Tag- und Nachtgeschichten
Martin Korte geht dem knirschenden Verhältnis zwischen Wissenschaft und ihrer Vermittlung nach. Welche Verluste hat die Wissenschaft zu beklagen, was ist der Preis der Reduktion zu Gunsten des Einfachen? Korte gibt sich in seinem Essay durchaus versöhnlich; denn: der Verlust des streng wissenschaftlichen Glanzes bringt im Gegenzug einen fremden Glanz mit sich, der nicht der schlechteste sein muss.
“Das ist das Verhängnisvolle an der wissenschaftlichen Denkweise, die heute die ganze Welt besitzt, dass sie jeder Beunruhigung mit einer Erklärung antworten will.”
Ludwig Wittgenstein
Ein Anruf, eine Zusage, das Filmteam eines Privatsenders trifft ein. Schmieriger Typ, wie erwartet, aber doch überraschend, manchmal überholen uns sogar unsere Vorurteile. Ein Gespräch im Scheinwerferlicht vor den Messinstrumenten eines zellulären Neurobiologen. All das ist reine Kulisse und gerät nicht etwa ins Bild, weil irgendeines der Geräte notwendig mit dem Thema korrespondiert. Fragen nach der Verbindung von Immunsystem und Gehirn waren das eigentliche Thema. Irgendein berühmter Popsänger hat den Krebs überwunden, durch reine Willenskraft, und man wollte wissen, wie man das erklären kann. Das ist in dieser simplen Logik natürlich absurd, aber zum Thema, wie das Gehirn das Immunsystem beeinflusst, gibt es in diesem Zusammenhang viel Wissenswertes zu berichten. Der Jungforscher erklärte nicht nur, dass das Gehirn die oberste Steuerzentrale unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und Handelns ist, sondern auch das oberste Steuerorgan für viele Hormone. Schnell ging es auch um anderes, die Kamera lief weiter und weiter. Das Gehirn kontrolliert auch das Immunsystem des Körpers; das Gehirn als größtes Geschlechtsorgan des Menschen (da es die Produktion der Geschlechtshormone reguliert) ließ den Redakteur aufmerken, der damit sein Soll an Vorurteilsbestätigung mehr als erfüllte. Schnell kam er zur Frage, wie das denn sei, mit dem Orgasmus, wie der denn biologisch zustande komme. Der hier schreibende Jungforscher hätte mit Thomas Laqueur erklären können, dass Sexualität mehr ist als Sex, ebenso real wie konstruiert, Kultur wie Biologie, er hätte auch Woody Allens ‘Orgasmatron’ als Fiktion entlarven können. Aber die Antwort fürs Medium war durch eine selbst gewählte Simplifizierung beim Gedanken an den Acht-Sekunden-Schnitt verkürzt: Also beim Sex (zwischen wem, in welcher Kultur, in welcher Zeit, spielte ebenso keine Rolle wie der Unterschied, was man in Tierversuchen und was man beim Menschen an Resultaten gewonnen hatte) werden, vom Gehirn orchestriert, Hormone freigesetzt, die das Erleben und die Körperreaktionen bei der sexuellen Aktivität steuern. Es ging hierbei in erster Linie um die Signale, die der Hypothalamus, eine erbsengroße Struktur im Gehirn des Menschen, an die Hypophyse übermittelt. Die so angeregte Hypophyse schüttet dann beim Orgasmus den Botenstoff Oxytocin und eine Reihe anderer Substanzen aus. Irgendwie steckt in diesem Oxytocin-Cocktail der Orgasmus. Na ja, es war auch eigentlich nicht Thema, klar wurde es trotzdem gesendet, klar war es vereinfacht, klar war es irgendwie auch richtig, klar war es weder des Jungforschers Forschungsgebiet, noch hatte es etwas mit Gehirn und Immunsystem zu tun, und klar auch, dass ihm das Gelächter der Kollegen sicher war.
Was war schief gegangen? Wie geht man als Neurowissenschaftler mit Komplexität um, wenn man versucht, Zusammenhänge aus der Hirnforschung für die Öffentlichkeit zu erklären? Was geht bei dieser Vermittlung verloren? Was ist generell der Preis eines reduktionistischen Unternehmens, wie sie die Hirnforschung selbst ist?
Im Morgengrauen geht die nachts geborene Komplexität
François Jacob, Nobelpreisträger für Medizin/Physiologie, hat für die Art, in der sich Wissenschaft darstellt, die Metapher des Januskopfes gewählt. Er unterteilt sie in eine ‘Tag-‘ und eine ‘Nachtwissenschaft’. Die Tagwissenschaft ist jener Teil, der die klar strukturierten Gesichtspunkte eines Sachverhaltes betont, aber die benutzten Methoden, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Themen und die Vorgehensweise selbst im Dunkeln lässt. Gemeint ist also der Teil wissenschaftlichen Arbeitens, der sowohl in wissenschaftlichen Publikationen als auch in der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens durch Bild- und Schriftmedien sichtbar wird. In dieser ans Tageslicht gezerrten Wissenschaft greift die Beweisführung wie ein gut geschmiertes Räderwerk ineinander, Resultate haben die Kraft der Gewissheit, ihre majestätische Ordnung lässt sich nur bewundern; stolz auf ihre Vergangenheit schreitet sie im Licht des Fortschritts ihrer Zukunft sicher entgegen.
Demgegenüber steht die komplexe Nachtwissenschaft mit ihrem blinden Irren, Zögern und Stolpern. Hier gerät auch mal ein Wissenschaftler ins Schwitzen, schreckt auf, an allem zweifelnd, hinterfragt er sich, setzt immer wieder neu an und verzweifelt doch oft an komplizierten Methoden, nicht reproduzierbaren Experimenten und unsicheren Fragestellungen – von Kohärenz ist hier noch keine Spur zu sehen. Diese außerhalb des Scheinwerferlichtes agierende Wissenschaft ist eine Art Werkstatt des Möglichen, hier arbeitet das Denken auf verschlungenen Wegen, die sich meist als Sackgassen erweisen. Oft dem Zufall ausgeliefert, irrt der Forschergeist durch ein Labyrinth, auf der Suche nach einem Zeichen, einem Wink, einem unvermuteten Zusammenhang. Findet der Wissenschaftler (oder auch die Wissenschaftlerin) in diesem zähen Ringen tatsächlich ein neues Gefüge, muss es sich einer großen Anzahl von Kontrollexperimenten oder Recherchen stellen. Erst wenn es diesen Kontrollen standhält, kann ein neues Forschungsergebnis in die Tagwissenschaft aufgenommen werden, sprich, es kann in einem Artikel öffentlich gemacht werden. In dieser Form sind die Gedanken geordnet, die Komplexität ist auf ein gemütliches Maß reduziert, die Geschichte wird einleuchtend und überzeugend verfasst. Was im Licht der Tagwissenschaft unterbelichtet bleibt, ist ein wichtiger Teil dessen, was wissenschaftliches Treiben ausmacht: Sie ist eher eine Welt von Gedanken in Bewegung als eine Sammlung in Stein gemeißelter Fakten. Die Niederschrift in Form eines Artikels oder eines Lehrbuches bringt diese Gedanken zum Stillstand und lässt sie so erstarren, als wollte man ein Fußballspiel mit einer einzigen Momentaufnahme wiedergeben. Eine wohl geordnete Parade von Begriffen und Experimenten tritt an die Stelle eines Durcheinanders ungeordneter Anstrengungen. Was auf diesem Wege verloren geht, ist die komplexe Unordnung und die Geschäftigkeit.
Politiker, zum Beispiel, erleben Forschung, wie alle anderen Laien auch, nur durch die Tagwissenschaft. Deshalb kommen sie schnell zu dem Schluss, dass man auf Grundlagenforschung verzichten kann bzw. diese so angelegt sein muss, dass sie von vornherein einem Zweck in Form technischen Fortschritts oder der Heilung von Krankheiten dient. Anwendungsorientiert bedeutet allerdings immer, gegebenes als gesichertes Wissen zu nehmen, und von diesem Wissen aus eine Technik zu entwickeln. Ein ehrenwertes Unterfangen, aber so hätte man weder die Bedeutung des Immunsystems noch das Gefahrenpotenzial von Bakterien und Viren erkennen können. Denn Forschung lässt sich eben nicht planen, wie es die Tagwissenschaft glauben machen will.
Gall im Vexierbild
“[] es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass wissenschaftliche Entdeckungen, mögen sie im Augenblick auch überaus fortschrittlich und esoterisch und unfasslich erscheinen, außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind. Eine theoretische Wissenschaft, die sich nicht dessen bewusst ist, dass die Begriffe, die sie für relevant und wichtig hält, letztlich dazu bestimmt sind, in Begriffe und Worte gefasst zu werden, die für die Gebildeten verständlich sind, und zu einem Bestandteil des allgemeinen Weltbildes zu werden [] wird zwangsläufig von der übrigen Kulturgemeinschaft abgeschnitten sein; auf lange Sicht wird sie verkümmern und erstarren, so lebhaft das esoterische Geschwätz innerhalb ihrer fröhlich isolierten Expertenzirkel auch sein mag.” (Erwin Schrödinger)
Ist ja schön und gut, aber erstens scheint es ein Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte zu sein, dass ausgerechnet ein Quantenphysiker diese Sätze schrieb, zum anderen stellt sich die Frage, wie dieser Auftrag bewerkstelligt werden kann. Für Hirnforscher, die eine nicht minder komplizierte Materie als Quantenphysiker zu erforschen haben, bieten sich zur Lösung des Problems Bilder vom Gehirn an, sie suggerieren mit bunten Farbklecksen, man hätte dem Denken bei der Arbeit zugeschaut. Gemeint sind die in den letzten Jahren in das Zentrum des Interesses gerückten bildgebenden Verfahren, die die komplexen Verarbeitungswege des Gehirns in übersichtlichen Schaubildern wiedergeben.
Es mutet oft wie eine moderne Phrenologie an, wenn auf großen Videoleinwänden Gehirnareale in grellen Farben aufleuchten, die für diese oder jene kognitive oder emotionale Eigenschaft zuständig sein sollen. Ähnlich wie bei der von Franz-Joseph Gall Anfang des 19. Jahrhunderts begründeten Schädellehre (Phrenologie) findet auch bei bildgebenden Verfahren eine ungeheure Komplexitätsreduktion statt – das macht ihren Reiz, aber auch ihre Verführung aus. Es lohnt, an der Stelle diesem Reduktionismus nachzugehen, den das Bedürfnis nach Kohärenz und das Bedürfnis, die Forschungen öffentlichkeitswirksam darzustellen, schafft. Unter bildgebenden Verfahren versteht man meist die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), auch funktionelle Kernspintomografie genannt. Bei der PET werden Radionuklide eingesetzt, die bei ihrem Zerfall Positronen freisetzen. Es lassen sich verschiedene radioaktiv markierte Substanzen herstellen, mit denen Blutfluss, Zellstoffwechsel sowie die Funktion von Gehirnbotenstoffen gemessen werden. Trifft ein Positron auf ein Elektron, werden Gammaquanten frei. Der Nachweis der Gammaquanten durch ringförmige Detektoren ermöglicht die Bestimmung des Ortes ihrer Entstehung. Allerdings nur mit einer Auflösung von zwei bis drei Millimetern, was in Anbetracht der Tatsache, dass bereits ein Kubikmillimeter Großhirnrinde mehr als 100 000 Nervenzellen enthält, nicht gerade umwerfend ist. Erst ein Computer rechnet aus den eintreffenden Gammaquanten die aktiven Gehirnregionen aus und setzt sie zu Schichtbildern zusammen.
Noch komplizierter, aber auch für viele Anwendungen besser ist die fMRT. Hierbei werden keine radioaktiven Isotope benötigt (was sie schon auf den ersten Blick sympathischer macht), und die räumliche (etwa 0,5 mm) und zeitliche Auflösung (eine Sekunde) ist etwas besser als bei der PET. Dies ist allerdings im Vergleich zum Takt, in dem Neurone arbeiten, immer noch langsam, denn diese arbeiten in einem Bereich von tausendstel Sekunden (Bobfahrer wissen, wie wichtig diese Genauigkeit ist). Voraussetzung für die Messung mit dem fMRT sind schnell wechselnde Magnetfelder, die den Drehimpuls (Kernspin) von Protonen in berechenbarer Weise beeinflussen. Die fMRT misst allerdings nicht direkt die neuronale Aktivität des Gehirns. Entscheidend für die Anwendung der Methode ist, dass sich der Sauerstoffpostbote des Blutes, das Hämoglobin, in seiner Beladung mit Sauerstoff ändert. Wenn ein Gehirnareal eine höhere neuronale Aktivität aufweist, wird es stärker mit sauerstoffreichem Blut versorgt – und genau dies kann die fMRT detektieren. Die Bilder, die in Originalpublikationen und auf Wissenschaftsseiten von Zeitungen oder in Wissenschaftssendungen präsentiert werden, bilden also nicht direkt die neuronale Aktivität in einem Gehirngebiet ab, sondern den veränderten Blutfluss.
Erst ein Subtraktionsverfahren macht die Bilder dann zu den kontrastreichen Aufnahmen. Dargestellt werden also lediglich Gehirnareale, die im Vergleich zu einer Kontrollmessung aktiv waren. Ansonsten wären die Bilder wahre Farbenmeere, da das Gehirn ein Dauerarbeiter ist – in fast allen Gebieten und zu jeder Zeit. Wer beispielsweise untersuchen will, wie Verben im Gehirn verarbeitet werden, lässt die in engen Röhren liegenden Probanden sinnlose Silben sprechen und dann erst die richtigen Verben. Durch dieses Verfahren bestimmt in erster Linie die Art der Kontrollsituation, wie das endgültige Bild aussieht. Und über diese erfährt der wissbegierige Laie fast nie etwas.
Damit aber nicht genug, es werden noch mehr ‘Tricks’ angewendet, um jene Kohärenz zu schaffen, die aus einzelnen Erkenntnissen erst ein Bild machen: Denn die eingezeichneten Farbflächen sind so genannte Falschfarben, die nichts mit dem Gehirn zu tun haben. Sie sind die farbliche Darstellung statistischer Computerberechnungen mit einem willkürlich festgelegten Schwellenwert, unterhalb dessen die Gehirnaktivität nicht mehr farblich codiert wird. Kein Wunder, dass die Bilder so kontrastreich sind, das hat nichts mit dem Gehirn (im Gegenteil, das Gehirn hat gerade keine scharfen Aktivitätsgrenzen), sondern mit den statistischen Berechnungen um einen Schwellenwert herum zu tun. Und diesen Wert legt nicht die Natur, sondern der Experimentator fest.
Noch desillusionierender ist der Umstand, dass das grafisch dargestellte Gehirn meist nicht das Gehirn des Probanden ist, sondern wiederum ein aus vielen Gehirnen berechnetes ‘Durchschnittsgehirn’. Nebenbei sei bemerkt, dass nicht die Aktivität einer Gehirnregion in einer Situation gezeigt wird, sondern meist sind die gezeigten Bilder gemittelt über 20 oder mehr Wiederholungen.
Ist deshalb die Methode ein Till-Eulenspiegel-Streich aus der Marketingabteilung der Neurowissenschaften? Rückt das oben Gesagte diese wichtige Methode der Neurowissenschaften in die Nähe von künstlerischen Produkten? Sicher ist, dass mittels bildgebender Verfahren gewonnene Gehirndarstellungen keine Fotos sind. Sie entstehen mit Hilfe komplizierter Methoden, aufgrund von theoretischen Annahmen und durch ein Subtraktionsverfahren. Dennoch haben sie trotz der aufgezählten Einschränkungen einen enorm hohen Nutzwert. Jeder der genannten Schritte wird in guten Publikationen genau angegeben, ist für andere Wissenschaftler nachprüfbar und reproduzierbar, und man kann mit einigem Recht fragen, ob auf jeder Wissenschaftsseite wieder aufgezählt werden muss, was genau gemessen und nicht gemessen wird und wie die Methoden im Detail funktionieren.
Es lohnt sicher den Aufwand eingehender Untersuchungen, wie und ob kunstgeschichtliche Traditionen Eingang in die Bilddarstellung gefunden haben oder wie ästhetische Empfindungen die Bildsprache prägen. Auch ist es eine eigene Diskussion wert, ob und warum gerade die bildgebenden Verfahren in der öffentlichen Darbietung von neurowissenschaftlichen Ergebnissen so gerne und so erfolgreich angewendet werden. All dies entbindet aber niemanden von der Aufgabe, sich damit auseinander zu setzen, dass in der Tat Messergebnisse aus einigermaßen gut kontrollierten Versuchen dargestellt sind. Ergebnisse im Übrigen, die auch schon mal genutzt werden, um präzise einen Tumor aus einem menschlichen Gehirn zu schneiden. Die Aufnahmen sind also keineswegs willkürlich.
Die Dramaturgie des Schreibens erforderte es, Methoden kritisch zu hinterfragen, um sie dann in einem strahlenden Licht doch wieder zuzulassen, mit all ihren Einschränkungen und Limitierungen. Wissen ist eben immer mit Unwissen gepaart, Methoden werden kritisch beleuchtet, diskutiert und am Ende doch weiter angewendet, bis man eine bessere Methode gefunden hat. Wissenschaft hat, wie François Jacob sagte, einen Januskopf – ein zweites Gesicht mit all dem, was in der Wissenschaft unverstanden, schlecht verstanden, in jedem Fall aber nicht richtig verstanden ist. Dafür sind die bildgebenden Verfahren ein gutes Beispiel. Sie sind auch ein gutes Beispiel für den Vorgang, wie in den Neurowissenschaften Kohärenz hergestellt wird: So wird nicht weiter untersucht, warum man für einen Versuchsdurchgang bei der fMRT so viele Wiederholungen braucht. Vielleicht, weil die Signalverarbeitung eines jeden noch so gleichen Reizes eben doch nicht immer exakt gleich verläuft – vielleicht braucht das Gehirn diese Genauigkeit gar nicht, oder Veränderungen im Blutfluss spiegeln eben doch nicht das ganze Geschehen wider. Warum braucht man Standardgehirne, um die Daten über mehrere Probanden hinweg darstellen zu können? Heißt das nicht auch, dass Gehirne unterschiedlicher sind, als man gedacht hatte, selbst in ihrer groben Anatomie? Die Subtraktionsverfahren sind darauf angelegt, einzelne, in jedem Fall nur wenige Gehirnareale mit einer kognitiven Aufgabe in Verbindung zu bringen. Dies lässt die Arbeitsweise des Gehirns modularer erscheinen, als sie unter Umständen ist.
Die größte mit den bildgebenden Verfahren einhergehende Versuchung ist wohl die, einem naiven Reduktionismus zu unterliegen. Wie könnte man dies schöner zeigen als an der Liebe. Semir Zeki, ein alternder Nestor in der Erforschung des visuellen Systems, und sein Mitarbeiter Andreas Bartels untersuchten mit Hilfe der fMRT, wie Gehirne von verliebten Menschen auf Fotos von diesen geliebten Menschen reagieren. In der Tat konnten die beiden Forscher einige Gehirnareale ausmachen, die aktiver sind, wenn die Probanden ihren geliebten Partner auf Fotos sehen (im Vergleich zu einem Kommilitonen, wieder ist natürlich ein Subtraktionsverfahren nötig). Wie bei vielen vorherigen Studien zu ganz anderen Themen lagen die aktivierten Areale im limbischen System des Gehirns. Die Autoren sprechen unverblümt, aber doch blumig von ‘Liebesmodulen’, die durch die Gedanken an den geliebten Menschen, durch Fotos stimuliert, im Gehirn aktiviert werden. Hätte man als Vergleich nicht andere Bilder nehmen müssen, die ebenfalls emotional aufwühlend sind? Denn das limbische System, ein diffus definiertes ringförmiges Arealgebilde unter der Großhirnrinde, wird immer aktiviert, wenn Emotionen im Spiel sind. Vor allem aber spiegeln die beobachteten Erregungsmuster der verliebten Gehirne die Verarbeitung von Fotos geliebter Menschen – nicht aber Verliebtsein selbst. Wollen die Autoren wirklich behaupten, dass der subjektive Zustand von Liebe oder Verliebtsein identisch sei mit einem einzigen neuronalen Aktivitätszustand? Ist die Verarbeitung von Sinnesreizen, die mit dem geliebten Menschen zusammenhängen, nicht etwas anderes als Liebe oder Verliebtsein?
Auf der Suche nach Kohärenz mit reduktionistischen Verfahren müssen die Limitierungen der Methoden und die Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Blickwinkels im Auge behalten werden. Ansonsten könnte geschehen, was Martin Heisenberg, Neurobiologe an der Universität Würzburg, anlässlich einer Stammzelldebatte bemerkte: “Ich fürchte mich mehr davor, dass die Biologen ihre Wissenschaft zu einer Weltanschauung hochstilisieren. Wer annimmt, der Mensch sei nichts anderes als ein Produkt der Evolution, und glaubt, mit der Biologie alle Weltfragen klären zu können, unterliegt einem gefährlichen Irrtum.”
Keine Methodik, kein Ergebnis, weder aus bildgebenden Verfahren noch in der Biochemie des Gehirns, ist zu komplex, als dass sie nicht erklärt werden könnte. Komplex ist ein Sachverhalt immer nur vor einem bestimmten Hintergrund, sei es Unwissenheit oder weil man die Fachsprache und technischen Begriffe nicht kennt; weil es ungeheuer viele Variablen zu bedenken gilt, die Analyse aufwändig ist oder die logischen Schlussfolgerungen einen komplizierten Begründungsraum einnehmen.
Entsprechend kommt alles auf die richtige Datenreduktion an und hier sind gute Metaphern ein möglicher und wichtiger Schlüssel. Metaphern werden aber in den Köpfen der Zuhörer verstanden, das heißt, wer richtige Metaphern finden will, muss sich ein wenig in den Köpfen seiner Zuhörer auskennen – was man zum Beispiel durch interdisziplinäre Projekte fördern könnte. Es ist, wie George Elliot in ihrem Roman Mill on the Floss feststellte, “schon verblüffend, wie sich eine Sache verändert, wenn man die Metaphern wechselt. Sobald wir das Gehirn einen geistigen Magen nennen, wird der Vorstellungskomplex vom Gehirn als einem mit Pflug und Harke zu kultivierenden geistigen Nährboden unbrauchbar. Man kann aber auch großen Autoritäten folgen und den Geist ein weißes Blatt Papier oder einen Spiegel nennen, in welchem Fall dann die Vorstellung über das Verdauungssystem irrelevant wird []. Ist es nicht beklagenswert, dass sich der Verstand nur selten in der Sprache äußern kann, ohne seine Zuflucht zu Bildern zu nehmen, so dass wir kaum je sagen können, was etwas ist, ohne sagen zu müssen, dass es etwas anderes ist?”.
Nein, das ist nicht beklagens-, aber bedenkenswert. Vor allem müssen die Metaphern ein sinnvolles Beziehungsgeflecht beim Betrachter hervorrufen. Sie müssen die Datenmenge auf ein erträgliches Maß reduzieren, die Ergebnisse müssen in einer ihnen angemessenen Kohärenz dargestellt werden, ohne dabei in einen naiven Reduktionismus zu verfallen.
Was bleibt, ist die Verteidigung der öffentlichen Vereinfacher gegen die tagscheuen Zauderer. Es stimmt, dass Wissen, das aus dem Forschungsalltag ans Licht gezerrt wird, paradoxerweise viel von seinem Glanz verliert und fremden Glanz annimmt. Es stimmt, dass komplexe wissenschaftliche Abläufe nicht in halbseitigen Wissenschaftsseiten oder fünfminütigen Features in Wissenschaftsshows wiedergegeben werden können. Aber es stimmt auch, dass man es versuchen muss, so rätselhaft das Unterfangen auch sein mag, denn rätselhaft ist etwas immer nur vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund, und der kann sich durchaus ändern. Er ändert sich bereits, wenn der forschende Wissenschaftler sein eigenes Tun beobachtet.
“What we call the beginning is often the end.
And to make an end is to make a beginning.
The end is where we start from.”
T. S. Eliot, Little Gidding
Literatur
A. Bartels und S. Zeki: Verliebte sind mutig und sanft, in: Geist & Gehirn 3/2002, S. 40-41
D. Blum und M. Knudson (Hg): A Field Guide for Science Writers: The official Guide of the National Association of Science Writers. New York 1997
D. Dörner: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek 1993
A. Grau: Momentaufnahmen des Geistes?, in: Geist & Gehirn 4/2003, S. 76-80
J. Gregory und St. Miller: Science in Public – Communicaton, Culture, and Credibility. Cambridge MA 2000
F. Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch. Berlin 1998
Published 25 June 2004
Original in German
Contributed by Gegenworte © Gegenworte Eurozine
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