Humanitäre Intervention: eine contradictio in adjecto?
“Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei.”
J.W.Goethe, Faust
Jedesmal wenn ich mit Freunden über den Kosovo-Krieg der NATO diskutiert oder gar gestritten hatte, befiel mich eine lähmende Unentschiedenheit. Warum war es so schwer, eine eindeutige Haltung der Zustimmung bzw. Ablehnung gegenüber diesem Einsatz einzunehmen? Dieser Beitrag ist ein Versuch, das der Unbestimmtheit zugrundeliegende moralphilosophische Problem aufzuzeigen. Selbst aus der zeitlichen Entfernung und der Abstraktion von dem spezifischen Beispiel Kosovo hat sich meine Unsicherheit über eine abschließende moralische Bewertung nicht gelegt. Das liegt daran – so meine These -, daß die Situationen, in denen eine sogenannte Humanitäre Intervention (HI) erwogen wird, also solche großen Leids, das nur noch mit militärischen Mitteln beendet werden kann, uns mit einem moralischen Dilemma konfrontieren. Auf der einen Seite soll Menschen in Not geholfen werden, auf der anderen Seite soll bzw. kann dies nur noch mit militärischen Mitteln geschehen; Mitteln also, die selbst notwendigerweise Leid und Zerstörung mit sich bringen. Die häufig gestellte Frage: “Bist Du für oder gegen Interventionen?” werde ich daher am Ende meiner Untersuchung nicht endgültig beantworten, wenn ich auch aufgrund der Beschaffenheit gegenwärtiger Konfliktsituationen davon abraten würde. Mein Hauptziel sehe ich aber darin, verschiedene Wege zu einem zustimmenden bzw. ablehnenden Urteil aufzuzeigen und kritisch zu beleuchten.
Wie so oft zeigt sich, daß die Frage einfach schlecht gestellt ist, weil sie zu allgemein gehalten ist. Sie zielt meist auf eine Stellungnahme gegenüber prinzipiellen Einwänden gegen jede HI, wie beispielsweise, daß sie gegen das Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten verstoßen würde. Die philosophischen, politikwissenschaftlichen und auch rechtlichen Debatten beschäftigen sich entsprechend fast ausschließlich damit, ob ein militärisches Eingreifen in einem anderen Staat jemals legal bzw. legitim sein kann. Es wird gefragt, ob es überhaupt gerechtfertigte Anlässe zur Intervention gibt oder nicht. Meines Erachtens ist aber ebenso entscheidend, wie eine Intervention durchgeführt wird und welche Folgen sie zeitigt. Insbesondere die Folgen für unschuldige Zivilisten sind hierbei zu beachten. Trotz verbreiteter Lippenbekenntnisse wird dieses Problem leider insbesondere von den Befürwortern häufig nicht ernst genug genommen. Wäre es anders, würde es weniger eindeutige Urteile geben, denn erst in diesem Zusammenhang wird das moralische Dilemma überhaupt explizit.
Daß es gerechtfertigte Anlässe zur Intervention in die Angelegenheiten souveräner Staaten und insofern keine prinzipiellen Einwände gibt, kann man meiner Meinung nach zeigen. Dies soll im folgenden auch geschehen. Sicherlich gibt es hier gewichtige Gegenargumente zu beachten. Letztlich sind sie aber m.E. nicht stark genug, um zu überzeugen. Insofern argumentiere ich durchaus Pro HI. Doch damit ist eben noch nicht alles moralisch Relevante gesagt. Deshalb wird ein größerer Teil meiner Untersuchung der Frage gewidmet sein, worin das Dilemma einer HI besteht, und ob bzw. wie es sich gegebenenfalls auflösen läßt. Dabei zeigt sich, daß eine militärische Intervention selbst zum Zwecke der Verteidigung bedrohter Menschen nur schwerlich das Prädikat “humanitär” rechtfertigen kann.
Ich werde zunächst anhand eines Definitionsvorschlags erläutern, was m.E. überhaupt unter einer HI sinnvollerweise zu verstehen ist. Im Anschluß beschäftige ich mich in gebotener Kürze mit den gängigen Schlachtfeldern des intellektuellen Kampfes um eine Rechtfertigung derselben: Dem Völkerrecht und der staatlichen Souveränität. Den längsten und abschließenden Teil des Aufsatzes bildet die erwähnte Darstellung des moralischen Dilemmas und möglicher Lösungsstrategien.
1. Definition
Bevor ich mich zunächst auf mir eher fremdes Gebiet – das des Völkerrechts – begebe, möchte ich eine Definition von “Humanitäre Intervention” vorschlagen, wie das von Philosophen üblicherweise verlangt wird. Ich glaube nicht, daß von dieser Definition allzu viel abhängt, aber sie sollte doch hilfreich sein, um eine genauere Vorstellung vom Untersuchungsgegenstand zu vermitteln.
Eine Humanitäre Intervention liegt genau dann vor, wenn gegen den Willen bzw. ohne die Zustimmung und innerhalb des Territoriums eines souveränen Staates durch einen anderen Staat oder eine Staatengruppe mit militärischen Gewaltmitteln gedroht oder eingegriffen wird, mit dem Ziel, Personen zu schützen, die innerhalb des betroffenen Staates schwerwiegendes Leid erleben oder davon bedroht sind, wobei die Durchführung der Intervention selbst humanitären Maßstäben genügen muß.1
Ich habe an dieser Stelle bewußt nicht den Schutz der Menschenrechte erwähnt, um nicht von diesem Konzept abhängig zu sein. “Humanitär” heißt meines Erachtens zunächst einmal: auf das Wohl von anderen gerichtet. Ob hier von Rechten zu sprechen ist, soll weitgehend offen bleiben.
Zu dieser Definition ist anzumerken, daß sie sich auf militärische Eingriffe beschränkt. In der Literatur wird meistens – und in meinen Augen sinnvollerweise – humanitäre Interventionvon humanitärer Aktionunterschieden.2 Humanitäre Aktionen sind beispielsweise Nahrungsmittellieferungen (ohne militärische Absicherung) oder das Erstellen und Betreiben von Flüchtlingslagern. Sie werden heutzutage häufig von Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Cap Anamour durchgeführt. Eine militärische Intervention hingegen wird von staatlichen Institutionen bzw. – etwa im Falle der UNO – einer überstaatlichen Organisation verfügt und vorgenommen. Die eingreifende Partei muß nicht notwendigerweise aus UN-Truppen bestehen, sondern kann auch unter der Ägide eines Staatenverbandes wie OSZE, NATO oder OAU handeln bzw. aus einzelstaatlichen Verbänden zusammengesetzt sein.3 Sicherlich ist es eine wichtige Frage, ob Eingriffe ohne Auftrag der UNO legal sind. Es geht an dieser Stelle aber zunächst um eine Beschreibung, nicht Bewertung. De facto könnte eine HI auch ohne UN-Mandat durchgeführt werden. Der Kosovo-Krieg der NATO ist hier natürlich der entscheidende (Sünden?-)Fall, denn er wurde als HI angesehen, obwohl er ohne eine entsprechende Resolution des Sicherheitsrates erfolgte.
Manche Autoren dehnen den Begriff der Intervention so weit, daß er auch Wirtschaftssanktionen, ja selbst reine Hilfslieferungen (die vom Empfängerstaat nicht gewünscht sind) erfaßt. An prominentester Stelle findet sich diese Erweiterung beim derzeitigen Generalsekretär der UNO, Kofi Annan: “I define intervention as a continuum from the most benign diplomatic action to use of force in the extreme cases where it may become necessary. I define intervention as any action that may help stop violence, any action that may improve the lot of people in conflict situations, any action that could contain a conflict.”4 Diese Erweiterung hat den Vorteil, andere Interventionsmöglichkeiten neben militärischer Gewalt in den Vordergrund zu stellen. Allerdings erscheint sie mir dennoch aus mehreren Gründen wenig hilfreich. Zunächst ist aus völkerrechtlicher Sicht anzumerken, daß beispielsweise Wirtschaftssanktionen üblicherweise nicht als Zwangsmaßnahmen angesehen werden und deshalb auch nicht der Zustimmung des Sicherheitsrates bedürfen.5 Aus moralphilosophischer Perspektive kann man zwar genau wie im Falle militärischer Maßnahmen fragen, ob diese anderen angeblich humanitären Aktionen legitim sind, aber der eigentlich entscheidende Testfall für die Legitimität von Zwangsmaßnahmen ist doch offensichtlich die bewaffnete Intervention zum Schutz der Bürger eines fremden Staates.
Eine weitere Anmerkung zur oben genannten Definition bezieht sich auf den letzten Halbsatz. Die Intervention muß selbst humanitären Maßstäben genügen, um als HI zu gelten. Dieser Zusatz scheint mir unverzichtbar. Oft werden ausschließlich der humanitäre Anlaß (“humanitäre Katastrophe”) und das entsprechende Motiv der intervenierenden Partei ausdrücklich erwähnt.6 Dies ist in meinen Augen verkürzt, denn genau die genannte zusätzliche Bedingung einer HI führt dazu, daß ein möglicher Selbstwiderspruch auftaucht. Kann es überhaupt eine militärische Intervention geben, die humanitär ist – und zwar nicht nur in ihrer Zielsetzung, sondern auch in ihrer Durchführung?
2. Völkerrecht
Die völkerrechtliche Debatte über die Legalität bzw. Illegalität einer sogenannten Humanitären Intervention, wie sie insbesondere in bezug auf den Kosovo-Krieg der NATO geführt worden ist, hat aus moralphilosophischer Sicht ein entscheidendes Manko. Zwar ist es befriedigend und entspricht dem verbreiteten Wunsch nach eindeutigen Urteilen, daß die ausgefeilten juristischen Argumentationen eigentlich immer zu einer Ja/Nein-Stellungnahme führen. Man könnte sogar sagen, das Schöne an einer rechtlichen Untersuchung ist, daß sie zu einer solchen klaren Aussage gelangen muß. Ja, eine HI ist mit dem internationalen Recht vereinbar; Nein, sie ist es nicht. Aber weder die eine noch die andere Antwort befriedigen vollständig. Vielmehr scheint das Problem eine Perspektive nötig zu machen, die über das positiv gesatzte Recht hinausweist, bzw. dessen Grundlage fokussiert. Moralische Legitimität– nicht Legalität – ist hier das Zauberwort. Die juristischen Bewertungen, seien sie nun pro oder kontra HI, benötigen eben auch diese Perspektive. Sie ist für ein hinreichendes Urteil notwendig, denn eine legale Handlung muß nicht unbedingt legitim sein, und eine illegale Handlung mag durchaus moralisch gerechtfertigt sein.
Der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität ist auch in einigen der einschlägigen Zeitungsartikeln zum Kosovo-Einsatz verwischt worden und hat zu Mißverständnissen geführt – so etwa, wenn Jürgen Habermas, der in seinem Beitrag aufgrund moralphilosophischer Überlegungen einen Rechtszustand der Zukunft antizipierte, als Träumer abgetan wurde.7 Habermasträumte den Traum der Legitimität als Grundlage der Legalität. Dafür wurde er dann auch heftig von wachen Hunden des Rechtspositivismus attackiert. Aber, so sollte man sich wohl angesichts dieser Kritik fragen, ist nicht schon das gegenwärtige Völkerrecht von einer moralischen Fortschrittlichkeit, die niemand nach den Erfahrungen des ersten und zweiten Weltkrieges zu erträumen gewagt hätte? Sind nicht genau solche vorgreifenden, den aktuellen Rechtszustand transzendierenden Überlegungen notwendig, um der Veränderung der politischen und moralischen Großwetterlage gerecht zu werden?
Daß die völkerrechtliche Debatte zum Status der HI zum Teil unbefriedigend bleibt, verdankt sich aber nicht nur der genannten mangelhaften moralischen Perspektivität. Das gesatzte Recht ist selbst nicht eindeutig genug, um eine klare Ja/Nein-Stellungnahme hinreichend zu begründen. Vergegenwärtigen wir uns kurz die möglichen juristischen Argumentationen.8 Auf der Seite der Opponenten finden wir neben dem Souveränitätsrecht, auf das ich später ausführlicher eingehen werde, den Hinweis auf Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta, der da lautet: “Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.” Dieses glasklare Gewaltverbot – mit der Ausnahme der Selbstverteidigung – wird bereits ein paar Zeilen weiter noch einmal verstärkt, gleichzeitig im zweiten Satz aber auch verdunkelt: “Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden; die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII wird durch diesen Grundsatz nicht berührt.” (Artikel 2 Absatz 7)
Naheliegenderweise ist Kapitel VII dann auch zum Lieblingsteil der Befürworter von HI avanciert und hat bereits in einigen UN-Resolutionen, die Zwangsmaßnahmen absegneten, eine bedeutende Rolle gespielt. Dort geht es um die “Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit”. Ist eine solche Bedrohung gegeben, kann der Sicherheitsrat Maßnahmen verfügen – die, wenn sich friedliche Mittel als unzureichend erwiesen haben, auch militärischen Einsätze beinhalten -, um so den Weltfrieden wiederherzustellen bzw. zu wahren.9 Bei dieser Argumentation ist entscheidend, was man unter einer “Bedrohung des Weltfriedens” versteht. Einige Interventionsbefürworter gehen so weit, massive Menschenrechtsverletzungen unter dieser Formel einzuschließen, andere sind hier restriktiver. Wie man Artikel VII interpretiert, hängt demnach von der jeweiligen normativen Perspektive ab.10 Die Behauptung – die man zugegebenermaßen unter Völkerrechtlern selbst wohl kaum finden wird -, daß man hier angeblich nur eine wertfreie Rechtsexegese betreibe, ist bestenfalls unglaubwürdig, schlimmstenfalls ein Deckmantel für Ideologien. Deutungen von Gesetzestexten, die in bestimmten Fällen uneindeutig sind – und die UN-Charta ist bezüglich HI sicherlich nicht deutlich – verlangen eine normative Perspektive. Die Frage ist, wie sich die internationale Staatengemeinschaft bei Bedrohungen von Leib und Leben innerhalb eines souveränen Staates verhalten sollte, und damit, wie die Charta verstanden werden sollte– nicht, wie sie zu verstehen ist.
Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß der einzig sinnvolle Weg zu einer Entscheidung, was als Bedrohung des Weltfriedens gelten solle, bereits durch die Charta selbst vorgezeichnet ist. Wer, wenn nicht die Weltgemeinschaft selbst, kann darüber bestimmen, und ist es nicht der Sicherheitsrat, der hier laut Charta entscheidet?11 Das ist sicherlich richtig, unterstützt aber auch meine Argumentation. Schließlich ist diese Entscheidung des Sicherheitsrates eine, die normative Überlegungen geradezu erzwingt – und übrigens auch eine Reform des Rates selbst, denn er repräsentiert sicherlich nicht die Überzeugung der Weltbevölkerung.12 Die Sichtweise, daß die richtige Interpretation des Kapitels VII allein dadurch festgelegt sei, was der jetzige Sicherheitsrat tatsächlich entscheidet, wird dieser zugrundeliegenden Normativität nicht gerecht. Es ist sicherlich eine wichtige Frage, durch welche Institutionen und auf welche Weise geregelt werden kann, in welchen Fällen eine Intervention erfolgen darf oder nicht. Gerechte Verfahren sind ein wesentliches Mittel, eine solche Entscheidung zu rechtfertigen. Aber noch einmal: Auch diese Verfahren sind von normativen Überlegungen nach der moralischen Legitimität einer HI durchzogen; es wird keineswegs bloß nach deren Legalität gefragt. Diese folgt jener nach bzw. besser ausgedrückt: Die Legalität ist durch die Legitimität bestimmt – zumindest sollte sie das sein, will man dem Sinn des internationalen Rechts entsprechen.
Hier liegt aber auch eine Gefahr des aktuellen völkerrechtlichen Zustands: denn solange die Überlegungen im Sicherheitsrates dem genannten Ideal nicht einmal annähernd entsprechen, werden sich verschiedene Interpreten – gewissermaßen als normative “Experten” – berufen fühlen, der internationalen Gemeinschaft von außen vorzugeben, in welchen Fällen interveniert werden darf. Ziemlich eindeutig war das so beim Kosovo-Krieg von Seiten der NATO. Sie verstand die fehlende Einwilligung des Sicherheitsrates als Hinweis auf dessen mangelndes normatives Bewußtsein. Die Diagnose mag richtig sein, wenn auch das in Anschlag gebrachte Symptom nicht unbedingt überzeugt. Somit gerierte sich die NATO als williger Vollstrecker des mutmaßlichen “wirklichen”, d.h. normativ korrekten, Willens des Sicherheitsrates.13 Eine gefährliche Anmaßung.
Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, nur Moralphilosophen könnten das Für und Wider einer HI abwägen. Ein Beispiel für eine völkerrechtliche Rechtfertigung, bei der man sicherlich nicht erst ein moralphilosophisches Studium absolviert haben muß, um deren Schwäche zu sehen, besteht in einer bestimmten Interpretation des Artikels 51 der UN-Charta, in dem das Selbstverteidigungsrecht der Staaten als “naturgegeben” bezeichnet wird. Meine Kritik richtet sich aber nur gegen diese Art der Inanspruchnahme des Artikels 51. Gleich im Anschluß werde ich auf eine andere Lesart zurückkommen. In der hier zu untersuchenden Begründung wird die militärische Intervention in den Hoheitsbereich eines souveränen Staates als legale Verteidigung der eigenen staatlichen Interessen interpretiert. Nicht nur die Rettung von bedrohten Staatsbürgern auf fremden Territorium wird dabei eingeschlossen, sondern weitergehend unliebsame Vorgänge in einem anderen Staat als Bedrohung der eigenen Sicherheit angesehen. Eine solche Argumentation haben sich insbesondere die USA zu eigen gemacht, etwa im Falle der Invasion in Panama im Dezember 1989.14 Nun ist unschwer zu erkennen, daß, selbst wenn man das Adjektiv “humanitär” streicht, eine solche Deutung der UN-Charta nicht zulässig ist und genau die Befürchtungen bestätigt, wonach Interventionen zu einem Instrument der hegemonialen Interessendurchsetzung verkommen, sowie zu einem Wertekolonialismus neigen.
Zum Abschluß meiner völkerrechtlichen Betrachtung möchte ich noch kurz auf eine Argumentationsfigur eingehen, die mir interessant erscheint, weil sie die Relevanz zumindest bestimmter Teile der UN-Charta – etwa die Zustimmung des Sicherheitsrates – für die Frage der Legalität einer HI in Frage stellt. Gemeint ist die Figur der Nothilfe.15 Analog zur Hilfeleistung im zivilrechtlichen Fall können Staaten demnach bedrohten Personen – auch anderen Staatsbürgern auf fremdem Territorium – zu Hilfe eilen. Da die Garantie fundamentaler Menschenrechte zu den sogenannten erga-omnes-Verpflichtungen zählt, haben Staaten, die diese Rechte verletzen, keine rechtliche Handhabe gegen solche Eingriffe von außen. Die Nothilfe, so die Argumentation, ist nicht auf die Zustimmung des Sicherheitsrates angewiesen, da sie gewissermaßen eine erweiterte Anwendung des Artikels 51 der UN-Charta darstellt, in der es wie erwähnt um das Selbstverteidigungsrecht geht.16 Abgesehen davon, daß auch diese völkerrechtliche Legitimation der HI durchaus umstritten ist, ist sie eben allein noch nicht hinreichend, denn sie läßt sich nur über den gerechtfertigten Anlaß einer Intervention aus – übrigens so wie die meisten anderen Rechtfertigungsversuche auch -, schweigt aber über deren Durchführung. So wie wir im zivilrechtlichen Fall nicht jede Form von Hilfe leisten dürfen – wir dürfen etwa nicht wild in eine Menge feuern, um einen Geiselnehmer zu stoppen – so müssen wir auch im Falle einer Intervention berücksichtigen, welche Mittel eingesetzt werden dürfen und welche voraussehbaren Handlungsfolgen akzeptabel sind.
Aus der völkerrechtlichen Diskussion sollte meines Erachtens zumindest klar geworden sein, daß eine über den bloßen Gesetzesbuchstaben hinausgehende normative Betrachtung vonnöten ist. Womit ich natürlich nicht behaupte, daß Völkerrechtler dagegen Einspruch erheben würden; vielmehr möchte ich damit rechtfertigen, was nun folgen soll und was manchmal als unnötig, ja möglicherweise gefährlich angesehen wird. Nämlich eine Untersuchung, ob die HI moralisch legitim ist oder nicht.
3. Staatliche Souveränität
Das Selbstbestimmungsrecht der Staaten wird üblicherweise als der Stolperstein einer Interventionsrechtfertigung angesehen. Man könnte den Hinweis auf das Souveränitätsrecht auch als eine Art vorgängiges Argument gegen jedeForm der Einmischung in innere Angelegenheiten deuten. Aber soll man wirklich schweres Leid innerhalb eines anderen souveränen Staats achselzuckend hinnehmen, wenn dieser nicht in der Lage ist, es zu bekämpfen, ja möglicherweise sogar staatliche Institutionen selbst verantwortlich dafür sind? Darf der Schutz von Staaten wichtiger sein als der von Individuen? Kofi Annan bringt diese Überlegungen auf den Punkt: “Wenn eine humanitäre Intervention tatsächlich einen unannehmbaren Angriff auf die Souveränität darstellt, wie sollenwir dann auf ein Ruanda, ein Srebrenica oder auf alle schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen reagieren, die gegen jedes Gesetz verstoßen, das uns unser gemeinsames Menschsein vorschreibt? Wir stehen vor einem echten Dilemma. Kaum jemand würde bestreiten, daß sowohl die Verteidigung der Menschlichkeit als auch die Verteidigung der Souveränität unterstützenswerte Grundsätze sind. Nur gibt uns das keinen Aufschluß darüber, welcher der beiden den Vorrang erhalten soll, wenn sie im Widerspruch zueinander stehen.”17
Die in diesem Zusammenhang zu stellende Frage lautet, ob staatliche Souveränität und wirksamer Schutz vor individuellem Leid tatsächlich in Widerspruch stehen; ob die Souveränität überhaupt so weit reicht, daß sie sogar schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen abdecken kann. Erneut mag man hier – ähnlich wie in der völkerrechtlichen Debatte – einen Verständigungskonflikt zwischen “Legalisten” und “Moralisten” verzeichnen.18 Allerdings scheint mir hier eher ein Scheingefecht vorzuliegen – zumindest was den hier zu verhandelnden Fall der Intervention bei schwerwiegenden Schädigungen angeht.
Aus der moralphilosophischen Debatte kann zunächst eine eindeutige Entwicklung weg von einem strikten staatlichen Selbstbestimmungsrecht hin zu einem starken Menschenrechtsindividualismus verzeichnet werden. Will man Namen nennen, könnte man sagen: Von Kantund Millüber Walzerund Rawlszu Habermasund Höffe.19 Ebenso kann deskriptiv festgestellt werden, daß Staaten im Zuge der Globalisierung und der Stärkung völkerrechtlicher Verträge mehr und mehr Selbstbestimmungsrechte abgetreten haben – und zwar freiwillig. Viele Entscheidungen oder Handlungen souveräner Staaten können heute nicht mehr als rein interne Angelegenheiten begriffen werden. Daraus folgt nicht gleich, daß wir auf dem Weg zu einer Weltrepublik und einer Weltregierung sind, dem Schreckgespenst von Kant bis Schröder.20 Es wird auch weiterhin Nationalstaaten geben. Allerdings, und das ist für die Diskussion einschlägig, werden inzwischen zumindest schwerwiegende Bedrohungen von Leib und Leben bzw. die Verletzung grundlegender Menschenrechte als Begebenheiten angesehen, die aus dem Selbstbestimmungsrecht der Staaten herausfallen. Diese gelten gemeinhin nicht nur als illegitim, sondern auch völkerrechtlich als illegal. Jeder Staat, welcher der UN-Charta verpflichtet ist, hat damit auch den Schutz der Menschenrechte zu seiner Aufgabe erklärt. Ist er dazu nicht in der Lage oder verstoßen staatliche Institutionen selbst gegen sie, so ist das eine internationale Angelegenheit.
Es wurde vermehrt darauf hingewiesen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Staaten letztlich ein Selbstbestimmungsrecht der Völker ist.21 Zu leicht wird der Staat mit seiner Regierung identifiziert, und dabei kann sich das Interventionsverbot zu einem Freibrief sogar für Aktivitäten entwickeln, die sich gegen die eigene Bevölkerung bzw. Teile derselben richten. Im Falle schwerwiegender Schädigungen des individuellen Wohls, denen staatliche Institutionen nicht Einhalt gebieten oder die sie sogar selbst verüben, wird ein Staat dem Schutz seiner Bürger nicht gerecht und der Verweis auf Souveränitätsrechte zu einer rechtlichen und moralischen Farce. Das bedeutet keineswegs, daß das Selbstbestimmungsrecht immer, wenn aus “westlicher” Perspektive ein Unrecht konstatiert wird, zu Fall kommt.22 Es bleibt ein weites Feld von unterschiedlichen Vorstellungen über Organisation und Ziele staatlichen Handelns – ob etwa eine strikte Trennung von Staat und Kirche gewünscht wird, welchen Stellenwert der Umweltschutz in politischen Entscheidungen spielen soll usw. Sinn und Zweck des Selbstbestimmungsrecht der Staaten besteht darin, diesen Pluralismus an Anschauungen, wie das gemeinschaftliche Leben gestaltet werden soll, zu schützen. Aber um die Bedrohung an Leib und Leben als Unrecht anzusehen, bedarf es keiner “westlichen” Interpretation. Es reicht ein Standpunkt minimaler Menschlichkeit. Wer das bestreitet, begeht normativen Selbstmord.
4. Das Dilemma der Humanitären Intervention
Es sieht fast so aus, als hätte ich bereits alle nötigen Bestandteile einer moralischen Rechtfertigung der HI zusammengetragen. Doch dem ist keineswegs so. Denn bisher habe ich mich ausschließlich auf den Anlaß– die causa iusta– eines solchen Eingriffs konzentriert. Damit sind aber nicht alle Voraussetzungen einer legitimen HI abgehandelt. Und gerade die weiteren Bedingungen bezüglich der moralisch gerechtfertigten Mittel und Folgen einer militärischen Intervention, sind alles andere als leicht zu erfüllen. Sie führen – wie ich nun darstellen will – zu einem moralischen Dilemma.
Das Dilemma besteht in einer Kollision von Pflichten, denen wir im Falle einer HI nicht gleichzeitig gerecht werden können. Auf der einen Seite steht die Pflicht, Menschen in großer Not Hilfe zu leisten, auf der anderen Seite die Pflicht, Unschuldigen keinen Schaden zuzufügen, d.h. in bezug auf eine HI: keine zivilen Opfer zuzulassen. Es gibt verschiedene Wege zu bestreiten, daß hier wirklich ein Dilemma vorliegt und auch diverse Strategien, es aufzulösen. Meiner Ansicht nach gibt es gewichtige Argumente auf der Seite der Interventionsgegner – allerdings hauptsächlich aufgrund empirischer Überlegungen, die normative Implikationen mit sich führen. Es könnte sein, daß eine HI theoretisch gerechtfertigt wäre, aber die Beschaffenheit der Welt diese Rechtfertigung in Frage stellt, etwa weil es unmöglich ist, zivile Opfer zu vermeiden.
Gegen das Dilemma
Das Vorliegen eines moralischen Dilemmas kann bestritten werden, indem man die entsprechenden Pflichten anzweifelt. Die Interventionsgegner können abstreiten, daß wir verpflichtet sind, fremden Staatsbürgern zu Hilfe zu eilen. Zugegebenermaßen würden nur wenige behaupten, daß es keinerleiKonstellationen gibt, in denen von uns Hilfeleistungen moralisch (und auch rechtlich) gefordert sind. Das klassische Beispiel ist der Fall eines ertrinkenden Kindes, das wir retten können. Wenn wir nicht versuchen, es zu retten, machen wir uns schuldig. Sicherlich müssen wir in diesen Fällen in der Lage sein, Hilfe zu leisten, und außerdem kann auch nicht erwartet werden, daß wir die möglichen “Kosten” für uns selbst gänzlich ignorieren. Denn sollten wir selber durch eine mögliche Rettungsaktion in große Gefahr geraten, dürfen wir davon absehen. Bei einer HI führt dieses Prinzip zur größtmöglichen Vermeidung von Schädigungen der intervenierenden Partei – und damit zur Vergrößerung des Risikos, unschuldige Zivilisten zu schädigen, wie man im Kosovo-Krieg sehen konnte.23 Allerdings sind wir offenbar dennoch verpflichtet, gewisse eigene Schädigungen in Kauf zu nehmen. Zudem gibt es bestimmte Berufsgruppen – Polizisten, Ärzte, Feuerwehrleute, Soldaten – denen aufgrund ihrer beruflichen Rolle eine größere Risikobereitschaft abverlangt werden kann.
Es gibt also Konstellationen, bei denen jeder, der Hilfe leisten kann, einzugreifen verpflichtet ist. Bestimmte Personen haben noch weitergehende Verpflichtungen. Aber enden die Hilfspflichten nicht im Nahbereich oder zumindest an den Staatsgrenzen? Warum sollten wir verpflichtet sein, Menschen Hilfe zu leisten, die womöglich tausende Kilometer entfernt leben? Ist dieser Fall überhaupt vergleichbar mit dem geschilderten Beispiel des ertrinkenden Kindes, dem wir unmittelbar begegnen?
Diese Fragen der Interventionsgegner können mit Hilfe eines Ansatzes beantwortet werden, der moralischer Kosmopolitismus oder Globalismus genannt wird. Zwar kann sich die Hilfspflicht über den Nahbereich hinaus nicht in derselben Weise direkt an konkrete Individuen richten wie im genannten Beispiel. Allerdings richtet sie sich mittelbar an jeden, indem sie fordert, Institutionen zu schaffen, welche dafür Sorge tragen, daß die entsprechende Hilfe zuteil wird.24 Die Grundlage dieser über nationale Grenzen hinausweisenden Pflicht besteht in den universalen Menschenrechten – oder, wenn man diese Sprache scheut, darin, daß jeder Mensch den moralischen Anspruch hat, seine fundamentalen Bedürfnisse wie den Schutz von Leib und Leben erfüllt zu bekommen. Zwar kann man dafür argumentieren, daß sich diese Pflicht zunächst an nationale Institutionen richtet. Aber im Falle deren Versagens wird diese auf andere übertragen. Es liegt nahe, die entsprechende Institution in den Vereinten Nationen zu sehen, allerdings scheint mir das nicht zwingend.
Wollte man noch einmal die Seite der Interventionsgegner stark machen, könnte man einwenden, daß die moralische Achtung von Personen doch bloß fordert, Schädigungen anderer zu vermeiden, nicht aber, ihnen zu helfen. Doch mir scheint diese Argumentation fürs erste im Nahbereich und dann weiterhin an der fehlenden Begründung einer Einschränkung auf diesen zu scheitern. Zunächst: wie ich oben erwähnt habe, gibt es Umstände, in denen wir anderen Hilfe schuldig sind, nämlich dann, wenn sie in großer Not sind. Unter diesen Umständen besitzen wir “negative” Verantwortung; wir sind demnach auch ohne vorheriges schuldhaftes Zutun moralisch zum Handeln aufgefordert – wie gesagt, zumindest mittelbar.25 Weiterhin: die Ausdehnung auf eine über den Nahbereich hinausgehende globale Position ergibt sich aus einer bestimmten Interpretation der universalistischen Moral. Die Moral – so sagt die globalistische These – endet nicht an Staatsgrenzen.26 Zumindest fundamentalen Bedürfnissen gegenüber haben wir keinen guten Grund, einigen den Schutz und damit Hilfe zu verweigern, bloß weil sie woanders leben.27
Um das etwas konkreter zu machen: Während des Genozids in Ruanda im Frühling 1994 waren UN-Truppen vor Ort, die den ausdrücklichen Befehl hatten, nicht einzugreifen.28 Eine ähnliche Begebenheit gab es schon ein paar Jahre davor, als in Srebrenica quasi vor den Augen der niederländischen Blauhelmsoldaten ein Massaker an Bosniern verübt wurde. Diese beiden Ereignisse markierten einen Wendepunkt in der öffentlichen Reaktion. Das Interventionsverbot, die falsch verstandene Neutralität und das damit einhergehende Pontius-Pilatus-Prinzip wurden nun scharf attackiert. Es setzte sich die Überzeugung durch, daß man sich auch im Ausland vom Nichtstun schmutzige Hände holen kann.
Die Argumentation des moralischen Globalismus ist historisch gesehen sicherlich eine neuartige Errungenschaft und entsprechend umstritten, ergibt sich aber anscheinend zwingend, zumindest was den Schutz grundlegender Bedürfnisse angeht, aus dem Prinzip der moralischen Achtung aller Personen. Die spezifische Neuerung besteht in der aktiven Lesart moralischer Ansprüche auch über Staatsgrenzen hinweg. Damit ist die Einsicht gemeint, daß der wirksame Schutz grundlegender Menschenrechte bzw. basaler Bedürfnisse oft auch Hilfsleistungen Dritter benötigt, und diese nicht als Akt der Barmherzigkeit, sondern der Gerechtigkeit verstanden werden sollten. Um darüber hinausgehende Unterstützung als moralische Pflicht zu interpretieren, sind sicherlich weit umstrittenere Prämissen erforderlich.29 Aber überzeugend finde ich die Position des moralischen Globalismus bezüglich der im Falle einer HI vorliegenden Bedrohung von Leib und Leben. Selbst wer diese Interpretation einer Pflicht zur Hilfe im Falle gravierender Bedrohungen nicht teilt, müßte zumindest das Rechtzur Intervention eingestehen – und könnte die Eingreifenden als “moralische Heilige” ansehen, die eine supererogatorische Handlung ausführen.30 Mir scheint das allerdings aus den genannten Gründen letztlich nicht überzeugend.
Interessant an der entsprechenden Debatte aus einer Metaperspektive ist die Tatsache, daß der moralische Globalismus Thesen vertritt, die schon seit längerer Zeit vom Utilitarismus betont wurden – wenn auch auf andere Weise.31 So wird insbesondere die üblicherweise von deontologischen Theorien in den Vordergrund gestellte Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten sowie von Tun und Unterlassen – zumindest in der althergebrachten Lesart – in Frage gestellt.32 In der Frage der Hilfspflichten stimmen also Theorien überein, von denen eine auf subjektive Rechte aufbaut, hingegen der anderen diese angeblich wesensfremd sind.
Noch ein Wort zu den Risiken auf der Seite der intervenierenden Partei. Die Verpflichtung zur Hilfe, hatte ich gesagt, findet ihre Grenze in der eigenen Gefährdung. Wir sind nicht dazu verpflichtet, selbst wenn jemand in großer Not ist, unser eigenes Wohlergehen aufzuopfern. Für den Fall der HI führt dieser Grundsatz zum größtmöglichen Eigenschutz – mit den erwähnten negativen Folgen für die zu schützenden Menschen. Zwar mag jemand, der aufgrund seiner beruflichen Rolle als Soldat ein hohes Selbstgefährdungsrisiko eingeht, weniger gute Gründe haben, einen angeordneten Einsatz abzulehnen. Dennoch wird wohl kaum wer behaupten, Soldaten hätten nicht ebenso wie jeder andere Mensch Anspruch auf Schutz ihres Wohls. Zunächst könnte dieses Problem durch die Freiwilligkeit des Einsatzes abgefedert werden. Doch darüberhinaus kommt an dieser Stelle eine interessante Überlegung ins Spiel, die Auswirkungen auf die Bewertung der Motive der eingreifenden Partei hat. Denn man kann davon ausgehen, daß die Bereitschaft zur Riskierung des eigenen Wohls gerade dann am größten ist, wenn man eigenen Interessen dient – was nicht gleichbedeutend mit Egoismus im alltäglichen Sinne ist, denn auch Handeln zugunsten Anderer kann durchaus eigenen Interessen dienen. Wenn also die Soldaten der eingreifenden Partei nicht nur aus rein desinteressierten – den angeblich wirklich humanitären – Motiven handeln, sondern vielmehr aus einer selbstinteressierten Haltung heraus, scheint den Zielen einer HI besser gedient werden können, denn dann sehen sie die Riskierung ihres eigenen Lebens an als Notwendigkeit für die Erreichung ihrer eigenen Ziele.33 Die übliche Kritik am “Motivmix” der intervenierenden Partei, ihrem Mangel an Selbstlosigkeit, ist demnach überzogen. Zugegeben, üblicherweise ist damit gemeint, daß wohl kaum ein “humanitäres” Anliegen vorliegt, wenn nur der eigene Nutzen im Mittelpunkt des Handelns steht. Das ist zweifelsohne richtig. Aber eine Intervention kann durchaus auf dem eigenen Interesse beruhen und dennoch humanitär sein, indem sie dabei auch auf das Wohl anderer gerichtet ist.
Davon abgesehen ist ein angebliches unlauteres Motiv für die Bewertung einer Handlung sowieso kaum relevant. Zwar kann man sich beispielsweise fragen, ob man einem Menschen vertrauen soll, der nur moralisch handelt, um bei anderen eine hohe Meinung zu erwerben. Nichtsdestotrotz ist es gut für die Menschen, denen er hilft, wenn er es tut, und darum geht es ja wohl bei der moralischen Bewertung einer HI. Die Motivationsfrage ist daher für die Rechtfertigung einer HI als solcher nicht wesentlich. Darauf komme ich später zurück.
Auf der Seite der Interventionsbefürworter könnte das Dilemma bestritten werden, indem man die zweite Pflicht, nämlich die zur Unterlassung von Schädigungen, negiert. Bei einer HI – das ist die Voraussetzung – erfahren Menschen schweres Leid. Nun kann mit guten Gründen behauptet werden, daß die Personen, die Verantwortung für dieses Leid tragen, ihr Recht auf Unversehrtheit verwirkt haben. Die Pflicht zur Nicht-Schädigung beziehe sich eben nur auf Unschuldige, nicht auf Aggressoren.
Diese Argumentation ist aber, abgesehen von sehr einfachen Fällen, in denen ein eindeutig identifizierbarer Angreifer vorliegt, wenig überzeugend. Für die Rechtfertigung von HI bringt sie uns nicht weiter. Denn zum einen sind die entsprechenden Fälle realistisch gesehen sehr viel komplexer als unterstellt, und die Schuldigen keineswegs eindeutig identifizierbar. Zum anderen werden bei einer HI in jedem Fall auch eindeutig Unschuldige gefährdet, ja möglicherweise sogar die Personen, denen man eigentlich helfen will.34 Wollte man dies ausschließen, müßte ein entsprechender militärischer Einsatz so gestaltet werden, daß es nur direkte Kontakte der intervenierenden Partei mit den individuellen Agressoren gibt. Dies würde wiederum zu einer starken Selbstgefährdung führen. Im Kosovo-Krieg, bei dem die Situation vor Ort im Gegensatz zu anderen potentiellen Interventionsszenarien noch relativ übersichtlich war, kam es deshalb zu einigen zivilen Opfern. Dies ist aus einer moralischer Perspektive nur schwer zu rechtfertigen.35 Schließlich war der ursprünglich überzeugende Grund für eine HI die schwerwiegende Bedrohung bzw. Verletzung des individuellen Wohls. Nun wird bei dem Einsatz aber das Wohl andererin gravierender Weise verletzt. Die mögliche Verteidigungsstrategie, wonach die Schuld daran einer Gruppe (den Serben z.B.) zugeschrieben wird, ist mit der individuenbezogenen Logik der ursprünglichen Argumentation nur schwer in Einklang zu bringen. Denn damit würde einer Form von Sippenhaft das Wort geredet. Es ist entscheidend für eine gerechtfertigte HI, daß die Diskriminierung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten strikt eingehalten wird. Und es erscheint mir fraglich, wie sie in den unübersichtlichen Konstellationen, die man in der Realität vorfindet, durchgehalten werden kann.36
Auflösung des Dilemmas?
Der Rechtfertigungsversuch deckt also ein zugrundeliegendes moralisches Dilemma einer HI auf. Eine Pflicht spricht für, die andere gegen eine militärische Intervention, und beide lassen sich nicht zugleich erfüllen. Aber möglicherweise kann das Dilemma aufgelöst werden.37 Schließlich könnte man dafür argumentieren, daß eine der involvierten Pflichten Vorrang genießt. Ich werde im folgenden einige entsprechende Strategien vorstellen und kritisch diskutieren. Letztlich scheint mir keine vollständig zu überzeugen.
Von Seiten der Interventionsbefürworter mag etwa argumentiert werden, daß die Schädigung bzw. Gefährdung Unschuldiger eine von Seiten der intervenierenden Partei zwar vorhersehbare, aber nicht-intendierte Folge des Eingriffs sei. Solche unbeabsichtigten Konsequenzen seien moralisch akzeptabel, und von daher werde im Fall einer HI die Pflicht zur Nichtschädigung Unschuldiger gar nicht wirklich verletzt. Das damit angesprochene, sogenannte Prinzip der Doppelwirkung findet seine profane Übersetzung in der militärischen Redeweise von “Kollateralschäden”.38
Das Prinzip der Doppelwirkung fordert die Erfüllung von vier Bedingungen: Erstens, die Handlung selbst muß gut oder moralisch neutral sein. Zweitens, der direkte Effekt (z.B. die Zerstörung von militärischen Einrichtungen oder der Angriff auf Aggressoren) muß moralisch akzeptabel sein. Drittens, die Intention des Handelnden muß gut sein, und die schlechten Folgen dürfen weder sein Ziel, noch Mittel zu seinem Ziel sein. Viertens, die guten Folgen müssen hinreichend gut sein, um die schlechten Effekte zu kompensieren.
Die Intention der intervenierenden Partei ist es, so könnten die Befürworter argumentieren, Menschen in Not zu retten. Vorausgesetzt ist auch, daß dies nur mit militärischen Mitteln möglich ist – als ultima ratio. Die schlechten Folgen des Eingriffs, so das Argument weiter, sind zwar vorhersehbar, aber nicht beabsichtigt. Sicher wäre es schön, wenn es Waffen gäbe, die erkennen können, wer unschuldig und wer Aggressor ist. Der Wunsch nach “smarten” Waffensystemen, die Kollateralschäden möglichst minimieren, beweise ja die ausschließlich gute Absicht. Kurz: Die Schädigung von Unschuldigen ist eine Konsequenz der Intervention, aber moralisch gerechtfertigt, da nicht beabsichtigt.
Man wird wohl kaum bestreiten können, daß es für die moralische Beurteilung des Handelnden durchaus eine Rolle spielt, ob er eine schlechte Folge seiner Handlung beabsichtigt hat oder nicht. Insbesondere wird er eher entschuldigt für diese Ergebnisse, sollte er durch eine gute Intention geleitet gewesen sein. Die Frage ist aber, ob das an dieser Stelle wirklich relevant ist. Wesentlich ist doch offenbar vielmehr die Bewertung der Handlung selbst, und dafür sind insbesondere die absehbaren Folgen wesentlich, seien sie nun intendiert oder nicht. Ist das Töten etwa nur dann moralisch zu verurteilen, wenn es beabsichtigt ist, d.h. einen Mord darstellt? Die Doktrin der Doppelwirkung jedenfalls läuft tendenziell Gefahr, die Verwerflichkeit so mancher Handlungen – seien sie auch von moralisch vorbildlichen Personen hervorgebracht – zu verdecken. Im schlimmsten Fall rechtfertigt sie die übliche Redeweise des “ich-wollte-doch-nur-Gutes”.
Weitaus ehrlicher wäre es wohl, nicht die Intentionen des Handelnden in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die – zumindest im Fall der HI – offensichtlich der ganzen Legitimationslogik des Prinzips der Doppelwirkung zugrunde liegende Abwägung verschiedener Handlungsfolgen.39 Es ist ja nicht so, daß eine gute Folge (die angeblich intendierte) und eine schlechte (die unbeabsichtigte) unabhängig voneinander gegenüber stünden. Vielmehr beinhalten sowohl Eingreifen wie Nicht-Eingreifen jeweils gute und schlechte Folgen. Die Bewertung einer HI hängt von der Gesamtbewertung dieser Folgen ab, nicht davon, ob die Intervenierenden nur Gutes tun wollten. Die tadellose Intention wird ja vielmehr üblicherweise als Bedingung einer legitimen HI vorausgesetzt und ist an dieser Stelle der Betrachtung eine bloße Selbstverständlichkeit. Was es aber heißt, das Beste zu tun, ergibt sich nicht aus der Einstellung der Handelnden, sondern aus der Bewertung von Handlungsoptionen. Es mag zwar sein, daß die schlechten Handlungsfolgen tatsächlich insgesamt gerechtfertigt sind; das hat dann aber nichts mit den Intentionen der Handelnden zu tun, und deshalb ist die Art der Rechtfertigung über das Prinzip der Doppelwirkung nicht überzeugend.
Noch einmal kurz zusammengefaßt: Es mag sein, daß das Prinzip der Doppelwirkung sinnvoll auf manche moralische Probleme angewendet werden kann. Im hier interessierenden Zusammenhang hilft es aber nicht weiter, denn die Frage ist im Augenblick, ob man Unschuldige gefährden oder sogar töten darf, während man anderen zu Hilfe eilt. Der Zweck des Helfens ist schon vorher als legitim ausgewiesen worden – insofern kann auch die gute Absicht der intervenierenden Partei bereits vorausgesetzt werden. Alles kommt darauf an, wie die schlechten Folgen – die Schädigung Unschuldiger – im Verhältnis zu den guten – die Rettung von Menschen in Not – bewertet werden. Der Bezug auf die Intentionen verschiebt dabei nur das Problem. Das Prinzip der Doppelwirkung erweist sich als deontologische Maske derjenigen, die Nutzenabwägungen nur mit schlechtem Gewissen durchführen.
Ein zweiter Weg, für die Legimität einer HI zu argumentieren, besteht darin, die Pflicht zur Hilfe als schwerwiegender anzusehen als die Pflicht zum Nicht-Schädigen. Es ist relativ einfach, sich Szenarien auszudenken, in denen genau das einleuchtet, es also gerechtfertigt ist, die eine Pflicht zu verletzen, um der anderen gerecht zu werden. Nehmen wir an,40 man kommt an einem Autounfall mit Schwerverletzten vorbei und will einen Krankenwagen rufen. Die im nahegelegenen Haus wohnende alte Dame weigert sich zu öffnen und glaubt nicht, daß Menschen in Not sind. Da kommt die Enkeltochter des Weges. Es ist anscheinend moralisch gerechtfertigt, ihr den Arm umdrehen, so daß ihre Schmerzensschreie die Oma dazu bringt, die Türe zu öffnen, und somit der Weg frei ist, um über das Telefon Hilfe zu rufen.
Ich denke, daß nur sehr überzeugte Kantianer bereit wären, diesen Schluß nicht zu ziehen, aber wie auch immer: für die Rechtfertigung einer HI hilft auch diese Strategie nicht weiter, denn sie überzeugt eigentlich nur dann, wenn das Leid derjenigen, denen man helfen will, ungleich schwerer wiegt als das derjenigen, denen man schadet. Im genannten Beispiel standen große Schmerzen und möglicher Tod gegen leichte, kurze Schmerzen. Im Falle der HI ist aber zumindest die Art des möglichen Schadens bzw. Leids für beide Seiten – sowohl die Menschen, denen durch die Intervention geholfen werden soll, als auch die gefährdeten Unschuldigen – auf einer Stufe: es geht um Leib und Leben. Da sich die Qualität des bekämpften Leids auf der einen Seite nicht von dem in die Welt gesetzten auf der anderen Seite unterscheidet, scheint es sinnvoll, gleich auf die wohl überzeugendste und bereits angedeutete Argumentation für eine HI überzugehen – der utilitaristischen.
Utilitaristen wägen ab, welche Handlungsoption voraussichtlich den größeren Nutzen bringt. Sollte sich erweisen, daß eine HI mehr Menschenleben zu retten verspricht, als sie an unschuldigen Leben wahrscheinlich kosten wird, dann sollte sie durchgeführt werden. Meines Erachtens liegt diese Argumentation den meisten befürwortenden Stellungnahmen zugrunde – wenn auch meist uneingestanden, weil utilitaristische Erwägungen für viele als diskreditiert gelten. Ich will an dieser Stelle nicht so viel über die Argumentationsstrategie als solche sagen, sondern auf einen interessanten Punkt hinweisen, der sich eher aus einer Metaperspektive zeigt: Der Utilitarismus gilt nämlich in der üblichen Interpretation als unvereinbar mit einer rechteorientierten Moraltheorie. Ja, es wird behauptet, einer der größten Nachteile des Utilitarismus sei dessen Unfähigkeit, moralische Rechte zu begründen. Das Individuum würde dem Gesamtnutzen geopfert bzw. letztlich sei so ziemlich alles erlaubt, sollte es nur den Nutzen insgesamt steigern etc.41
All diese Einwände sind wohlbekannt, was sie zwar in meinen Augen nicht überzeugender macht, hier aber akzeptiert werden soll. Interessant ist nun, wie – ausgehend von einer individuellen Moral universeller Achtung – unsere Diskussion unversehens bei einer nutzenorientierten Perspektive gelandet ist, einem Ansatz also, der angeblich dieser individuenbezogenen Logik widerspricht. Nun könnte man sagen: Kein Problem, eine überzeugende Moraltheorie kann durchaus von einer deontologischen Plattform ausgehen und dann im Falle von Pflichtenkollisionen utilitaristische Hilfs- bzw. Vorrangprinzipien einbauen.42
In der Tat scheint mir eine solche utilitaristische Ergänzung die einzige einigermaßen überzeugende Rechtfertigungsstrategie der Interventionsbefürworter zu sein. Allerdings möchte ich auf ein gewisses Unbehagen hinweisen, das entsteht, wenn Deontologen plötzlich nutzenorientiert argumentieren. Die Hauptschwierigkeit der angeführten Argumentation besteht nämlich darin, den unschuldigen potentiellen Opfern einen einleuchtenden Grund zu liefern, warum sie ihren möglichen Tod durch die Rettung anderer gerechtfertigt sehen sollten. Beginntman von einem utilitaristischen Ausgangspunkt, ist dieser Schritt nicht so schwer.43 Aber die Bedingung, nur solche Handlungen auszuführen, denen ein jeder vernünftigerweise hätte zustimmen können, ist eine Grundvoraussetzung der universalistischen Achtungsmoral, die eben im Fall einer HI alles andere als einfach zu erfüllen ist. Deshalb wird letztlich der Eindruck erweckt, von Seiten der Interventionsbefürworter sei bloß irgendein Argument zugunsten des gewünschten Beweisziels gesucht, ob es nun zur zugrundeliegenden Moraltheorie paßt oder nicht.44
Zugegeben, möglicherweise kann jemand zeigen, daß von den unschuldigen Opfern einer Intervention tatsächlich vernünftigerweise deren Zustimmung gefordert werden kann. Schließlich wird auch bei vielen gemeinschaftlichen Entscheidungen, die zu Lasten Einzelner gehen, dieses Einverständnis tatsächlich erwartet – so nehmen wir beispielsweise Hunderte unschuldiger Opfer im Straßenverkehr in Kauf. Doch ist das für die Frage nach der Legitimität einer HI ein vergleichbarer Fall? Immerhin ist es in diesem Beispiel für die Betroffenen möglich, ihr Risiko selbst zu beeinflussen (wenn sie es auch natürlich nicht vollständig bestimmen können), während es in Falle einer Intervention gänzlich von außen verursacht und bestimmt wird.
Abschließend sollen nun die Interventionsgegner zu Wort kommen: Eine mögliche Argumentation operiert mit der offensichtlichen Asymmetrie der involvierten Pflichten. So fordert die eine ein Tun – eine Hilfsleistung -, die andere ein Unterlassen– das Nicht-Schädigen. Nun wird damit nicht behauptet, von der Moral würden nur Unterlassungen gefordert; diese Auffassung wurde weiter oben bereits zurückgewiesen. Wir haben oft auch die strikte und von der Gerechtigkeit geforderte Pflicht, etwas zu tun. Dennoch, so kann argumentiert werden, im Falle des Konfliktseiner Hilfs- und einer Unterlassungspflicht wie im Falle der HI führt die genannte Asymmetrie zu einem Vorrang der Unterlassung, weil es besser ist, etwas Schlechtes zu unterlassen, als etwas Gutes zu tun. Der Grund für dieses Prinzip liegt darin, daß der eigenen Verursachung eines Resultats ein wichtiger moralischer Stellenwert zukommt.45
Erneut müßte für eine hinreichende Bewertung der vorgestellten Argumentation viel grundlegender angesetzt werden. Ob sie überzeugt, hängt letztlich auch von der Moralauffassung ab, die man vertritt. 46 Davon einmal abgesehen, gibt es aber zumindest eine Überlegung, die diesen Vorrang der Unterlassung im Falle des Konflikts stützt, insbesondere in bezug auf die Erwägung einer HI. Denn im hier interessierenden Fall scheinen die Maßstäbe für eine intervenierende Partei strenger zu sein als für eine bereits beteiligte. Handelt jemand in Selbstverteidigung – wie etwa die Alliierten im zweiten Weltkrieg -, so scheint die Lage anders als im Falle einer von außen hinzutretenden Partei. Diese, so scheint mir, hat strikt die Schädigung Unschuldiger zu vermeiden und auch insbesondere einen kleineren Spielraum für die Inanspruchnahme des Rechts auf Minimierung der Eigengefährdung – was selbstverständlich nicht bedeutet, daß jener alles darf. Auch die Selbstverteidigung unterliegt moralischen Regeln. Nur scheinen diese eben für den Hinzutretenden noch strenger zu sein. Konkret: Die NATO hätte bei der Bombardierung serbischer Stellungen und sonstiger Ziele ihren eigenen Schutz weit weniger in den Vordergrund stellen dürfen, als sie es getan hat. Denn dieser Eigenschutz konfligiert mit dem Schutz Unschuldiger.
Die genannte moralische Asymmetrie zwischen einer hinzutretenden und einer bereits involvierten Partei ergibt sich aus der unterschiedlichen Situation, in der sich Handelnde befinden, wenn sie sich entweder die Rolle des (Not-)Helfenden aneignen – so wie im Fall der HI – oder sich in eine bestimmte Rolle gedrängt sehen – wie im Falle der Selbstverteidigung oder auch der zufälligen Konfrontation mit einem Notfall. Denn der Hinzutretende kann erwägen, ob er eingreift oder nicht; der Involvierte muß handeln.
Ich habe verschiedene Wege untersucht, das Dilemma aufzulösen. Keiner scheint mir endgültig überzeugend. Auf der Seite der Interventionsbefürworter sind die schlagkräftigsten Argumente in utilitaristischen Erwägungen zur Maximierung des Nutzens zu finden, welche die grundsätzlich individuenbezogene Moraltheorie ergänzen. Konkret heißt das: Die Rettung vieler Menschenleben wiegt die dabei erfolgende mögliche Tötung weniger Menschen auf. Auf der Seite der Gegner kann insbesondere die spezifische Asymmetrie eines bereits Beteiligten gegenüber einem Hinzutretenden, und die damit einhergehende moralische Relevanz der Autorenschaft von schlechten Folgen in Anschlag gebracht werden. Welche Argumentation Anhänger findet, hat offenbar nicht nur mit den zugrundeliegenden moralischen Intuitionen zu tun, sondern auch mit den spezifischen Interessen, welche man überzeugender finden will.
Eine einseitige Hervorhebung des zu beseitigenden Leids unschuldiger Menschen, ohne an das durch einen militärischen Eingriff gleichzeitig verursachte Leid zu denken, führt zu einer Vereinfachung, die der Unübersichtlichkeit der Konflikte, in die man eingreifen könnte, nicht gerecht wird.47 Das bedeutet nicht, daß die Pflicht zur Hilfe nicht greifen würde – nur ist die Frage sehr viel schwieriger zu beantworten, was genau getan werden soll. In manchen Fällen kann anscheinend ohne militärische Mittel nichts mehr erreicht werden. Ob es dabei überhaupt möglich ist, die Hilfe nicht auf Kosten Unschuldiger zu leisten, kann aus dem philosophischen Lehnstuhl heraus nicht beantwortet werden. Klar ist immerhin, daß hierzu ein sehr hohes eigenes Risiko eingegangen werden muß, da der Eigenschutz mit der Vermeidung von Schädigungen Unschuldiger konfligiert. Aber auch ohne militärische Maßnahmen kann man Hilfe leisten: Politischer und wirtschaftlicher Druck auf Aggressoren, Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und – eine Anregung, die als zynisch gilt, aber m.E. eingedenk des normativen Patts bedenkenswert ist – die Bewaffnung der Opfer von Aggression.48 Wenn durch die paternalistische Übernahme des Selbstverteidigungsrechts unauflösbare moralische Probleme entstehen, dann scheint mir der bessere Weg, den Betroffenen die Möglichkeit zu eröffnen, es selbst zu verwirklichen.
Es fällt mir schwer, aus diesen Überlegungen ein kurzes Fazit zu ziehen. Immerhin hat es sich gezeigt, daß eine moralphilosophische Untersuchung der HI hilfreich und notwendig ist, um aus dem engen völkerrechtlichen Korsett auszubrechen. Das üblicherweise gegen eine HI in Anschlag gebrachte Souveränitätsrecht der Staaten hat sich als überwindbare Hürde erwiesen. Auch der verbreitete Verweis auf angeblich unlautere Motive der intervenierenden Partei hat nicht beeindruckt. Hingegen führte das Dilemma zwischen der Pflicht zur Hilfe und der Pflicht zur Nichtschädigung Unschuldiger vor Augen, wie problematisch letztlich eine Interventionslegitimation doch ist. Ob die diskutierten Strategien überzeugen oder nicht, hängt kaum noch von den Argumenten selbst, als vielmehr von grundlegenden moralischen Intuitionen ab. Solange aber die in der Welt vorgefundenen Konflikte derart unübersichtlich sind, die Unterscheidung von Agressoren und Unschuldigen derart schwierig, und die Risikobereitschaft der potentiell Intervenierenden derart klein ist, sollte man m.E. keine militärischen Eingriffe wagen. Es mag sein, daß dennoch einiges für die Betroffenen getan werden kann. Zumindest sind es lohnenswerte Ziele, sich der zivilen Hilfe für Opfer und der zukünftigen Kriegsvermeidung zu widmen.
Ein Anfang wäre wohl damit getan, den Terminus “Humanitäre Intervention” als Folge des politischen Neusprech zu identifizieren und daher zu verbannen. Denn in der heutigen Welt ist er bestenfalls ein Euphemismus, schlimmstenfalls ein Widerspruch in sich.49
Dieser Text entstand zum größten Teil während eines Forschungsaufenthalts am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Mein herzlicher Dank gilt den Fellows und Mitarbeitern dort, die eine großartige Atmosphäre schufen – nicht nur zum Arbeiten.
Ähnliche Definition finden sich bei Stefan Oeter, Humanitäre Intervention und Gewaltverbot: Wie handlungsfähig ist die Staatengemeinschaft?, in: , hg. von Hauke Brunkhorst, 1998, 37-60 und Christopher Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, ebd., 15-36.
Etwa bei Pierre Laberge, "Humanitarian Intervention: Three Ethical Positions", (1995), 16.
Natürlich sind auch "Blauhelme" letztlich Soldaten verschiedener Nationen. Diese handeln aber im Auftrag der UNO, gewissermaßen unter deren Flagge. Die Inanspruchnahme regionaler Truppen durch die UNO ist durch den Artikel 53 (1) der Charta geregelt.
UNO Press Release SG/SM/7232/Rev.1. Andere Autoren, die eine weite Definition vertreten sind Avner De-Shalit, Slaughtering a Few Sacred Cows: Do We Really Oppose International Intervention?, in: , hg. von Tony Coates, 2000, 222ff. und Véronique Zanetti, Die Verrechtlichung der humanitären Intervention: eine Chance oder eine Bedrohung?, in: , hg. von Karl-Josef Kuschel, Alessandro Pinzani, Martin Zillinger, 1999, 207f.
S. Jochen Abr. Frowein, Die Intervention im heutigen System der Weltverfassung, in: , hg. von Hartmut Jäckel, 1995, 18f.
Georg Meggle, Ist dieser Krieg gut? Ein ethischer Kommentar, in: , hg. von Reinhard Merkel, 2000, 142f. z.B. bezieht sich in seiner Definition zunächst nur auf die Absicht der intervenierenden Partei, macht allerdings im Verlaufe seines Artikels klar, daß die moralische Bewertung einer HI sich auch an der Art der Mittel und Folgen orientiert. Meiner Meinung nach sollten Interventionen, die mit einer humanitären Absicht, aber mit inhumanen Mitteln durchgeführt werden bzw. absehbar inhumane Folgen mit sich führen, nicht als humanitäre Interventionen gelten. Im folgenden konzentriere ich mich zwar ebenso wie Meggle auf die moralische Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Mittel. Dennoch sehe ich auch ein begriffliches Problem bei der Verwendung des Ausdruck "HI". Es mag Fälle geben, wo der Einsatz militärischer Mittel das Prädikat "humanitär" verdient (und möglicherweise dennoch illegitim ist), aber das muß nicht immer so sein.
S. z.B. die Überschrift der Leserbriefe zu Habermas´ Artikel in der (Jürgen Habermas, "Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral", 29.4.99; wiederabgedruckt in Merkel(Fn. 7), 51-65), die lautet: "Welch ein schöner Traum!"
S. etwa Greenwood(Fn. 2) für einen Überblick.
Daß legal nur interveniert werden darf, wenn der Sicherheitsrat die Maßnahmen sanktioniert hat, wurde zumindest im Fall des Krieges der NATO gegen Serbien zu einem zentralen Argument der Gegner. Bekanntermaßen fehlte die notwendige Zustimmung des Sicherheitsrates in diesem Fall. Eine wichtige Verteidigung besteht im Verweis auf die Figur der Nothilfe, auf die ich später zurückkomme. Angeblich ist bei der Nothilfe eine solche Genehmigung unnötig.
Man könnte hier nicht ganz zu unrecht einwenden (Horst Fischer, Der Schutz von Menschen im Krieg. Humanitäres Völkerrecht und Humanitäre Intervention, in: , hg. von Volker Matthies, 1993, 97f.), daß Maßnahmen der UNO nach Kapitel VII gar keine HI sind, da die Charta laut Artikel 2 eine Intervention in innere Angelegenheiten der Staaten generell ausschließt, und außerdem mit der Einschätzung einer gegebenen Situation als Bedrohung des Weltfriedens (nach Kapitel VII ) diese aus dem Bereich innerstaatlicher Angelegenheiten herausgehoben wird. Stattdessen sollte von "kollektiver Sicherung" gesprochen werden. Ich belasse es bei diesem Hinweis, denn mir geht es in meiner Untersuchung nicht in erster Linie um eine begriffliche Frage, sondern darum, wie man generell militärische Eingriffe zum Schutz bedrohter Personen bewerten kann.
Wenn sich die Legalität bzw. Illegalität einer HI nicht exegetisch klären läßt - so könnte man dieses Argument reformulieren - dann sollte man ein Verfahren bestimmen, das hierüber ein Urteil hervorbringt. Dieser Vorschlag wurde in der Diskussion meines Referats auf der Tagung gemacht.
Hier könnte man wiederum einwenden, das sei eine naive Sichtweise. Schließlich würden im Sicherheitsrat bloß nationale Interessen verhandelt. Wenn aber die UNO und damit auch der Sicherheitsrat irgendeine sinnvolle Funktion haben sollen, dann müssen sie eine normative Perspektive einnehmen (die durchaus auch egoistische nationale Interessen beinhalten kann, aber dadurch nicht allein bestimmt ist).
S. Bruno Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: Merkel (Fn. 7), 18ff.
S. Noam Chomsky, "Das Besorgnis erregende Konzept vom Schurkenstaat", (August), 12-13
S. z.B. Reinhard Merkel, Das Elend der Beschützten. Rechtsethische Grundlagen der sog. humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in: Merkel (Fn. 7), 66-98 und Dieter Senghaas, Recht auf Nothilfe, in: Merkel (Fn.7), 99-114
"Erweitert", weil die Charta selbst nicht ausdrücklich Individuen als Träger des Selbstverteidigungsrechts erwähnt. Allerdings sind Einzelpersonen inzwischen auch im Völkerrecht als Träger von Rechten anerkannt - was sind Menschenrechte, wenn nicht individuelle Rechte, und diese werden ja schließlich von der Charta in den Vordergrund gestellt? Von daher können sich auswärtige Intervenierende auf das Nothilferecht im Sinne des Artikels 51 berufen. Siehe hierzu Merkel (Fn. 16), 80ff.
UNO-Dokument A/54/2000, 37 ()
S. Véronique Zanetti, Ethik des Interventionsrechts, in: , hg. von Christine Chwaszcza und Wolfgang Kersting, 1998, 297-324 und Bernd Ladwig, "Militärische Intervention zwischen Moralismus und Legalismus", (1) (2000), 133-147
S. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: , Band VIII, 1968, 341-386; John Stuart Mill, A Few Words on Non-Intervention, in: , 1984, 111-124; Michael Walzer, , 2nd Edition, 1992; Michael Walzer, The Moral Standing of States: A Response to Four Critics, in: , hg. von Charles Beitz etc., 1985, 217-237; John Rawls, Das Völkerrecht, in: , hg. von Stephen Shute und Susan Hurley, 1996, 53-103; John Rawls, The Law of Peoples, 1999; Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: , hg. von Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, 1996, 7-24; Otfried Höffe, Für und Wider eine Weltrepublik, in: Chwaszcza (Fn. 19), 204-222
S. Charles Beitz, Cosmopolitan Liberalism and the States System, in: , hg. von Chris Brown, 1994, 125, Höffe(Fn. 20), Habermas(Fn 20)
S. z.B. Walzer(Fn. 20), JUW, 53ff.
S. etwa Laberge(Fn. 3) und seine Kritik an der Argumentation für "reform interventions" (die er Beitz zuschreibt). Brian Barry, International Society from a Cosmopolitan Perspective, in: , hg. von David R.Mapel und Terry Nardin, 1998, 144-163 hingegen überlegt sogar, ob militärische Interventionen zur Sicherung der gerechten Güterverteilung in 3.Welt-Staaten möglicherweise gerechtfertigt sind. Bei solch weitgehenden Erwägungen ist der häufig geäußerte Verdacht eines drohenden Gerechtigkeitsimperialismus m.E. nicht so leicht von der Hand zu weisen. Walzer (Fn. 20), MSS, 237, bemerkt dazu nur trocken: "But I don´t believe that the opposition of philosophers is a sufficent ground for military invasion." Skeptisch gegenüber überzogenen liberalen Ansprüchen an die Legitimität von Staaten äußert sich auch Rawls (Fn 20), LP, der liberale und "anständige" (decent) Staaten unterscheidet. Beide Formen genießen vollen Schutz durch das Interventionsverbot.
S. Michael Ignatieff, "The New American Way of War", 20.July 2000, 42-46. Auf dieses wichtige Problem komme ich zurück.
S. Thomas W. Pogge, "An Institutional Approach to Humanitarian Intervention", (1) (1992), 90f.
S. auch Henry Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, in: , hg. von Stefan Gosepath und Georg Lohmann, 1998, 359: "Selbst wenn der Gehalt eines Rechts in der gänzlich negativen Bestimmung läge, vollkommen in Ruhe gelassen zu werden, so berufen sich Menschen doch nicht einfach auf das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, um alle anderen Beteiligten bloß in Kenntnis zu setzen, damit diese, derart informiert, sich artig den Wünschen entsprechend verhalten können. Im Gegenteil. Jemand beruft sich auf das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, um von Dritten Schutz zu erhalten gegenüber jenen anderen, die sich in Wahrheit nicht dazu entschließen können, jemanden in Ruhe zu lassen."
"(...) membership of a society does not have deep moral significance", Barry(Fn. 23), 145.
Noch nicht einmal strikte Kommunitaristen, die besondere Verpflichtungen im Nahbereich ausmachen, würden m.E. diese Position in bezug auf fundamentale Schutzbedürfnisse in Zweifel ziehen.
Was den kanadischen Kommandant dieser Truppen, General Dallaire, später zu der Aussage bewegte, wenn die eingreifenden Parteien sowieso nicht bereit seien, das Leben ihrer Soldaten zu riskieren, sollte man doch Pfadfinder schicken. Der Hinweis findet sich bei Kwame Anthony Appiah, "Living With Cockroaches", 25.6.99, 32. Das von Appiah in diesem Artikel rezensierte Buch trägt den pointierten Titel "We Wish to Inform You That Tomorrow We Will be Killed With Our Families".
Hier wäre ich auch sehr viel skeptischer als etwa Thomas W. Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignity, in: Brown (Fn. 21), 89-122 oder Barry (Fn. 23). Eine aufschlußreiche Kritik findet sich bei David Miller, , in: Mapel (Fn. 23), 164-181. Aber selbst er bestreitet die These des moralischen Globalismus nicht auf einer Ebene basaler Bedürfnisse: "If we reflect on what we owe to other human beings considered merely as such, apart from all the particular relationships in which we stand to them, the best answer is going to be 'respect for their basic human rights,' (...)", 176. Eine interessante, eher historisch ausgerichtete Abhandlung zum Kosmopolitismus ist Martha C. Nussbaum, "Duties of Justice, Duties of Material Aid: Cicero´s Problematic Legacy", (2) (2000), 176-206.
Wolfgang Kersting, Bewaffnete Intervention als Menschenrechtsschutz, in: Merkel (F. 7), 208 behauptet hingegen: "Von einem Recht zur Intervention kann sinnvoll nur dann geredet werden, wenn eine Pflicht zur Intervention besteht." (Kursiv im Original.) Seine Argumentation in diesem Zusammenhang finde ich im Vergleich zu seinen üblicherweise luziden Bemerkungen außerordentlich verwirrend. Sie beruht auf der Überzeugung, daß - "semantisch gesehen" - dem in frage stehenden Recht eine entsprechende "Fremdverpflichtungsbefugnis" gegenüberstehen müsse, die bei einer HI aber fehle. Mir ist dieser Einwand gegen ein von der Pflicht zur HI unabhängiges Recht darauf unverständlich, denn der Anlaß einer HI besteht doch gerade darin, daß eine bestehende Pflicht (zum Unterlassen von Schädigungen) verletzt wurde. Man hat das Recht, anderen zu helfen, ihr verletztes Recht durchzusetzen. Ob man darüberhinaus dazu auch die Pflicht hat, kann sinnvoll gefragt werden. Das hängt davon ab, ob der Notleidende ein Recht auf Hilfe hat.
S. z.B. Peter Singer, , 2nd Edition, 1993; Peter Unger, , 1996.
S. Henry Shue, , 1980; Peter Koller, Der Geltungsbereich der Menschenrechte, in: (Fn. 26), 96-123. Pogge (Fn. 30), 92 interpretiert auch die Pflicht zur Hilfe (die bei ihm indirekt, bezogen auf Institutionen, verstanden wird) als eine negative, indem er formuliert: "I have a duty towards every other person not to co-operate in imposing an unjust institutional scheme upon her (...)"
S. Adam Wolfson, "How to Think About Humanitarian War", (1) (2000), 44-48, der in diesem Zusammenhang auf Theodore Roosevelts "patriotischen Humanismus" verweist. Man muß nicht gleich Wolfsons konservativen Grundtenor teilen, um seine Kritik an der Forderung nach selbstlosen HI zu würdigen.
Sollten die Betroffenen dem Risiko, einen Schaden zu erleiden, selbst zustimmen, wird das moralische Problem entschärft. Von dieser Zustimmung kann aber kaum ausgegangen werden - zumindest nicht bei den unschuldigen Gruppenmitgliedern der Aggressoren.
Walzer(Fn. 20), JUW, 95, weist ebenfalls auf diese Schwierigkeit hin und er betont, daß hierin keineswegs nur ein rein militärisches, sondern vielmehr ein moralisches Problem liegt: "A state contemplating intervention or counter-intervention will for prudential reasons weigh the danger to itself, but it must also, and for moral reasons, weigh the dangers its actions will impose on the people it is designed to benefit and on all other people who may be affected." (Hervorhebungen im Original). S. auch Thomas Nagel, War and Massacre, in: ders., , 1979, 69f.
Was aber, wenn Interventionen in eine Umgebung erfolgen, in der die Gesellschaft zerfallen ist, in der vielleicht keine staatlichen Instanzen mehr funktionieren, in der Banden- oder Stammeskrieg die höchste soziale Organisationsform darstellt? (...) Gegen das Unrecht, die Gewalt und das Morden zu sein ist einfach, aber gegen welche Gruppen, Grüppchen und Personen soll man vorgehen? (...) Diese Problematik erreicht dann ihren Höhepunkt, wenn das Morden nicht mehr von politischen Instanzen oder Militärkommandanten befohlen, sondern an der sozialen Basis einer Gesellschaft von den Zivilisten selbst besorgt werden. (...) In zunehmendem Maße sind Konflikte nicht von klaren Grenzlinien, durch leicht zu identifizierende Akteure gekennzeichnet, sondern von Situationen des Chaos.", Jochen Hippler, Krieg und Chaos. Irreguläre Kriegführung und die Schwierigkeiten externer Interventionen, in: Matthies(Fn. 11), 147f. Siehe auch Arno Truger, Krisenintervention durch Peacekeeping und Peacebuilding, in: , hg. von Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, 1996, 119-134.
Einige Philosophen behaupten, ein unauflösbares Dilemma dürfe es in einer überzeugenden Moraltheorie nicht geben.
Zum Prinzip der Doppelwirkung siehe Walzer (Fn. 20), JUW, 152ff.; Warren Quinn, "Actions, Intentions, and Consequences. The Doctrine of Double Effect", (4) (1989), 334-351; Philippa Foot,Das Abtreibungsproblem und die Doktrin der Doppelwirkung, in: , hg. von Anton Leist 1990, 196-211; G.E.M. Anscombe, War and Murder, in: . Third Edition, hg. von James Rachels,1979, 393-407. Eine einflußreiche Kritik des Prinzips stammt von Jonathan Bennett, "Whatever the Consequences", Analysis 26 (1966),83-102 und ders., "Morality and Consequences", in: , 1981. Sehr kritisch auch Merkel (Fn. 16), 73f., 93.
Diese Abwägung steckt in der vierten Bedingungen des Prinzips, wonach die intendierten Folgen hinreichend gut sein müssen, um die schlechten auszugleichen.
Das Beispiel habe ich von Thomas Nagel, , 1991, 79f. übernommen und ein wenig vereinfacht.
Wobei ich darauf hinweisen möchte, daß ein Unterschied besteht zwischen Beispielen, die häufig gegen den Utilitarismus in Anschlag gebracht werden und der an dieser Stelle zu verhandelnden Frage nach der Legitimität einer HI. Im ersten Fall geht es um die Schädigung Dritter, um andere zu retten (z.B. die Tötung und Ausschlachtung eines Menschen, um mit dessen Organen mehrere andere am Leben zu halten), im zweiten um die Schädigung Dritter bei der Rettung anderer. Einmal ist die Schädigung ein Mittel, einmal eine Nebenfolge der Hilfeleistung. Dennoch führt die utilitaristische Argumentation zu einem Konflikt mit der zugrundegelegten Theorie universeller moralischer Achtung, wie ich gleich noch zeigen möchte.
So ähnlich hat das Georg Lohmann in der Diskussion meines Vortrags formuliert. Und in der Tat hat z.B. Thomas Scanlon, , 1998, 229ff. einen solchen Versuch unternommen. Die Situationen, in denen er "Aggregierungen" zulassen will, scheinen mir aber anders gelagert zu sein, da es hier ausschließlich um bereits involvierte Personen geht (ob aufgrund eigenen Verschuldens oder nicht spielt hier keine Rolle). Im Falle der HI ziehen die Intervenierenden durch ihr Handeln hingegen unschuldige Personen in eine Situation möglichen Schadens hinein.
Wobei bezüglich dieser Option darauf hingewiesen werden sollte, daß offenbar noch viel mehr Menschen gerettet werden könnten, wenn man die militärischen Ausgaben einer Intervention statt dessen in die Versorgung der Menschen in der 3.Welt mit Lebensnotwendigem investieren würde. Wenn man also Menschen in schwerer Not helfen sollte, warum dann nicht auf einfachem, effizienten und unblutigem Weg? Zwar würden hier die Leben anderer Menschen gerettet - aber zählen nicht alle Menschen gleich viel?
Dieser Verdacht wird erhärtet, wenn man sich vor Augen führt, daß Autoren wie Merkel (Fn. 16), 89ff., der ebenso wie die Interventionsbefürworter von einer universalistischen Achtungsmoral ausgehen, mit guten Gründen Zweifel an der Überzeugungskraft der genannten utilitaristischen Abwägung anmelden.
Hiermit artikuliert sich eine leicht anders gelagerte moralische Asymmetrie zwischen Tun und Unterlassen, als sie üblicherweise vorgebracht und etwa von den Utilitaristen attakiert wird. Die Behauptung besteht nicht darin, daß generell ein moralischer Unterschied bestünde zwischen dem Unterlassen der Hilfe und dem aktiven Schädigen. Wie gesagt, in dieser Argumentation ist bereits akzeptiert, daß eine Unterlassung moralisch ebenso verwerflich sein kann wie ein Tun. Nun geht es im Falle der HI aber um die Frage, ob der Unterschied nicht doch dann einschlägig wird, wenn man etwas Gutes nur tun kann, indem man dabei auch etwas Schlechtes tut. Unterläßt man die Intervention, dann unterläßt man, etwas Gutes zu tun, aber auch, etwas Schlechtes zu tun. In diesem Fall scheint die eigene Verursachung einen moralischen Unterschied zu machen. Utilitaristen würden hier wohl zurück fragen, ob man diese Meinung auch noch dann aufrechterhalten würde, wenn man sehr viel Gutes tun (bzw. unterlassen) kann und dabei nur wenig Schlechtes tut (bzw. unterläßt).
Einschlägige Autoren in diesem Zusammenhang sind Bernard Williams, Philippa Foot, Warren Quinn und - für die Gegenseite, von der aus die moralische Relevanz der Unterscheidung von Tun und Unterlassen hinterfragt wird, z.B. John Harris, Jonathan Glover, Peter Unger.
Die Rolle der Medien ist dabei nicht zu unterschätzen.
Der Vorschlag wurde während des Kosovo-Kriegs von Hans Magnus Enzensberger, "Ein seltsamer Krieg", 14.4.99, 49 gemacht - wenn auch aufgrund anderer Überlegungen, mit denen ich nicht übereinstimme.
Dank an Regina Kreide, Herlinde Pauer-Studer, Stefan Huster sowie die Teilnehmer an der Tagung des Jungen Forum Rechtsphilosophie und die Fellows am IWM in Wien. Ich fürchte, den Einwänden und Anmerkungen bin ich kaum gerecht geworden.
Published 1 April 2001
Original in German
First published by Transit
Contributed by Transit © Thomas Schramme / Transit / Eurozine
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