Der Wandel von einer Zivil- in eine Kriegsgesellschaft
Pearl Harbor hat Amerika stark verändert. Der Wandel von einer Zivil- in eine Kriegsgesellschaft beruhte aber keinesfalls nur auf den hehren Ideen und vorbildlichen Idealisten die nun gerne angeführt werden. Vielmehr lagen Ökonomie und ein Politikmodell wechselseitiger Verschränkungen der neuen Ordnung von Rüstung und ständiger Bereitschaft zugrunde, schreibt Bernd Greiner.
Ich sehe etwas Schlimmeres kommen als Krieg. Ich bin sicher, daß der nächste Krieg uns von Grund auf verändern wird… .Mehr Macht in Händen der Regierung, weniger auf seiten der Öffentlichkeit. Davor habe ich Angst. Wenn das erst einmal angefangen hat, dann ist es nicht wieder rückgängig zu machen.
Gore Vidal1
Am 7. Dezember 1941, einem Sonntagmorgen kurz vor acht Uhr, nahmen 360 japanische Kampfflugzeuge den US-Marine- und Luftwaffenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii anderthalb Stunden unter Beschuß, töteten 2476 Menschen, hauptsächlich Soldaten, versenkten vier Schiffe der amerikanischen Pazifikflotte, beschädigten 16 weitere schwer und zerstörten 188 Flugzeuge der US-Streitkräfte. Wenn sich Geschichte überhaupt wiederholt, dann entweder als Tragödie oder als Farce. Am 11. September 2001 schien sie sich als Tragödie zu wiederholen. Wenige Wochen vor dem 60. Jahrestag des japanischen Überfalls auf Pearl Harbor zertrümmerten islamistische Terroristen nach der Art von Kamikazefliegern das World Trade Center in New York City und einen Teil des Pentagon in Washington, D. C. Wie am 7. Dezember 1941 kam die Attacke buchstäblich aus heiterem Himmel, wie damals wurde eine hauptsächlich mit sich selbst und ihren innenpolitischen Problemen befaßte Bevölkerung aus ihren isolationistischen Träumen gerissen. Indirekt und für den größten Teil des Publikums kaum merklich, griff auch Präsident George W. Bush die Pearl Harbor-Lektion auf. Seine erste längere Rede nach dem 11. September war stilistisch und im Ton bewußt so gehalten wie die berühmte Ansprache Franklin D. Roosevelts vom Dezember 1941. Ohne den großen Vorgänger wörtlich zu zitieren, erklärte Bush den 11. September ebenfalls zu einem Tag der Schande – und zum Beginn eines langjährigen Kreuzzuges gegen die Wurzel des Übels.
Es sind freilich nicht nur diese vordergründigen Gemeinsamkeiten, die einen Rückblick auf Pearl Harbor nahelegen. Der 7. Dezember 1941 ist vielmehr das Symbol für einen grundsätzlichen Wandel der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik im 20. Jahrhundert. Man kann noch weiter gehen und sagen: Dieser Tag steht für den Wandel von einer Zivil in eine Kriegsgesellschaft. Erst wenn wir den Umbruch der frühen 40er Jahre verstanden haben, können wir uns einen Reim auf die Art und Weise machen, wie die Vereinigten Staaten heute auf weltpolitische Herausforderungen reagieren – und daß wir diesen Reaktionen mit abgedroschenen Begriffen wie “Militarismus” nicht auf die Spur kommen. Nicht zuletzt zeigt eine Beschäftigung mit Pearl Harbor, warum die Vereinigten Staaten bis heute mit der Erbschaft des Zweiten Weltkriegs beschäftigt sind.
Historiker werden sich ärgern, aber vielleicht sollte es gerade deshalb gesagt werden: Die klügsten Beobachtungen über den japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dessen Folgen für die USA finden wir in einem Buch, das sich nur am Rande mit Pearl Harbor beschäftigt. Es stammt überdies nicht aus der Feder eines Fachmanns, sondern eines historisch bewanderten Schriftstellers. Gemeint sind Gore Vidal und sein im Jahr 2000 veröffentlichter Roman The Golden Age. Wie in früheren Sitten- und Sippengemälden – etwa Empire, 1876, Burr oder Lincoln – führt Vidal auch hier seine Leser in ein Labyrinth von Kabale, Liebe und politischen Affären. Washington, D. C., erscheint anfangs wie eine jener Städte des Südens, die sich der einschläfernden Schwüle eines langen Sommers willenlos ergeben haben. Vom heraufziehenden Gewitter nimmt kaum jemand Notiz. Entsprechend tief saß der Schock am Morgen des 7. Dezember.
Der “Day of Infamy”, von dem Präsident Franklin D. Roosevelt kurz darauf sprach, ist wie kaum ein anderes Ereignis im historischen Gedächtnis einer ansonsten geschichtsvergessenen Nation präsent. Gore Vidal geht auf eine paradoxe Weise damit um. Wenn seine Protagonisten über Pearl Harbor sprechen, dann eher beiläufig. Dennoch wirkt der Roman über weite Strecken wie ein Palimpsest mit einer untergründig deutlichen Handschrift. In ihr sind Schlüsselfragen notiert, die jedem Historiker als Leitfaden dienen können.
Die nächstliegende Frage wird noch immer mit einem erstaunten Unterton vorgetragen oder angesichts der heutigen Machtfülle der USA erst gar nicht gestellt: Wie war es möglich, daß die Vereinigten Staaten nach Pearl Harbor nur zwei Jahre brauchten, um einen Zweifrontenkrieg erfolgreich zu führen? Viele Zeitgenossen hielten dergleichen für ausgeschlossen, darunter auch – sieht man von Admiral Isoroku Yamamoto ab – die militärischen Führer Japans, die den Angriff auf Pearl Harbor wohl nur in dem Glauben wagten, die Amerikaner könnten oder wollten einen langjährigen Waffengang nicht auf sich nehmen.
Washington stand militärisch in der Tat miserabel da. Gemessen am Regierungshaushalt waren die Militärausgaben von 28,3 Prozent im Jahr 1913 auf 15,5 Prozent im Jahr 1940 gefallen und machten damit gerade zwei Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Damit ließ sich zwar die größte Kriegsflotte der Welt finanzieren, aber nur um den Preis einer unterversorgten und im weltweiten Vergleich auf dem 18. Platz dümpelnden Armee. Die Luftwaffe mit ihren 1700 veralteten Maschinen kam für einen solchen Vergleich noch nicht einmal in Frage. Noch im Jahr 1940 lehnte der Kongreß eine vom Weißen Haus geforderte Erhöhung des Rüstungsetats um 500 Millionen Dollar ab.2
Seit Ende der 30er Jahre hatte es überdies den Anschein, als könnte sich die Opposition mit ihrem Programm eines “immerwährenden Isolationismus” durchsetzen. Roosevelts wiederholtes Scheitern im Kongreß gehört wie diverse Meinungsumfragen zu den vielzitierten Belegen. Selbst nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR sprach sich nur eine kleine Minderheit der Amerikaner für eine militärische Intervention in Europa aus. Hinter dieser Abwehrhaltung steckt weit mehr als die üblicherweise zitierte und von Europäern gern hochmütig kommentierte Nabelschau eines provinziellen Amerika. Die vermeintlich ignoranten Isolationisten hatten nämlich eine klare Vorstellung von dem politischen Preis, den demokratische Gesellschaften für ihre Kriege zahlen. Aus ihrer Sicht hatte gerade der Erste Weltkrieg gezeigt, daß die physische und psychische Erschöpfung am Ende eines langen Kriegs auch an die politische Substanz einer demokratischen Verfassungsordnung ging oder diese gar auszuzehren drohte. In diesem Sinne kann der Isolationismus der 30er Jahre auch als aufgeklärter Antimilitarismus gelesen werden.
Bekanntlich zogen die Isolationisten in der Auseinandersetzung mit Präsident Roosevelt den kürzeren. Und nach vier Jahren eines “totalen Kriegs” hatte sich die politische Landschaft der Vereinigten Staaten von Grund auf verändert. Anders als in der Vergangenheit scheiterte der Versuch einer umfassenden Demobilisierung. Statt dessen wurde die Forderung nach einer ständigen Bereitschaft zum Krieg laut – nach einer “permanent preparedness”; statt dessen mehrte das Militär sein öffentliches Ansehen und sicherte sich eine historisch beispiellose Machtposition. Und im Unterschied zu den frühen 20er Jahren haftete großen Rüstungsfirmen nicht das Odium von Krisen- und Kriegsgewinnlern an. Sie konnten sich im Gegenteil mit der Gloriole vorbildlicher Patrioten schmücken. Die Rasanz dieses Wandels war selbst für eine in dauernder Unruhe befindliche Gesellschaft wie die amerikanische verblüffend. Kaum zehn Jahre hatten ausgereicht, um das Erbe eines 200 Jahre währenden “militärischen Sonderwegs” aufzubrauchen. Innerhalb einer Dekade war aus einer Gesellschaft, die um ihrer politischen Sicherheit willen stets auf ein institutionell verfestigtes Militärwesen verzichtet hatte, eine Gesellschaft geworden, die sich nur noch hinter dem Rücken starker militärischer Institutionen sicher wähnte. In anderen Worten: In der Zeitspanne eines Jahrzehnts können wir die politische Um- oder Neugründung der Vereinigten Staaten beobachten: weg von einer Zivilgesellschaft ohne starken Staat und Militär und hin zu einem vom Militär mitbestimmten, wenn nicht gar dominierten politischen System. Wie diese Transformation vonstatten ging, gehört zu den aufregendsten und merkwürdigerweise am wenigsten erforschten Kapiteln der modernen amerikanischen Geschichte.
Daß der Schock über Pearl Harbor zeitlich am Anfang dieser Entwicklung steht, ist unbestritten. Ob sich damit die Hintergründe der besagten gesellschaftlichen Transformation hinreichend erklären lassen, ist freilich eine ganz andere Frage. Vielleicht bedurfte es nur noch eines Anstoßes, eines dramatischen Zwischenfalls, um die gesellschaftliche Umgründung der USA auf den Weg zu bringen. In diesem Fall hätten wir davon auszugehen, daß die notwendigen Voraussetzungen im stillen längst herangereift waren und den Boden für eine zwar nicht zwangsläufige, aber mit außergewöhnlicher Dynamik ausgestattete Entwicklung bereitet hatten.
Freiwillige
Der Historiker David M. Kennedy widmet dieser Überlegung in seiner 1999 publizierten Studie Freedom from Fear. The American People in Depression and War, 1929 1945 breiten Raum. Im Grunde können wir sein Buch als Abhandlung zu einer “politischen Ökonomie der Angst” lesen. Demnach ist das Geheimnis von Amerikas Hochrüstung in der Zeit der Großen Depression zu suchen. In einer Zeit also, die ihren Namen im buchstäblichen Sinne des Wortes verdient hat. Wer die Große Depression – so Kennedys implizite These – nicht verstanden hat, wird auch vom Rest amerikanischer Geschichte im 20. Jahrhundert nichts verstehen.3
Schon ein flüchtiger Blick auf die einschlägigen Statistiken belegt, worum es geht. Diese brechen bis heute alle Rekorde: Jede zweite Maschine in der Automobilindustrie, dem Stolz der amerikanischen Industriekultur, mußte abgeschaltet werden, zeitweise war die Hälfte aller Amerikaner im arbeitsfähigen Alter un- oder unterbeschäftigt. Schätzungen zum “lost output” in den 30er Jahren besagen, daß 35 Millionen Eigenheime und 179 Millionen Autos – oder der Gegenwert von 716 000 Schulen – nicht gebaut werden konnten. Ländliche Regionen im Südosten und Mittleren Westen des Landes wurden überdies von einem beispiellosen ökologischen Desaster heimgesucht, als wochenlange Sturmböen die durch Monokulturen geschundenen Ackerböden von Oklahoma, Arkansas und Texas buchstäblich wegbliesen. Infolge lückenhafter empirischer Erhebungen haben wir keine genauen Angaben über die Arbeitslosenrate auf dem Land und mithin in Gebieten, wo damals noch 44 Prozent der Bevölkerung lebten. Man tut daher gut daran, die offiziellen Angaben als Minimum anzusetzen. Dieses lag in den Jahren 1939 und 1940 zwischen 15 und 17 Prozent. Will heißen: Zwischen 8,5 und 9,5 Millionen Menschen waren ohne Lohn und Brot. Niemals zuvor hatten die Vereinigten Staaten eine derart tiefgreifende und hartnäckig lange Erschütterung durchleben müssen.4
Die psychischen und moralischen Verwüstungen, die sich hinter diesen und ungezählten anderen Daten verbergen, sind – zumal aus einer europäischen Perspektive – kaum zu ermessen. Die Interviewpartner, die Studs Terkel vor über 30 Jahren für seine Geschichte der Großen Depression zusammenführte, bestätigen dieses Urteil. Bis 1929 hatte das Wort “Krise” oder “Scheitern” keinen Platz in der kulturellen Folklore des Landes. Eines Landes, das am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Westens zwar an seine geographischen Grenzen gestoßen war, aber in den Jahrzehnten danach durch die Aufnahme von mehr als 20 Millionen europäischer Einwanderer – mehr als jemals zuvor – seine Vitalität eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Von den 2,7 Millionen Einwohnern Chicagos in den 20er Jahren beispielsweise war ungefähr ein Drittel in Übersee geboren – Menschen, für die Amerika nie nur ein Land, sondern stets auch ein Lebensentwurf bedeutete. Man kann sich kaum eine Gesellschaft vorstellen, die für einen Rückschlag in der Art der Großen Depression psychisch schlechter hätte vorbereitet sein können – eine Gesellschaft, in der selbst die tiefen Spaltungen zwischen Klassen, Rassen und Geschlechtern noch als Potential einer gewinnträchtigen Zukunft gedeutet wurden. Nun aber, gleichsam über Nacht, schien der Traum vom ewig währenden Fortschritt und garantierten sozialen Aufstieg an ein unwiderrufliches Ende gekommen zu sein. Resignation, Passivität und Sprachlosigkeit lähmten einen einst vor Energie schier berstenden Alltag. Was sie in all den Jahren eigentlich gemacht hätten, fragte Studs Terkel ein älteres Ehepaar. “Herumgesessen”, lautete die einfache, aber verallgemeinerungsfähige Antwort. Die Krise der Wirtschaft war also wesentlich mehr als nur eine Frage der Ökonomie. Sie wurde als Scheitern einer gesellschaftlichen Utopie gedeutet – als Scheitern der Vision, an die Stelle einer Gesellschaft von “have and have nots” eine Gemeinschaft von “haves and will haves” zu setzen. Im Umkehrschluß folgt daraus, daß in den späten 30er Jahren die Bereitschaft herangereift war, jeden sich bietenden Strohhalm zu ergreifen. Ein aus Verzweiflung geborener Wille zur Selbstbehauptung und Selbsterneuerung war die Kehrseite der allfälligen Depression. Im militärischen Jargon ausgedrückt könnte man auch von einem Verlangen nach kollektiver Selbstmobilisierung sprechen.5
Erstmals seit dem Bürgerkrieg wurde der Ruf zu den Waffen daher nicht als unamerikanische Freiheitsberaubung denunziert. Im Gegenteil. Es klang wie eine lang ersehnte Befreiung, als Präsident Franklin D. Roosevelt am 5. Januar 1942, vier Wochen nach Pearl Harbor, vor den Kongreß trat und um die Bewilligung eines exorbitanten Rüstungsprogramms bat: Innerhalb von zwei Jahren sollten 185 000 Flugzeuge, 120 000 Panzer und 55 000 Flugabwehrgeschütze vom Band rollen. Dahinter standen selbstredend die absehbaren Erfordernisse eines Zweifrontenkriegs. Aber Roosevelt hatte auch und nicht zuletzt – die Tonlage seiner öffentlichen Reden seit 1940 belegt es – die Innenpolitik im Blick. Das Ziel, einen allen anderen Kombattanten weit überlegenen Militärapparat aufzubauen, war Balsam auf die Seele einer schon lange vor Pearl Harbor zutiefst verunsicherten Nation.6
Führende Industrielle zeigten sich von Roosevelts Ruf zu den Fahnen begeistert. “Let’s volunteer” wurde zur inoffiziellen Parole ihrer Selbstverpflichtung. Unternehmer, die noch während des Ersten Weltkriegs zur Rüstungsproduktion hatten gezwungen werden müssen und durch ihre grundsätzliche Aversion gegen jede Art des staatlichen Dirigismus bekannt waren, boten nunmehr ihre Dienste freiwillig an, übertrafen sich gar gegenseitig in ihren Versprechungen – als wollten sie auf diesem Weg zu ihrer angestammten Rolle der impulsgebenden Pioniere des Landes zurückkehren. Die Kriegskarrieren des Schiffsmagnaten Henry Kaiser und des damals 78jährigen Henry Ford stehen stellvertretend für diesen Anspruch. Ihre Werften und Flugzeugfabriken produzierten Rüstungsgüter in ungeahnten Ausmaßen. In Willow Run zum Beispiel, der gigantischen, 900 Hektar großen neuen Fabrik von Ford im Südwesten Detroits, lief im Jahr 1944 alle 63 Minuten ein neuer B-24-Bomber vom Fließband. Zugleich wurden diese Industrieanlagen als symbolische Orte inszeniert – die Rede war vom “Grand Canyon der Maschinenwelt” – und waren gleichsam als Botschaft an sich selbst wie an den Rest der Welt gedacht. Als Botschaft nämlich, daß der “American Way of Capitalism” kraft seiner traditionellen Tugenden und vermittels revolutionierter Produktionstechniken den Kampf gegen die Große Depression gewonnen und sich wieder einmal selbst neu erfunden hatte.7
“Let’s volunteer” klang auf seiten der Arbeitnehmer erst recht wie ein zukunftsträchtiges Versprechen. Wenige Monate nur, und das ganze Land schien vom Fieber eines neuen Aufbruchs gepackt. Ungefähr 15 Millionen Amerikaner wechselten auf der Suche nach Rüstungsjobs ihren Wohnort, acht Millionen zog es gar in einen anderen Bundesstaat. Von der Westküste bis nach Oregon und Nevada boomte die “new economy” mit ihren Arbeitsplätzen für die von der Großen Depression am härtesten getroffenen Gruppen: junge Arbeiter unter 30 Jahren, Un- oder Angelernte, Überflüssige aus der Landwirtschaft. Im Unterschied zu England war eine staatliche Regulierung des Arbeitsmarktes daher nicht vonnöten. Wenn überhaupt, wurde sie zur Verteilung überzähliger Bewerber in Erwägung gezogen. In anderen Worten: Die Rüstungswirtschaft vereinte soziale Klassen, Gruppen und Schichten in einem Wettstreit um eine Erhöhung des Sozialprodukts und entzog dem politischen Kampf um dessen gerechte Verteilung den Boden. Wie Gewerkschaften und Bürgerrechtsorganisationen in dieser Zeit zu sozialen Maklern der Kriegsökonomie wurden, gehört zu den interessantesten Kapiteln der damaligen amerikanischen Rüstungspolitik.8
Prediger
Präsident Franklin D. Roosevelt ging zu Recht der Ruf voraus, ein gutes Gespür für die Stimmungen seiner Landsleute zu haben und eine noch bessere Gabe zu charismatischen Auftritten. Anhand seiner großen Reden seit 1933 können wir wie unter einem Brennspiegel beobachten, wie sich vor dem Hintergrund der Großen Depression und stimuliert durch die in Asien und Europa heraufziehende Kriegsgefahr eine “language of mobilization”, eine Rhetorik der nationalen Einheit und schließlich der Verpflichtung zum Krieg, herauskristallisierte, die hinsichtlich ihrer Tonlage wie Metaphern weit über den Tag hinaus reichte und nicht zufällig George W. Bush im September 2001 zur Vorlage diente.
“Sicherheit” und “Freiheit von Furcht”: Diese Begriffe bildeten das semantische Leitmotiv der Rooseveltschen Appelle. Sicherheit der Arbeitsplätze, der Märkte, der Finanzwelt, Sicherheit in der Lebensplanung – selbst der traditionelle Entwurf amerikanischer Freiheit, der bekanntlich die Bereitschaft zum Risiko höher als alles andere veranschlagt und im Grunde eine Aussöhnung mit fortwährender Unsicherheit reklamiert, wurde in diesem Sinne umdefiniert. Amerika bietet Sicherheit, so die Rede, weil es frei ist, und diese Freiheit verlangt nach uneingeschränkter Sicherheit. Der besondere Akzent lag auf “uneingeschränkt” – ein Adjektiv mit weitreichenden Implikationen. Denn wie kein anderer vor ihm, Woodrow Wilson und Theodore Roosevelt eingeschlossen, verklammerte Franklin D. Roosevelt die innen- und außenpolitischen Dimensionen von Sicherheit. “Es kommt die Zeit im Leben der Menschen, da sie sich nicht allein auf die Verteidigung von Haus und Hof vorbereiten müssen”, so der Präsident in seiner Ansprache an die Nation vom 4. Januar 1939, “sondern auf die Verteidigung der religiösen und humanitären Fundamente, auf denen ihre Kirchen, ihre Regierungen und ihre Zivilisation gründen. Die Verteidigung der Religion, der Demokratie und des guten Einvernehmens unter den Nationen sind allesamt Teil desselben Kampfes.”9
Religion – Demokratie – Zivilisation: drei Koordinaten eines Politikmodells, das auf wechselseitiger Verschränkung oder der Verflüssigung traditionell scharfgezogener Grenzlinien beruht. Innenpolitik wird zu einem integralen Bestandteil der Außenpolitik und umgekehrt, Militärstrategie ist von Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr zu trennen, kulturelle Identität wird an eine auch jenseits der eigenen Grenzen zu wahrende Sicherheit gekoppelt. Die Logik des einen definiert die Agenda des anderen, Sicherheit ist nur als unteilbare vorstellbar. Damit hatte Roosevelt eine auf die “Great Depression” und die Bedürfnisse militärischer Mobilisierung zugeschnittene Sprache gefunden. Zugleich leitete er eine nachhaltige Abkehr vom Denken der Gründerväter in die Wege – weg von der bei George Washington und Thomas Jefferson in Innen und Außen getrennten Ordnungswelt und hin zu einem Modell der “totalen Politik”. Binnen weniger Jahre firmierte diese Politik unter dem Begriff der “national security” – der treffendste Begriff von allen, bringt er doch zum Ausdruck, daß die Integration einer sozial tiefgespaltenen Nation auf das Instrument des Militärischen fortan nicht mehr verzichten kann.
Im Rückblick müssen wir feststellen, daß die Rooseveltsche Rhetorik “universeller Sicherheit” den Beginn einer politischen Um- oder Neugründung der Vereinigten Staaten markiert. Sie implizierte eine dramatische Aufwertung militärischen Denkens, bereitete – ironischerweise entgegen der Intention ihres Schöpfers – der Strategie des Kalten Kriegs wie letztlich auch dem militärisch verengten Krisenmanagement zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Boden. Von einer zwangsläufigen Entwicklung kann nicht die Rede sein, wohl aber von einer in der Dynamik der Großen Depression angelegten Weiterung.
Noch im Vorfeld der Novemberwahlen 1940 hatte es den Anschein, als würde Roosevelt mit seinem großen Wurf einer neuen Sicherheitspolitik scheitern. Zwar hatte das Land allen negativen Wirtschaftsdaten zum Trotz neuen Mut gefaßt; einige Beobachter glaubten sogar, einen wieder erwachten Patriotismus und Gauben an den “American Way” ausmachen zu können. Aber auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik gaben nach wie vor die Isolationisten den Ton an. Meinungsumfragen zufolge fanden sie ausgerechnet in den Reihen der Arbeiterschaft, dem Rückgrat der innenpolitischen “New Deal”-Koalition des Präsidenten, den größten Zulauf. Die außenpolitisch Roosevelt gewogenen Wähler der städtischen Mittelklasse waren ihnen gegenüber eine Minorität. Folglich und unter dem Eindruck der isolationistischen Meinungsführerschaft im Kongreß fürchteten die Granden der Demokratischen Partei um die Wiederwahl ihres Präsidenten. “Es ist einfach schrecklich”, hatte dieser schon Jahre zuvor gesagt, “die Führung übernehmen zu wollen und dann bei einem Blick über die Schulter zu bemerken, daß keiner hinter einem ist.”10
Es waren ausgerechnet die Republikaner, die in dieser Situation Roosevelts Präsidentschaft retteten – indem sie sich sein Verständnis von “national security” zu eigen machten. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte Mitte der 30er Jahre eine neue Generation die Spitzenpositionen in der “Grand Old Party” erobert. Eine Generation, die Amerikas Interessen nicht allein in der westlichen Hemisphäre, sondern auch jenseits des Atlantik und Pazifik mit Nachdruck durchsetzen wollte und in der durch den Ersten Weltkrieg bedingten Schwächung Europas eine einmalige Chance sah. Im Sommer 1940 nutzten diese “Internationalisten” den Schock über die französische Kapitulation vor den Nazis und nominierten ihr Zugpferd Wendell Willkie zum Präsidentschaftskandidaten. Damit war Außen- und Sicherheitspolitik als kontroverses Thema des Wahlkampfes vom Tisch, die zahlenmäßig noch immer starken Kritiker hatten über Nacht kein nationales Forum mehr. Wenige Wochen später drückte sich diese Wende mit der Verabschiedung des Gesetzes zur partiellen Wehrpflicht bereits im Abstimmungsverhalten des Kongresses aus. Eine große außen- und sicherheitspolitische Koalition hatte ihre erste Feuerprobe bestanden. Daraus sollte sich imLaufe der Jahre jenes Modell des “bipartisanship” entwickeln, das gerade in Krisenzeiten amerikanische Politik fundiert und ihr eine unvergleichliche Stabilität wie Beweglichkeit verleiht.11
Ohne die Schockwirkung von Pearl Harbor schmälern zu wollen, läßt sich daher sagen: Die bereits vorher geschmiedete große Koalition aus Demokraten und Republikanern war die politisch entscheidende Voraussetzung für Amerikas Eintritt in den Krieg. Mehr noch: Sie begründete die Bereitschaft, diesen Krieg als totalen Krieg zu kämpfen. Und ihn mit der Parole des “total victory”, des totalen Sieges, zu führen. “Total victory”, noch 1940 eine unvorstellbare politische Semantik, wurde seit dem Winter 1941 aus unterschiedlichen Gründen zwar, aber so doch von allen politischen Fraktionen des Landes als Kriegslosung akzeptiert – von Isolationisten und klassischen Antimilitaristen, erst recht aber von den Liberalen. Daß damit ein Geist aus der Flasche gelassen wurde, der imstande war, die politische Imagination mit manichäischen, auf die Auslöschung des Bösen fixierten Gedanken zu vergiften – darüber waren sich nur wenige Zeitgenossen im klaren.12
Teilhaber
Weltanschauliche Neigungen, wirtschaftliche Interessen und politische Konstellationen erklären für sich genommen noch lange keine erfolgreiche Mobilisierung zum Krieg. Auf deren wechselseitige Vernetzung und die Freisetzung synergetischer Effekte kommt es vielmehr an, auf das Zusammenspiel staatlicher Institutionen und zivilgesellschaftlicher Akteure.
Auf der institutionellen Seite hatten die USA im Vergleich zu Europa einen enormen Nachholbedarf, ablesbar an der kurzen und konfliktgeladenen Geschichte ihres “War Industries Board” aus dem Ersten Weltkrieg. Dennoch stand man im Jahr 1941 besser da als 1914. Insbesondere hatte die Koordination zwischen Kriegsministerium und Wirtschaft Fortschritte gemacht. Bis 1939 lagen vier Varianten einer nationalen industriellen Mobilisierung in den Schubladen; die wichtigsten Interessenorganisationen aus Wirtschaft und Handel hatten sich an deren Ausarbeitung beteiligt, ungefähr 14 000 Manager aus der Industrie waren zugleich Reserveoffiziere und informelle Mittler zwischen ehemals sich mißtrauisch, wenn nicht feindlich gegenüberstehenden Welten. Eine Garantie gegen bürokratisches Chaos, Inkompetenz und Mißmanagement war all dies selbstverständlich nicht – der 1941 eingerichtete “War Production Board” schien deswegen wiederholt am Rand des Scheiterns. Warum diese Konflikte weniger als vielfach erwartet zu Buche schlugen, sollte, wie gesagt, nicht allein aus einer binnenbürokratischen Perspektive diskutiert werden. Die Antwort liegt jenseits des Staates und abseits des Militärs – bei den Interessen und im Verhalten von Zivilisten nämlich.13
Somit handelt die Gesellschaftsgeschichte des amerikanischen Kriegs über weite Strecken von einer “grassroots mobilization”, einer freiwilligen Selbstorganisation und Selbstbeteiligung der Bürger. Gewerkschaften und Civil Rights-Organisationen spielen dabei eine herausragende, obgleich in ihrer Bedeutung nicht immer hinreichend gewürdigte Rolle. 1940 standen 2500 Streiks und 6,7 Millionen verlorene Arbeitstage zu Buch, 1941 beliefen sich die entsprechenden Zahlen auf 4300 und 23,1 Millionen – zu einer Zeit, als viele schwarze Interessenvertreter davon sprachen, einen “people’s war” gegen den in den USA endemischen Rassismus führen zu wollen. Wenige Monate nach Pearl Harbor war die Militanz einer Bereitschaft zur staatsbürgerlichen Loyalität gewichen. Bürgerrechtler riefen ihre Anhänger zu “good conduct campaigns” auf, meinungsführende Gewerkschafter – vom United Mine Workers-Chef John L. Lewis abgesehen – erklärten den bedingungslosen Streik- und Lohnverzicht. Welche Beispiele man auch immer zitieren mag – es wäre völlig verkehrt, dahinter eine Begeisterung für den Krieg zu vermuten. Slogans wie “New Reconstruction” und “New Unionism” legen vielmehr nahe, daß der Krieg als Gelegenheit wahrgenommen wurde, die Gespenster der Großen Depression endgültig zu bannen und obendrein als gleichberechtigte Sozialpartner anerkannt zu werden. Einschlägig negative Erfahrungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zählten nichts oder dienten allenfalls als Beleg, damals nicht loyal genug gewesen zu sein. “Dieser Krieg wird nicht enden wie der letzte”, so ein Funktionär der United Automobil Workers. “Labor wird auf dem Achterdeck stehen, als ob es ein angestammtes Recht dazu hätte.”14
Sich beteiligen, mitmachen, Rückschläge der Vergangenheit ausbügeln – ein an den Gratifikationen der Rüstung orientiertes Modell sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs hatte überall im Land Konjunktur. Vorab im Westen, zwischen Idaho und Kalifornien und damit in einer Region von der doppelten Größe des europäischen Festlandes. Jahrzehntelang hatte man dort im Schatten des industrialisierten Nordostens gelebt, einige Beobachter sprachen angesichts eines auf fünf Prozent abgesunkenen Anteils industrieller Fertigung am regionalen Bruttosozialprodukt gar von einer quasikolonialen Abhängigkeit. Mit Beginn des Kriegs wendete sich das Blatt. Schätzungsweise 70 Milliarden Rüstungsdollar flossen in den Westen, Bergwerke nahmen ihren Betrieb wieder auf oder wurden neu gebaut nebst Fabriken, die von Reifen bis Magnesium die ganze Palette kriegswichtiger Güter anboten. Allein der Staat Kalifornien warb zwölf Prozent der von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten investiven Sondermittel ein und steigerte den Warenwert seiner industriellen Produktion in fünf Jahren um das Dreieinhalbfache. Nicht nur hatte der ehemalige Hinterhof endlich Anschluß gefunden. In manchen Branchen setzte sich der Westen sogar an die Spitze der nationalen Ökonomie. “Die Erkenntnis”, hieß es damals in Harper’s Magazine, “daß der Traum (industrieller Selbstbestimmung – B. G.) in Erfüllung gehen kann, hat den Westen beinahe besoffen gemacht.” Kriegsmobilisierung war zu einem Mittel sozio-ökonomischer Integration geworden.15
Wenn wir also den historischen Ort von Pearl Harbor beschreiben wollen, können wir sagen: Damals wurde die Bühne für ein paradoxes Stück amerikanischer Geschichte bereitet. Die Hauptakteure waren nicht ideologisch motivierte Militaristen, sondern pragmatisch denkende Zivilisten, Männer und Frauen, die im Militär ein schwer zu tolerierendes, ab und zu vielleicht notwendiges Übel sahen, die bürgerlichen Werten allemal den Vorzug gaben und lieber verhandelten als Krieg führten. Sie brachten Amerika auf den Weg eines “unmilitaristic militarism”, einer Rüstung zum Kriege, die im Zweifel ohne militärische Begründung auskommen konnte und tatsächlich auskam. Wie dergleichen funktionierte, läßt sich am Beispiel der Ende 1943 begonnenen Diskussion über einen “Rückbau” der Kriegswirtschaft studieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es die amerikanische Gesellschaft nach jedem ihrer Kriege verstanden, das Militär als Institution samt der Rüstungsindustrie weitgehend zu demobilisieren – ein gravierender und dennoch häufig übersehener Unterschied zu Europa. Auch 1943 und 1944 war an entsprechenden Plädoyers kein Mangel. In Hunderten von Städten und Gemeinden wurden Bürgerkomitees mit dem Auftrag zusammengerufen, Wege zurück in eine zivile Ökonomie vorzuschlagen – und diese Aufgabe angesichts der Interessen und des Selbstbehauptungsvermögens militärischer Apparate so schnell wie möglich zu bewältigen. Aber im Unterschied zu den frühen 20er Jahren fehlte es diesmal an politischer Durchschlagskraft. Teils, weil die Angst vor einem Rückfall in eine neuerliche Depression zu groß war, teils, weil sich ganze Regionen, allen voran der Westen des Landes, auf kontinuierlich fließende Rüstungsgelder verließen, um der verhaßten Konkurrenz an der Ostküste weiterhin Paroli bieten zu können. Bereits im Sommer 1944 waren die Würfel gefallen. Ob San Diego, Los Angeles, San Francisco oder irgendeine unbekannte Kleinstadt, überall wurde der Ruf laut, noch mehr in Kriegswerften, Flugzeugfabriken oder die Förderung strategisch wichtiger Rohstoffe zu investieren. Der auf Rüstungsgelder spekulierende “Reber-Plan” zum infrastrukturellen Ausbau der San Francisco “Bay Area” übertraf die Haussmannschen Projekte für das Paris des späten 19. Jahrhunderts um ein Mehrfaches. Oder nehmen wir das Beispiel San Diego: Der dortigen Industrie- und Handelskammer zufolge hatte die Stadt “die Alternative, entweder nach dem Krieg zur Geisterstadt zu werden oder ihre gegenwärtigen Industrien beizubehalten und zu einer großen Metropole aufzusteigen”. Gegenüber der Angst vor einer zivilen “bust economy” liefen alle Warnungen vor einer militarisierten “boom economy” ins Leere. Eine große Koalition aus Bankern und Bürgermeistern, Industriellen und Gewerkschaftern, Journalisten und Leserbriefschreibern würgte die Debatte über Rekonversion und Demobilisierung ab, ehe sie richtig begonnen hatte. Ende 1944 gab der “War Production Board” dazu offiziell seinen Segen und stellte die Weichen für eine dauerhafte Rüstungsproduktion, für eine “permanent preparedness”, bevor ein neuer Konflikt, geschweige denn ein neuer Feind erkennbar waren.16
Damit freilich verabschiedeten sich die USA von einer fast 200 Jahre erfolgreich praktizierten Bändigung der Streitkräfte. So gesehen steht Pearl Harbor auch für eine “Europäisierung” der Vereinigten Staaten und mithin für eine Gesellschaft, die ihrem Militär die Möglichkeit gibt, in immer weitere Bereiche des zivilen Lebens einzudringen. Es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, um die Unfähigkeit oder den Unwillen, nach dem Ende des Kalten Kriegs einen militärstrategischen Kurswechsel einzuleiten, in dieser Tradition zu sehen.17
Pearl Harbors langer Schatten
Anläßlich des 60. Jahrestages wird die Gesellschaftsgeschichte Pearl Harbors von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die schnöde Ökonomie dankt ab, ihren Platz nehmen hehre Ideen und vorbildliche Idealisten ein.
In diesem Sinne schreiben bzw. predigen Stephen E. Ambrose und sein publizistischer Waffenbruder Tom Brokaw seit Jahren: Von den Japanern aus dem Hinterhalt überrascht, opferte sich Amerika für die Sache der Freiheit und schickte Soldaten in den Kampf, die lieber starben, als in einer vom Bösen regierten Welt zu leben – Heilige im Dienst einer geheiligten Sache. Mittlerweile beherrschen Ambrose, der als Biograph von Politikern und Militärs zu Recht renommierte Historiker, und Brokaw, der populäre “anchorman” aus dem Nachrichtenstudio von NBC, den Markt. Schlachtenbeschreibungen, Bildbände, Interviewsammlungen, Bücher für Jugendliche, wohin man blickt, nicht zu vergessen der bekannt aufwendige Hollywood-Streifen zu Pearl Harbor und eine zehnteilige Fernsehserie im Geschichtskanal HBO. Brokaw schreibt die Einleitung zu Ambrose oder umgekehrt, der eine rezensiert den anderen, und beide sind des Lobes voll, wenn sie sich in den besprochenen Texten wechselseitig gespiegelt wiederfinden. Eines dieser Bücher zu kennen, heißt alle zu kennen. Zumal bereits die Titel Programm sind: The Greatest Generation , The Greatest Generation Speaksy (Brokaw) und The Good Fight (Ambrose). Our Finest Hour. The Triumphant Spirit of America’s World War II Generation ist auch vertreten, allerdings als Titel eines Life – Buches, dessen Verleger sich mit zahlreichen anderen die von Ambrose und Brokaw überlassenen Nischen teilen.18
Autoren wie Paul Fussell , der die Seelenlandschaft des Kriegs viel nüchterner und mit guten Gründen auch ernüchterter beschreibt, haben nicht einmal mehr in den Nischen ihren Platz. Daß es neben dem Freiheitswillen auch einen gegen Japan gerichteten Vernichtungswillen gab, daß die meisten Gis nicht aus Patriotismus ihr Leben aufs Spiel setzten – Fussell legt es überzeugend dar, aber dergleichen Ketzertum muß vor dem Geist des Triumphalismus, dem Gestus der Selbstgefälligkeit und des moralischen Narzißmus kapitulieren. Wie es scheint, findet eine Einwanderungsgesellschaft wie die USA nur in der emotionalen Dramatisierung von Ausnahmesituationen zu innerer Geschlossenheit. Und offenbar kommt sie ohne die wiederholte Inszenierung eines solchen Mummenschanzes auch nicht aus.19
Daran scheiterten bereits die frühen Versuche, der Wahrheit über Pearl Harbor auf die Spur zu kommen. 1941 sprach der Doyen der modernen amerikanischen Geschichtswissenschaft, Charles A. Beard, von einer selbstgewählten Unmündigkeit einerseits und einer Politik der bewußten Täuschung, Irreführung und Geheimhaltung andererseits. In Beards Nachfolge haben sich prominente Autoren wie Gordon W. Prange oder jüngst Robert B. Stinnett um den Nachweis bemüht, daß U. S. Geheimdienste von der Absicht der Japaner wußten, das Weiße Haus in Kenntnis setzten, aber ins Leere liefen, weil Roosevelt glaubte, nur ein aus dem Hinterhalt geführter Angriff würde die für einen Kriegseintritt notwendigen Emotionen mobilisieren. Wie es scheint, wird diese Frage aufgrund fehlender oder womöglich vernichteter Dokumente nie zu entscheiden sein.20
Fest steht hingegen, daß Roosevelt partout keine öffentliche Debatte wollte und eine “policy of secrecy” zur Entwaffnung der Opposition einsetzte. Einer Opposition freilich, die sich ohne viele Widerworte und beinahe einvernehmlich entwaffnen ließ – Alan Brinkley berichtet darüber in seiner großen Studie The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War. Das demokratische Amerika zahlte dafür einen hohen Preis. Denn in Zeiten bedingungsloser Loyalität hatten selbst loyale Kritiker keine Chance mehr. Sie wurden nur noch wie Irrlichter an einem dramatisch verengten politischen Horizont wahrgenommen.21
Auf den eingangs zitierten Gore Vidal wirkt Pearl Harbor daher wie ein politischer Sündenfall. “Der Wind der Freiheit ist dieser Tage kaum noch zu spüren. Viel zuviel wird im Namen einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Geheimhaltung abgewickelt.” Wie kein anderer Autor versteht es Vidal, seine Befragung der Vergangenheit in Fragen an die Gegenwart zu kleiden. Unterderhand entstand dabei ein sehr pessimistischer, bisweilen zynischer Text. Als wollte er sagen: Pearl Harbor setzte eine Entwicklung in Gang, über die man in den USA und andernorts längst die Kontrolle verloren hat – weil mittlerweile die Irreführung der Öffentlichkeit im Namen der Geheimhaltung zum festen Bestandteil der Politik geworden ist und weil die Öffentlichkeit diese Irreführung mehr oder weniger klaglos akzeptiert.22
Ob wir nun Vidals These einer nicht mehr umkehrbaren Entwicklung teilen oder nicht, um seine Fragen kommt man schwerlich herum. Erst recht nicht nach den Ereignissen des 11. September: Was wird aus den Spielregeln einer republikanischen Verfassung, wenn Kernbereiche des Politischen unter der Kontrolle von Institutionen und Gremien stehen, deren raison d’être die Wahrung ihrer selbstproduzierten Geheimnisse ist? Wie kann das berechtigte Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt werden, ohne bürgerliche Freiheiten auf dem Altar rigider Sicherheitskontrollen zu opfern? Wie ist es um die Kompetenz eines Kongresses bestellt, der Haushalte bewilligt, ohne nachzufragen, wohin die Jahr um Jahr als “geheim” eingestuften Milliardensummen eigentlich fließen? Und was bedeutet demokratische Teilhabe, wenn die Entscheidungen über den Einsatz von Massenvernichtungswaffen von einer Handvoll Personen, im Zweifelsfall von einem einzigen Politiker, getroffen werden? Es sind – und hier schließt sich der Kreis – dieselben Fragen, die von heutzutage fast vergessenen amerikanischen Politikern und Intellektuellen nach Pearl Harbor vorgetragen wurden.23
Eine ernsthafte Debatte kam damals, wie gesagt, nicht in Gang. Und ist auch nach dem 11. September noch nicht in Gang gekommen – jedenfalls keine, die mehr wäre als das Wiederkäuen längst bekannter Thesen in neuer Verkleidung. Daher rührt wohl auch der zornige, fast verzweifelte Ton, den Susan Sontag, Norman Mailer und andere Schriftsteller und Intellektuelle unmittelbar nach dem 11. September 2001 angeschlagen haben. Ihre Wut scheint sich aus der Ahnung zu speisen, daß die Ausnahmesituation erneut als “moralischer Kitt” einer ansonsten tief gespaltenen, obendrein verängstigten Gesellschaft herhalten muß und eine Entwicklung auf den Weg bringt, die zwar von kaum jemandem gewollt, aber am Ende von fast allen hingenommen wird -wie damals, nach dem 7. Dezember 1941.24
Gore Vidal, New York 2000,S.168 (Übersetzung B. G.).
Richard Overy, , Stuttgart, München 2000, S. 44-6, 246; Paul Koistinen ,"Toward a Warfare State: Militarization in America during the Period of the World Wars",in John R. Gillis, Hrsg., New Brunswick, London 1989, S. 53, 61; Bernd Greiner,"'The Study of the Distant Past is Futile.' American Reflections on New Military Frontiers",in: Roger Chickering, Stig Förster, Hrsg., 1919 - 1939, Cambridge, i. E.
David M. Kennedy, New York 1999.
Harold G. Vatter, New York 1985, S. 3, 7, 14, 17; Kennedy, , S. 87, 167, 213, 617.
Vgl. Studs Terkel, New York 1970; Paul Fussell, New York 1989, S. 55, 59.
Kennedy, S. 464, 618; Overy, S. 249.
Kennedy, , S. 650-4; Overy, S. 89-91, 248, 251-5; Eric Foner, New York, London 1998, S. 232-5. Vgl. Alan Brinkley, New York, 1995.
Marilyn S. Johnson, Berkeley 1993, S. 30-143; Gerald D. Nash, Bloomington 1985, S. 23-8, 38-40, 156, 213-14; William Chafe, New York 1972, S. 135, 140-8, 159-61, 171-3; Leila J. Rupp, "War is not Healthy for Children and other Living Things: Reflections on the Impact of Total War on Women", in James Titus, Hrsg., United States Air Force Academy 1984, S. 156-69; Kennedy, S. 634, 748, 768, 775-9. Vgl. Roger W. Lotchin, New York Oxford 1992.
Franklin Delano Roosevelt, zit. n. Samuel I.Rosenman, Hrsg., 13 Bde., New York 1938-1950, Bd. 2, S. 1. Vgl. B. D. Zevin, Cambridge, Mass., 1946, S. 266-7; Foner, S. 224, 237; Kennedy, S. 146, 246-8, 256, 365, 378 ff. ,760-1; Edward A. Shils, Chicago 1996, S.92-8; George H. Gallup, 3 Bde., New York 1972, Bd. 1, S. 1-257.
Roosevelts Zweifel an seiner eigenen politischen Führungskraft gehen zurück auf die massive Kritik an der "Quarantäne-Rede" vom Oktober 1937, in der er gegen die Isolationisten polemisiert und für militärische Hilfslieferungen an die europäischen Demokratien geworben hatte. Vgl. Kennedy, S. 344, 400-06, 455-7.
Frank Freidel, Boston 1990, S. 289-404; David Fromkin, New York 1995, S. 181-379.
Michael Sherry, , New Haven 1995, S. 30-5, 41, 57-9, 62, 197; Overy, S. 141, 146-8, 377; Shils, S. 118, 133; Koistinen, S. 49, 53; Fussell, S. 168-73; 177-80; Kennedy, S. 619, 630-3; Richard Hofstadter, Cambridge, Mass. 1996, S. 3-41; Bernd Greiner, Vortrag an der New York University, 18. November 1997 (Unveröffentlichtes Manuskript); Daniel Patrick Moynihan, New Haven 1998, S. 127-31.
Paul Koistinen, in: 56, 1970, S. 819-39; Koistinen, S. 51-62; Overy, S. 336.
Der einen Platz auf dem "Achterdeck" einklagende Gewerkschaftsfunktionär war Bruce Catton, zit .n. Brinkley, S. 207. Vgl. ebd., S. 200-05, 209-14, 217-20; Vatter, S. 43-5; Nash, S. 90-103; Harvard Sitkoff, in Titus, Hrsg., S. 147-55; Aan M. Winker, Arlington Heights 1986, S. 16-18; John Morton Blum, New York 1976, S. 183-89, 196-9, 208-12.
Harper's, zit .n. Nash, , S. 211-12; vgl. ebd., S. 3-8, 17-29, 31-6, 201, 204, 210; Lotchin, , S. 131, 133-8, 153-5.
Erklärung der Industrie- und Handelskammer San Diego, zit. n. Lotchin, S. 156; vgl. ebd., S. 136, 142, 146, 151, 157-70; Nash, S. 44-6, 202-12; Koistinen, S. 62-4.
Michael Geyer, "The Militarization of Europe, 1914-1945", in: Gillis, Hrsg., , S. 70, 80; Peter Karsten, "Militarization and Rationalization in the United States, 1870-1914", in: ebd., S. 42-4.
Vgl. Stephen E. Ambrose, , New York 2001; Tom Brokaw, , New York 1998; ders., , New York 1999; Killan Jordan, Barbara Baker, Hrsg., , New York 2000; Williamson Murray, Allan R. Millet, , Cambridge., Mass.2000.
Fussell,Wartime, s. Anm. 5
Charles A. Beard, New York 1941; Gordon W. Prange, Pearl Harbor: New York 2001; Robert B. Stinnett, New York 1999.
Brinkey, s. Anm. 7
Vidal, S. 271 (Übersetzung B. G.).
Vgl. 19. November 2001; Dan Diner, "Die Gesellschaft wird Staat.Amerika erlebt seine Neugründung", in: 2. November 2001; Andrian Kreye, "Vom Schmerz der Freiheit. Die Nackten und die Patrioten: Das USA-Anti-Terror-Paket", in: 30. Oktober 2001.
Vgl. Susan Sontag, "Feige waren die Mörder nicht", in: 15. September 2001; 8., 15., 29. Oktober, 3. Dezember 2001.
Published 19 February 2002
Original in German
First published by Mittelweg 36
Contributed by Mittelweg 36 © Bernd Greiner / Mittelweg 36 / Eurozine
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