin auch nicht der Meinung, daß es in Deutschland so etwas wie eine Diskussionskultur gibt. Es herrscht im Gegenteil eine Kultur etwas nicht beim Namen zu nennen. Man tut so, als ginge es um Ausländer, in Wirklichkeit geht es um Rassismus und Antisemitismus. Ein Ausländer, der aussieht wie ein klassischer Deutscher bzw. ein klassischer Pole, wird eben nicht angegriffen.

Rafal Pankowski: Ich versuche, auf die Frage nach den verlorengegangenen polnischen Ostgebieten und die hinzugewonnenen Westgebiete in der Propaganda und in der Presse konkreter rechtsradikaler Organisationen zu antworten. Die radikalsten Organisationen fordern in ihren Programmen zwar die Rückgabe der Gebiete östlich des Bug. Aber auch sie betrachten das nicht als einen wichtigen Punkt ihres Programms bzw. ihrer alltäglichen Propaganda. Nur selten findet man einen Beitrag zu diesem Thema in den Parteiblättern. Für viel wichtiger halte ich allerdings die Frage nach der Haltung gegenüber jenen früher deutschen Gebieten, die nach dem Kriege Polen zugesprochen wurden, also auch nach der Haltung gegenüber möglichen deutschen Entschädigungsforderungen. Dieses Thema wurde von den verschiedensten Gruppen der radikalen Rechten sofort aufgegriffen. Man richtete sich an die Bewohner der polnischen Westgebiete und sprach von der deutschen Bedrohung. Insbesondere die Nationaldemokratische Partei nutzte die Frage einer möglichen Entschädigung aus und spielte die “deutsche Gefahr” hoch.

Pawel Spiewak: In Oberschlesien gibt es das Problem der Menschen mit vielen Identitäten. Viele der dort lebenden Menschen haben eine starke schlesische Identität, sie möchten ein wenig Schlesier, ein wenig Deutscher und ein wenig Pole sein. Sie möchten das ganze Erbe in sich vereinen. Aber man zwingt sie, eine Wahl zu treffen, entweder sollen sie polnisch oder deutsch sein. Der Versuch, die schlesische Nationalität amtlich zu registrieren, schlug fehl. In diesem Sinne gibt es kein Verständnis für eine mulitikulturelle Erscheinung oder Einstellung. Dennoch halte ich das nicht für ein großes gesellschaftliches Problem.

Braucht Polen ein Gesetz, daß das Verhältnis zu den nationalen Minderheiten kodifiziert? Seit einigen Jahren arbeitet das Parlament an einem solchen Gesetz. Unter anderem steht in dem Gesetzentwurf, daß man den nationalen Minderheiten besondere Privilegien bei den Parlamentswahlen zugestehen sollte und daß innerhalb der staatlichen Verwaltung auf der Wojewodschafts-ebene die Institution eines Sprechers der nationalen Minderheiten eingeführt werden sollte. Die Mehrheit der Politiker versteht dieses Gesetz überhaupt nicht. Sie gehen davon aus, daß vor der Verfassung alle gleich sind und es keinen Grund gebe, irgendwelche Ausnahmen für die nationalen Minderheiten zu machen. Die Menschen begreifen nicht, daß es Diskriminierung geben könnte, wenn doch alle gleich sind. Die Frage stellt sich allerdings gegenüber den Weißrussen und Ukrainern viel schärfer als gegenüber den Deutschen. Das negativste polnische nationale Stereotyp trifft die Ukrainer und die Zigeuner.

Zur Frage nach den verlorenen Gebieten. Von den rechtsradikalen Gruppierungen abgesehen, greift niemand dieses Thema auf, einschließlich der politischen Exilorganisationen. Das bedeutet aber nicht, daß es ein Tabuthema ist, oder daß die Frage im gesellschaftlichen Bewußtsein nicht existierte. Sie äußert sich manchmal in der Umgangssprache, wenn z.B. vom “polnischen Lemberg” die Rede ist. Niemand behandelt jedoch die Rückgabe der verlorenen Gebiete als ein reales politisches Ziel, obwohl die Mehrheit der Polen sich dessen bewußt ist, daß Polen eine Art Frankenstein Europas darstellt, ein Land, das von Osten nach Westen verschoben wurde und dessen gesellschaftliche und kulturelle Geographie dadurch sehr weitgehend verändert wurde.

Zur Frage nach der Notwendigkeit einer scharfen öffentlichen Diskussion. Ja, sie ist nötig, aber ich glaube nicht an ihre Wirksamkeit. Die Gegenseite wiederholt dieselben Argumente. Solche Diskussionen sind hoffnungslos, man kann sie voraussehen. Egal, was ich sage, werde ich hören: “Sie mögen uns nicht.” Oder: “Wir haben ihnen doch geholfen.” Oder: “Während des Krieges konnte man den Juden nicht wirksamer helfen, weil die Deutschen die Polen töteten, die Juden versteckten.” Auch die Frage der Beteiligung von Juden an der kommunistischen Bewegung ist im Grunde genommen nicht diskutierbar, weil es keine empirischen Daten gibt. Und trotzdem heißt es immer und immer wieder: Es waren die Juden, die im kommunistischen Apparat Gewalt gegen Polen anwandten. Es war nicht die Gewalt der Kommunisten gegen die Polen, sondern die Gewalt der Juden gegen die Polen. Es würde sich lohnen, den Schwerpunkt der Diskussion zu verlagern und die Authentizität, die Glaubwürdigkeit und die Größe der jüdischen Tradition in Polen darzustellen, zu zeigen, wie aktiv und lebendig die jüdische Tradition war, wie all diese Strömungen die polnische Kultur beeinflußt haben, welchen Platz die politischen Parteien einnahmen etc. Mit anderen Worten, es würde sich lohnen eine andere Geschichte Polens zu schreiben, anstatt diesen hoffnungslosen Streit mit den Antisemiten zu führen.

Published 22 February 2001
Original in Polish
Translated by Ewa Czerwiakowski, Ruth Henning
First published by Transodra

Contributed by Transodra © Pawel Spiewak / Ewa Czerwiakowski / Ruth Henning / Transodra / Eurozine

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