Straßenatlas der Ukraine

“Sieh mal”, sagte mein Fahrer, “das Motel. Hier stehen abends die Nutten.”
“Und wohin verschwinden die dann?”
“Gehen nach Hause.”
“Die kennt hier doch sicher jeder, die Stadt ist klein.”
“Hier kennt überhaupt jeder jeden. Nutte zu sein, ist noch harmlos.”

Okay, Nutte zu sein ist wirklich eher harmlos, auch im Donbas mit seinem traditionell proletarischen Wertesystem; sind wohl gerade nicht die besten Zeiten für die Kohleindustrie, der junge ukrainische Kapitalismus verschlingt sich selbst, also muss man Kompromisse machen, eigenes Territorium abtreten, Fremde hineinlassen. Die Industrieriesen sterben wie Dinosaurier und lassen Ruinenanmut und den herben Geschmack von Arbeitslosigkeit zurück. Das Revier durchläuft die sieben Vorhöfe der Produktionshölle und wird zum Totrevier, wenn die alten Fabrikhallen wie katholische Kirchen in Touristenhochburgen zu historischen Stätten und Orten des Show¬business werden. Das Totrevier muss fixiert, auf Filmen festgehalten, mit Videokameras aufgenommen werden, jedes zerfallene Gebäude und jede zugeschüttete Zeche, an der du vorbeikommst, muss beschrieben und katalogisiert werden. Im Totrevier liest du die Biographien des Proletariats, die an den Wänden der früheren Arbeiterkantinen hängen, du musst nur anhalten und dich zu diesen Wänden durchschlagen, im Gras am Wegesrand trittst du auf benutzte Spritzen und ausgeblichene Hundeschädel. Alles hängt vom rechtzeitigen Anhalten ab.

Mein Freund Christoph Lingg fotografiert ausschließlich Totrevier. Kühne Versuche, seine Aufmerksamkeit auf den dichten Rastafari-Rauch zu lenken, der über dem Metallkombinat hängt, oder auf den Geruch nach frischer Schmiere, der die Aprikosen am Zementwerk durchdringt, enden jedes Mal erfolglos. Christoph schaut verärgert und verständnislos – was soll denn daran interessant sein, die bewegen sich doch, warten wir lieber, bis sie nicht mehr atmen, oder beschleunigen wir wenigstens diesen Prozess, man kann ihn verstehen: Christoph ist aus Wien, der Stadt mit der toten Kultur, aber ohne Totrevier. Um einen abgefuckten Schacht zu fotografieren, muss er mindestens ein paar Staatsgrenzen überwinden, möglichst Richtung Osten. Er hat schon Industrieruinen in Ungarn, Rumänien und auf dem Balkan fotografiert, ist auf der Suche nach dem Geist der Verwesung nach Tschechien und in die Slowakei gereist, hat mühelos die völlig verlassenen Objekte in Polen und mit einigen Mühen sogar die in Deutschland (in Ostdeutschland, versteht sich) ausfindig gemacht. Er musste weiter östlich ziehen, denn wie östlich Ostdeutschland auch sein mag, es ist eben kein richtiger Osten, der Osten beginnt weiter weg, im Donbas ungefähr, hierher muss man kommen, um interessante Ruinen zu finden. Der Donbas ist nicht einfach Osten, er ist der wirkliche Ferne Osten, dahinter gibt es nur die Einöde und die hohen Berge Tibets, und der Raum reißt ab, dort gibt es ja kein Totrevier, und freien Warenaustausch erst recht nicht.

Wir fuhren gegen zwei Uhr morgens in Charkiv los und versanken bereits bei Tagesanbruch in einem Nebel, in dem die gesamte industrielle Infrastruktur verschwand und der das ganze Revier einhüllte, das tote und das lebendige und das ungeborene, den ganzen Donbas mit seinen tausend Vorstadtbahnhöfen und tausend gefluteten Stollen, mit seinen urwüchsigen Märkten, auf denen Industriegeheimnisse gehandelt werden, mit Motels, in denen tote Chauffeure nächtigen, mit seinen Flüssen, in denen der Schlamm funkelt, schwarz und glänzend wie arabisches Öl, und mit kleinstädtischen Innenhöfen, die im August von dürrem Gras überwuchert sind, das ist das marxistische Klondike, wo die Kohle bis in die Gräber reicht, die das Bestattungsinstitut aushebt, so dass man nach der Beerdigung im Sarg hochwertige Kohle nach Hause trägt, und wo leichte Drogen dasselbe kosten wie Coca-Cola, nur dass die hier im Unterschied zu den leichten Drogen keiner nimmt, weil sie schädlich ist. Von den Nutten gar nicht zu reden.

***

Das mechanische Durchqueren des Raumes macht die ganze Idee des Reisens zunichte. Landschaften muss man langsam und konzentriert ablaufen und dabei auf Kleinigkeiten achten, sie geben schließlich jeder richtigen Landschaft ihre Ausprägung. Wenn du unterwegs nicht einfach stehen bleiben kannst, wenn du vom Ausgangs- zum Endpunkt hetzt, verlierst du das Wichtigste, den Blick für Veränderungen, die sich zwischen den Punkten vollziehen und wegen derer sich das Reisen überhaupt erst lohnt. Das Wichtigste ist nicht die zurückgelegte Strecke, das Wichtigste sind die Unterschiede auf der Strecke, die meisten Reisen werden wegen dieser Unterschiede unternommen, zum Beispiel wegen der Unterschiede im Wechselkurs des Dollar. Deshalb vermeidet man am besten Gruppenreisen oder beschränkt die Teilnehmerzahl so weit wie möglich, denn es gibt nichts Totalitäreres als zum Beispiel die Eisenbahn mit ihren Bahnsteigwärtern und Polizeistationen, oder den internationalen Flugverkehr, wo sich höchstens Unterschiede in der Schärfe der Zollkontrolle beobachten lassen. Das Verkehrsministerium ist eine totalitäre Sekte, die gegründet wurde, um deine Bewegungsfreiheit einzuschränken; die Fortbewegung als solche bleibt zwar erhalten, aber befördert wirst du auf einer festgelegten Route mit einer festgelegten Anzahl von Haltepunkten, mit erzwungenen Unterbrechungen. Eigentlich müsste man nur zu Fuß reisen, um sich die Landschaften anzusehen und die anderen Reisenden kennen zu lernen; die Eisenbahn nimmt dir diese Möglichkeit, bei der Eisenbahn kommst du zu Fuß höchstens von Bahnsteig eins zu Bahnsteig zwei, und die Unterschiede kann nicht einmal der Bahnsteigwärter erkennen.

Wir versuchten, dieser Falle zu entkommen, und umrundeten alle Tore und Zäune, überquerten alle Bahndämme und ignorierten alle Signale in die Zukunft, die großzügig entlang der Strecke verteilt waren. Wenn man totes Revier sucht, hält man sich am besten vom Leben und seinen Anzeichen so weit wie möglich fern. Unterwegs können einem die unterschiedlichsten einfachen und massenhaften Lebenszeichen begegnen: Schnaps-, Kleider- oder Sklavenhandel; Vertreter des Gesetzes, von dem diese ihre ganz eigene Vorstellung haben; Pilger, die zu ihren heiligen Stätten trampen oder sich einfach auf und davon machen, sie sitzen unweit der Schranken, bis die Autoschlange einen weiteren nummernlosen Güterzug vorbei gelassen hat, sie drehen ihren Rosenkranz und schlagen auf ihre rituellen Trommeln, die mit dem Leder getöteter Haustiere bespannt sind; während sie sitzen, betrachten wir die Kampfbeulen an den geklauten VW, die algengrünen Tätowierungen auf den Armen der Männer und das kupferrote Morgenfunkeln im gefärbten Haar der Frauen, die ihre schweren schwarzen Fahrräder ins Nichts schieben, wir betrachten die leeren Zigaretten- und Schlaftablettenpackungen, mit denen der Schotter übersät ist, betrachten die Stalin-Porträts in den Fahrerhäusern, junge Mädchen, die in Lieferwagen schlafen, Tiere, die sich vorsichtig der Straße nähern, den Geruch des Lebens wittern und den Geruch des Todes verbreiten. Irgendwo hier beginnen auch die nächste Kleinstadt und ihr Revier.

***

An der Schnellstraße nach Rostov zieht sich von West nach Ost die erwartete Landschaft entlang, mit Zechen und Schornsteinen, alles wie im Fernsehen; und weil aus den Schornsteinen Rauch aufsteigt, bleibt uns nichts weiter übrig, als alle diese Objekte des Stolzes der einheimischen Industrie traurig zu betrachten, das Lebendige bleibt lebendig, je weiter wir nach Osten kommen, um so trauriger werden die Kegel, Christoph ist plötzlich wach – die Luft riecht nach totem Metall, wir fahren noch etwas weiter, und auf einmal öffnet sich vor uns das echte Stalingrad-Revier, genau das, was wir brauchen, auch wenn dieses Revier noch lebt; wir sind so weit, dass wir es erledigen können.

Das ist offenbar ein verarbeitendes Kombinat gewesen, ein ziemlich großes im Übrigen – zu den zerfallenen Gebäuden führt sogar ein Gleisstrang, seinerzeit konnte man sich hier verschanzen und leben und voller Jubel hochqualitative Produkte ausstoßen, jetzt sind die Klötze von Werkhallen und sonstigen Gebäuden mit Bäumen überwuchert, die Bäume wachsen auf den Dächern und schieben sich durch die Fenster, füllen die Spalten in den Wänden aus, tasten sich langsam bis zu den Schienen vor, bedecken die Reste der kaputten Leitungen. Der Hof wurde seinerzeit allerdings derart großzügig mit Benzin und Müll zugeschüttet, dass hier auf ewige Zeiten nichts mehr wächst, man kann also rumlaufen und sich endlos in die Reste von Reifengummi im Sand vertiefen, anhand der Umrisse und des Profils sein Alter bestimmen.

Wenn Gebäude verfallen, werden sie schutzlos, die Leitungen liegen blank und verheddern sich wie Schleierkraut, es zerbröckeln die alten roten Ziegelsteine, die aus den zerbombten Stadtvierteln herbeigeschafft worden waren, ganz unten treten plötzlich die Holzverschalungen zutage, Schicht für Schicht gleitet das Bauwerk ins Jenseits hinüber, als tauchte es ins Meer, das alle überflüssigen Details wegspült. Seinerzeit entfernte man die Motoren aus den Gebäuden wie Lungen aus Körpern, so dass die Industrieanlagen auf einmal nicht mehr atmen konnten, oder man warf die Motoren in den ölgetränkten Sand wie gesunkene und aus dem Meer geklaubte U-Boote, die an Land ersticken, aber das interessiert niemanden mehr, genauer gesagt, uns interessiert es, gerade in diesem traurigen Zustand interessiert es uns.

Gründlich schaut sich Christoph jede Ecke und jede einsturzgefährdete Wand an, genau deswegen ist er ja hierher gekommen, je einsturzgefährdeter eine Wand, umso besser, er fotografiert extra schwarz-weiß, obwohl die Bilder hier auch mit einem Farbfilm schwarz-weiß wären, so ist die Landschaft eben. Während Christoph arbeitet, steige ich die kaputten Treppen hinauf, und da sehe ich plötzlich irgendwo in hundert Metern Entfernung eine Regung, etwas von der großen Maschinerie hat trotz allem überlebt, Reste des Arbeitskollektivs, Reste der zerschlagenen Armee, die sich von ihrer Vergangenheit abschotten und irgendwie das Feuer in den Kesseln am Brennen halten. In Ruinen wühlen, nach etwas Brauchbarem suchen, das diesem kranken Industrieorganismus das Überleben sichert, echt ein trauriges Ende der großen Industrialisierung; schließlich kehren wir zur Schnellstraße zurück, Christoph fotografiert unseren Abgang, sogar wir verlassen diese tote Landschaft, was heißt das erst für Leute, die sich prinzipiell nicht für Industriebrachen interessieren.

Wohin hat es die Arbeiter verschlagen? Und wie haben sie das Eisen und das Büromaterial fortgeschafft? Mit der Eisenbahn wohl kaum, die Eisenbahn schränkt die Manövrierfähigkeit einer zurückweichenden Armee ein, über ihr totalitäres Wesen haben wir bereits gesprochen. Es blieb also nur eine Kolonne von Lastwagen, auf welche die Arbeiter, ihrer Arbeit, ihrer Zukunft und damit auch ihrer Vergangenheit beraubt, sorgfältig das Gemeinschaftsgut aufluden, in einer endlosen jenseitigen Evakuierung trugen sie Rechentafeln und Safes, Tische und Bildagitationsmaterial aus den Büros, rollten Brennstofffässer aus den Lagern, bauten das Denkmal in der Hofmitte ab und schlugen es in gelbes Papier ein. Dann schleppten sie die Lebensmittelreste aus der Kantine weg, kippten die Portwein- und Apfelsaftvorräte in den schwerölgetränkten Sand, um auf der Reise unnötigen Ballast zu vermeiden, sie brachten die Kranken und Verwundeten nach draußen, verstauten die Geschütze und Maschinengewehre, zerlegten die Werkbänke und Schreibmaschinen bis zur letzten Schraube, zu
guter Letzt trugen sie die Fahnen hinaus, rollten sie auf und wickelten sie in Segeltuch, schließlich setzte sich die Prozession langsam in Bewegung, Wagen um Wagen bog auf die Schnellstraße ein, zum Abschluss hupten sie alle und fuhren gen Osten – durch die hohen tibetischen Berge, durch Zeitlosigkeit und Verfall, durch die Dunkelheit und den Nebel der Ostukraine, um irgendwann in ihrem Vorhimmels-Jerusalem der Verarbeitenden Industrie oder an einem anderen Ort anzukommen.

***

Als Kind waren für mich die Städte Musterbeispiele für Ordnung, ich spreche hier natürlich nicht von der städtischen Ordnung, also von Kehrmaschinen, obwohl davon auch, mir geht es um die innere Abstimmung, die Logik der städtischen Bebauung und das Fehlen von Einöden im sandigen Körper der Kreisstädte. Mein Vater, der immer wieder Lastwagen von einem Ende der Ostukraine zum anderen überführte (Ostukraine ist ein ziemlich dehnbarer Begriff, aber immerhin genauer als zum Beispiel Ostdeutschland), nahm mich oft mit und gewöhnte mich dabei an die Entfernung, gemeinsam zählten wir die Kilometer, suchten Ortsschilder, fragten Passanten, halt, ich habe natürlich niemanden gefragt, ich versuchte mir zu merken, wann und wohin wir genau fuhren. Daraus ist in mir allerdings ein mehr als merkwürdiges Bild entstanden, meine Ostukraine mit unproportioniert lang gezogenen Kiefern an der Schnellstraße, mit unglaublich sonnigen Städten und wahnsinnig heißem Asphalt, auf den man aus dem Fahrerhaus hinunter sprang. Der Asphalt schmolz in der Sonne, und es war schön, auf den Schnellstraßen dahin zu rasen und unterwegs die Seelen der Unfallopfer aufzuscheuchen, dahin zu rasen, um schließlich die nächste aus dem Nichts auftauchende Ortschaft zu erreichen.

Die Ortschaften lagen auf flachen, endlosen Stücken Ebene, manchmal sah man ein Gewässer, Flüsse, über die von den Deutschen nach Kriegsende instand gesetzte Brücken führten, an den Ausfahrten gab es Tankstellen mit roten Zapfsäulen, die den Tankstand anzeigten, dann kamen die kleinen Straßen mit riesigen Sandmengen, Plattenbauten oder Einfamilienhäuser, viel weiße Farbe, Büros, Lagerhallen, Vorratsräume, Armeeeinheiten, zentrale Plätze mit kleinen Läden, Vergnügungsparks, Kulturpaläste, Denkmäler und auf Sockeln ausgestellte Militärtechnik, Kioske mit Zeitungen und Stadien mit Sportlern, alles war da, alles gruppierte sich um die Fabriken, Werke und Schächte, manchmal standen die Fabriken außerhalb, manchmal direkt in der Innenstadt, aber so oder so spürte man, dass sich das Leben dieser grasüberwucherten und staubversunkenen Orte nicht um die Stadien drehte, sondern um die Fabriken, was meines Erachtens auch völlig korrekt ist. Was für ein Leben kann sich um Kulturpaläste drehen? Haben Sie je solche Paläste gesehen? Haben Sie je so eine Kultur gesehen? Fabriken sind da eine ganz andere Sache, selbst wenn sie nicht übermäßig groß sind, haben sie doch das ganze hemmungslose Leben der Kinder des großen Überlebenskriegs geordnet, den wir übrigens mit weitem Vorsprung gewonnen haben, obwohl unsere Hauptgegner, wie ich vermute, von der Existenz der Regeln, nach denen gespielt wurde, nicht die geringste Ahnung hatten.

Die subkutane Gegenwart des Systems, die man als Siebenjähriger spürt, wird später zum vielleicht größten sexuellen Trauma, die Pioniere von heute haben gut reden, NATO, nein danke, in unserem Grundschulalter wurden wir mit etwas viel Globalerem und Gefährlicherem als NATO-Schiffen konfrontiert, bei uns ging es um ein globales Vernichtungssystem, ein System der realen Bedrohung, ganz in unserer Nähe, auf unseren Radiowellen, und daran hing die Zukunft von uns und unseren Eltern. In Wirklichkeit, das begreife ich jetzt, ging es nur um ein Raketenabwehrsystem, das wir als Viertklässler in einem gewissen Moment metaphysisch etwas überinterpretierten, und diese Metaphysik, sie ist wie Durchfall, ist immer da, lässt sich nicht vergessen, macht besser gesagt andauernd auf sich aufmerksam.

Wahrscheinlich habe ich dank meines Vaters weniger Kindheitserinnerungen an die Landeskunde als solche (die es eigentlich gar nicht gab) denn an Geographie und Naturkunde, wenn man die zerquetschten Fuchskadaver auf der Schnellstraße der Naturkunde zurechnen kann. Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn plötzlich in der Abenddämmerung ein Tier gegen den Fahrzeugboden schlägt, das Gehirn wie gelbe Bauernbutter auf der schwarzen Oberfläche des ostukrainischen Asphalts verschmiert wird, das muss man erlebt haben, wenn man echte Kindheitserinnerungen haben will, auch wenn du dich überhaupt nicht an deine Kindheit erinnern willst, das musst du einfach selbst erlebt haben, damit dir später dieser Ton des zerkrachenden Schädels, der wie das Zerplatzen eines Fußballs klingt, nicht im Traum erscheint. Wenn du auf diesen schmalen, holprigen Straßen unterwegs bist wie Alkohol in den Venen, genauso wie vor 20 Jahren, vom Nirgendwo ins Nichts, Bewegung um der Bewegung willen, Raum um des Raumes willen, nimmst du ihn auf, und er nimmt dich auf, und keiner ahnt etwas von eurer gegenseitigen Abhängigkeit.

***

Die lebenden Helden der toten Industrie, die Personen aus den Werbebroschüren und Verbrechensregistern sind immer präsent, sie mustern dich vorsichtig, sehen in dir zu Recht einen Fremden, geben dir ziemlich reserviert die nötigen Auskünfte, denken sich hin und wieder etwas aus, kommen auf viel zu intime Dinge, als dass man darüber miteinander sprechen könnte, sie geraten schnell ins Vergessen, verschwinden im Dunkel des Gedächtnisses und erweitern es um ihre Anwesenheit, aber wenn du genau hinschaust, erkennst du sie wieder: die Invalidentypen, die früheren Kumpel des einstmals tiefsten Schachts in Europa, sie kommen sogleich auf ihre Invalidität zu sprechen und meinen damit vielleicht ihren Alkoholismus, sie wollen gemeinsam fotografiert werden. Da war der Veteran eines undefinierbaren Zivildienstes mit undefinierbaren Orden am Jackett, der zuerst unbekümmert alle Staatsgeheimnisse, angefangen von 1947, ausplauderte und dann, nachdem er unseren Fotoapparat entdeckt hatte, auf irgendeine dringende Arbeit verwies und uns vage den Weg andeutete; ein lang gedienter Kumpel, der alle Umstehenden lautstark wissen ließ, dass er auf dem Weg in die Kneipe sei und, plötzlich Vertrauen zu uns fassend, uns sein “garantiert rostfreies” Silberarmband schenken wollte; ein ehrbarer Herr, der sich irgendwann gegen zwei Uhr nachts und nach dem dritten Liter eine Zigarre anzündete und, in seinen politischen Ansichten natürlich, Ähnlichkeit mit Castro annahm; die Kumpel eines illegalen Schachts, die uns den Weg in den dunklen Stollen versperrten und behaupteten, der Schacht sei stillgelegt (mit ihren Stimmen suchten sie den Motorenlärm zu übertönen); Anatolij Tymoscuk, ukrainischer Fußballnationalspieler, der uns auf einer der zentralen Donec’ker Straßen entgegen kam und der mit dieser ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun hat; der Security-Chef des Zementwerks, der sich zunächst gegen zwanzig grüne Scheinchen bereit erklärte, uns auf das Fabrikgelände zu lassen, nach einem Telefonat aber einen Rückzieher machte – ich will mal hoffen, dass es seine Berufsehre war, die sich da geregt hatte –; zwei Berufsschüler, die wir von einer namenlosen Siedlung zur nächsten mitnahmen und die uns freudig ihre ganze Lebensgeschichte erzählten, wenn es da ein Leben gab, bei diesen Berufsschülern; die arbeitslosen Bewohner einer anderen Siedlung, die schon um neun Uhr morgens auf dem Posten waren, das Bergwerk war zu, sie waren übrig geblieben und hatten einen langen Tag vor sich; Nutten, die ebenfalls schon um neun Uhr morgens an der Ringstraße standen und die auch hier jeder kannte; die Jungs von der Specnaz, mit Einschlägen an ihren Maschinengewehren; die Antiquitätenhändler, die auf einem Platz selbstgefertigte Gemälde aus dem 19. Jahrhundert verkauften; die Taschendiebe, die in der Bahnhofswirtschaft saßen und auf den Zug aus Kiew warteten; die Putzfrauen der Bergarbeiterklubs; die Verliebten auf den Spielplätzen; die Alkoholiker an den mitternächtlichen leeren Haltestellen; die Alkoholiker auf den Bahnhofsvorplätzen; die Alkoholiker in den Müllschluckern, im dürren Gras und an den Ufern der ausgetrockneten Gewässer, in den Kofferräumen der Autos und an den Fenstern der Vorortbahnen, in den Supermärkten und 24-Stunden-Wechselstuben, auf den gebührenpflichtigen Parkplätzen und in den gebührenfreien Toiletten, in den Kesselräumen und Bahnwärterhäuschen, auf den Flohmärkten und am Lenindenkmal, unter der Hand von Anatolij Tymoscuk und in Begleitung dreier Sergeanten, auf Banken, auf Gebärstühlen und in Särgen, auf dem Rücksitz unseres Autos und hinter seinem Lenkrad – eine erquickende Ergänzung zu allen Denkmälern und Ruinen, schwarzes, heißes Blut, das in den sehnigen Körpern keinen Platz findet und durch Wunden, Risse, Brüche und amputierte Gliedmaßen nach außen quillt, dankbare Gesprächspartner, die so ruhig und überzeugend sprechen können, dass schon deine Anwesenheit überstürzt und unberechtigt erscheint, die Straßenpropheten und Schaffner, die sich in den dichten Nebeln zurecht finden, wo sich Lebendes und Totes aufhält, das sich hintereinander versteckt und ineinander übergeht.

***

In den Fahrerhäuschen lagen immer Autoatlanten herum, eigentlich benutzte sie keiner, alle kannten den Weg, aber die Karten lagen da, und als Kind schaute ich sie mir an wie Illustrierte, fuhr mit den Fingern über die kurvigen roten Linien, die von einer Stadt zur nächsten führten, lernte die Namen von Flüssen und Seen, prägte mir die einzelnen Abzweigungen ein und zeichnete in meinem Gedächtnis klare Umrisse von meinem Territorium – dem Sonnenland, mit seinen drei Walen und der Schildkröte, mit seinen flachen Ufern, die ins Asowsche Meer abglitten, mit seinen Ebenen, Einöden, schwarzen Löchern, den Millionenstädten, den Tankstellen am Straßenrand, den Statuen in den Parks, mit großen Entfernungen, Wetterwechseln und der Eisenbahn, die irgendwo im Süden über die Grenze rollte; wenn ich an Grenze dachte, versuchte ich mir vorzustellen, was hinter der Stelle begann, bis zu der ich zuletzt gekommen war, meine Vorstellung hielt sich strikt an meine Erfahrung, alles, was sich außerhalb meiner eigenen Erlebnisse befand, kam mir zu abstrakt vor, es ließ sich mit nichts vergleichen. Meine Erfahrung befand sich in völligem Einklang mit den umliegenden Gegenden – die flachen Reliefs der Ostukraine, dank derer man Dutzende Kilometer nach allen Seiten blicken konnte, entsprachen vollkommen meiner Vorstellung von der Welt –, ich sah das, was man sehen konnte, und sehen konnte man vieles, fast alles. Deshalb riefen Dinge, die ich nicht selbst erlebte, bei mir kein besonderes Inter¬esse hervor, das Territorium, das außerhalb der Grenzen des Gesehenen lag, fand in meiner Vorstellung keinen Platz, es gehörte wohl eher zur Kategorie des Imaginären, Relativen, zu etwas, worüber man Bücher lesen oder Filme sehen konnte.

Über das richtige Leben konnte man keine Bücher lesen oder Filme sehen – das richtige Leben war da und musste gelebt werden.

Jetzt, wenn ich aus der nächsten Bergarbeiterstadt aufbreche, in der ich alle mit Lähmung geschlagenen Schächte gefunden, alle arbeitslosen und hoffnungslosen Einwohner kennengelernt habe, denke ich, dass selbst die relative Erweiterung meiner persönlichen Erfahrung an meinen kindlichen Vorstellungen von dem idealen Territorium, in dem ich lebte, wenig geändert hat. Es lässt sich immer noch durchschauen, man muss nur unterwegs anhalten. Also gehört das, was sich nicht durchschauen lässt, nicht dazu, es ist bereits eine andere Erfahrung, ein anderer Straßenatlas, ein anderes Totrevier, mit dem ich genau genommen nichts zu tun habe.

In einem Atlas ist das Wichtigste gekennzeichnet, die Umrisse, die er zeigt, findest du in der Realität wieder, er ist das genaueste aller Bücher, ich weiß nicht einmal, mit welchem anderen Buch man ihn vergleichen könnte, mit der Bibel würde ich einen Atlas zum Beispiel nicht vergleichen, die Bibel ist äußerst abstraktes Schriftgut, obwohl darin auch geographische Karten abgedruckt sein können, aber mit dieser Geographie hast du nichts zu tun, wegen ihrer Ferne und Unabhängigkeit. Es geht nicht einmal darum, dass es mit Hilfe der Bibel nicht möglich wäre, von Vorosylovgrad nach Dniprodzerzyns’k zu kommen, sondern dass diese Namen einfach nicht vorkommen. Ich bin schon immer überzeugt gewesen, dass die Religion regional gefärbt sein sollte, denn sonst ist es keine Religion, sondern McDonald’s.

Es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl, das eigene Bewusstsein mit Hilfe von Autoatlanten zu erweitern, du schneidest quasi deinen eigenen Körper auf und siehst zu, wie das Blut von der rechten auf die linke Seite fließt. So sind auch die Karten in einem Atlas – du siehst, wofür in dem Land, in dem du lebst, Platz ist, wie viele Straßen, Brücken es ausfüllen, du ahnst, wie viel Gras, Häuser und Vögel sich gleichzeitig auf diesem markierten flachen Gelände befinden, wie viele von ihnen hineinpassen und wie viele umständehalber hineinpassen würden, wenn diese Umstände einträten.

Ich ertappe mich die ganze Zeit bei dem Gedanken, dass ich es viel interessanter fände, lebende Objekte zu fotografieren; nicht dass mich die Ruinen und der ökonomische Niedergang in der Region fertig machen würden, es geht ja auch gar nicht um Niedergang, es sind einfach unterschiedliche Lebensprioritäten, den einen interessiert die lebendige Wirtschaft, den anderen die tote. Ich kann hier gar keinen Niedergang erkennen, und sei es nur, weil alle hier geblieben sind, die Arbeiter all dieser kaputten Bergwerke und verschwundenen Werkshallen, die Wirtschaft ist einfach nicht in der Lage, die fettesten Brocken der Realität zu vergiften, die meisten Prozesse, die uns bewegen, die uns von einer Ecke des Landes in die andere schieben, die uns nicht weit weg lassen und uns keinen Moment des Innehaltens gewähren, erfasst sie einfach nicht.

Wir brachen schließlich auf und rissen uns Spiegelungen der Landschaft aus der Luft ringsum, schwarz-weißes Totrevier, das trotz all seiner Erstarrung nicht tot wirkte. Beim Zurücklegen derselben Strecke werden jedes Mal dieselben Rezeptoren aktiviert, es ist, als würdest du deine Bordnotizen erneuern, die mit der Zeit gelöscht werden und verschwimmen, deshalb ist es gut, sie immer mal wieder aufzufrischen. Alles wird in einen Katalog eingetragen – du notierst und markierst jede Biegung, jeden Parkplatz, jedes Gebäude am Straßenrand, die Namen der Orte, die Lage der Wachposten, die Entfernung zwischen den Tankstellen und Raststätten, die Preise an den Tankstellen und in den Raststätten, die Arbeitszeiten der Tankstellenwärter und Nutten, die hier jeder kennt, jeden kaputten Lieferwagen mit nach außen gestülptem Inneren, jeden Tramper an der Kreuzung, jeden Leichenzug, den man nicht überholen kann, so dass der Eindruck entsteht, du würdest dauernd hinter Leichenzügen herfahren, die du nicht überholen kannst, und schauen, was nun dort beginnt, wo das Leben zu Ende ist.

***

Das nächste Mal trafen Christoph und ich uns an einem Bahnhof, ich saß ein paar Stunden rum und wartete auf meinen nächsten Zug, ich rief Christoph an, er kam und erzählte drauf los:

“Das wird ein tolles Projekt”, sagte er, “vor allem diese Objekte im Donbas. Schreibst du was drüber?”
“Über die Reise?” fragte ich.
“Nein, über das Totrevier, nicht über die Reise.”
“Ich kann’s versuchen”, sagte ich. “Obwohl ich lieber etwas über die Reise im Ganzen schreiben würde.”
“Nein”, sagte Christoph und rechtfertigte sich, “mich interessiert das Totrevier.”
“Gut”, sagte ich. “Warum nicht. Dann eben über das Totrevier. Weißt du”, sagte ich, “ich reise hier gern herum. Aber weniger wegen der Industriebrache. Obwohl deswegen vielleicht auch.”
“Ja”, stimmte er zu. “Das ist klasse.”
“Schade, dass du nur tote Objekte fotografierst. Ich finde den Weg interessanter.”
“Die toten Objekte haben einen Vorteil – wenn sie tot sind, wiederholen sie sich nicht.”
“Der Weg hat auch einen großen Vorteil.”
“Und welchen?”
“Man kann ihn immer wieder zurücklegen.”

Bilder: www.christophlingg.com

Published 27 April 2010
Original in Ukrainian
Translated by Claudia Dathe
First published by Osteuropa 2-4 (2010)

Contributed by Osteuropa © Serhij Zhadan / Osteuropa / Eurozine

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