“Mach die Ohren auf, dann hörst du’s”, schreibt Jon McGregor im ersten Absatz seines Romans Nach dem Regen. “Sie singt, die Stadt […] Mach die Ohren auf, und es gibt noch mehr zu hören.”1 Manche Orte, bemerkte Camus einmal, öffnen sich “zum Himmel hin wie ein Mund oder wie eine Wunde”2. Unsere Stadt singt nicht nur einfach, sie schreit. Der Klang Londons hat sich dramatisch verändert. Im Londoner Soundtrack gab es seit den Anschlägen vom 7. Juli 2005 nur wenige Momente der Stille, ausgenommen die beklemmende Stille unter der Erde, in den Zügen der Tube. Nach der zweiten Welle fehlgeschlagener Angriffe am 21. Juli fuhren die Pendler schweigend zur Arbeit, sahen verkrampft über die Polizisten mit den Maschinengewehren hinweg, taten so, als merkten sie die spontanen Kontrollen und Durchsuchungen nicht, die vor allem bei Menschen mit “asiatischem” oder “arabischem” Aussehen durchgeführt wurden. Da die Anschläge beide an einem Donnerstag stattgefunden hatten, galt an allen folgenden Donnerstagen höchste Sicherheitsstufe, und es entstand eine Atmosphäre von Angst und banger Vorahnung. Seit dem Sommer 2005 untermalt das Geheul der Polizeisirenen die Geräusche der Stadt und wurde zu etwas, das Murray Schafer keynote sound nannte.3
Das von der Old Kent Road nahende Polizeiauto wird lauter, während es dem Verkehr auf dem Lewisham Way ausweicht.4 Der Soundtrack von London enthält auch noch andere Geräusche: das dumpfe, metallische Dröhnen eines Düsenflugzeugs, das am Himmel entlangzieht und einen Bruchteil der neunzig Millionen Passagiere befördert, die Londons wichtigste Flughäfen jedes Jahr auf ihren Reisewegen kreuzen. Das Gebrumm beschleunigender Motorräder oder dahinrollender Autos und das Quietschen ihrer Bremsen, wenn sie vorübergehend halten müssen, gehört genauso dazu wie das Kreischen der Möwe am Himmel der City. Vielleicht versteht sich das von selbst: Die häufigsten Ziele terroristischer Angriffe sind Verkehrsmittel – Bus, U-Bahn, Flugzeug. Phobische Rassisten schmieren Hassgraffiti auf Wartehäuschen oder auf Wände am Straßenrand, versuchen vergeblich, das Tempo menschlicher Kontakte und des Verkehrs zu verlangsamen.
Geräusche sind im Grunde wahrgenommene Schwingung: Unsere Ohren registrieren die Vibration von Bewegungen. Der Metropole London zu lauschen ist etwas anderes als sie sich anzuschauen. Das liegt zum Teil daran, dass ‘Rasse’ und Rassismus ihre Grundlage letztlich in der visuellen Wahrnehmung haben. Hören vermittelt Eindrücke, die dem auf Hautfarben fixierten Blick womöglich entgehen. Sitzt man heute in London in einem Bus, vernimmt man – je nachdem, auf welcher Linie er verkehrt – überwiegend Russisch, Polnisch oder brasilianisches Portugiesisch. Diese Sprachen kennzeichnen neue Bewegungen und Migrationen, die sich nicht immer visuell erschließen lassen. Doch das Geheul der Polizeisirenen übertönt alles, und ich frage mich, warum die Polizei sie ständig einsetzt. In Los Angeles hat die dortige Polizei ganze Stadtviertel leer gefegt, indem die Polizeiautos ihre Sirene alle gleichzeitig eingeschaltet haben. Sirenen drücken das Verlangen nach Herrschaft über den von ihnen erfüllten Raum aus. Vielleicht sind sie schon immer da gewesen, und wir nehmen sie erst jetzt wahr – obwohl ich das bezweifle. Erinnern wir uns daran, dass britische Polizeiautos erst seit 1965 mit Sirenen ausgestattet wurden. Die “twos and blues” (das Tatütata samt Blaulicht), das Zeichen dafür, dass der Weg zu räumen ist, sind heute, in Martin Amis’ Worten, das Signal für eine “namenlose Angst”.5
Nicht die Eigenschaften der Töne selbst erzeugen freilich diesen Effekt, ihre Frequenzen lassen sich sogar in banale Musik übersetzen, was auch bereits getan wurde. Eine Studentin, Mutter einer kleinen Tochter und in der New Cross Road wohnhaft, erzählte mir, dass die Kleine zu tanzen beginnt, wenn sie Polizeisirenen hört. Es hat geschichtliche Gründe, wenn ertönende Polizeisirenen sofort die Assoziation von Notstand und Bedrohung auslösen. Bevor die Polizei überhaupt Autos und Sirenen hatte, führte sie Rasseln und Pfeifen mit, und nur einige wenige Polizeiautos – die Wolseleys – waren, damals ein Luxus, mit Glocken ausgerüstet. Rasseln wurden auch während des Ersten Weltkrieges getragen und warnten die Londoner vor den deutschen Zeppelinbombern. So verband sich die Sirene mit der Angst vor äußeren Angriffen, sei es durch Zeppeline oder später durch Flugzeuge und Raketen. Seit den Vierzigerjahren gehört die Sirene zur Standardausrüstung einer Londoner Polizeiwache. Sie erklang bei Luftangriffen oder zur Warnung vor einer Sturmflut und blieb für den Fall eines Angriffs mit atomwaffenbestückten Raketen während des Kalten Kriegs in Betrieb.
Sirenen dienen aber auch als akustische Wegmarken. Regelmäßig kommen Konvois mit Inhaftierten aus Belmarsh, dem Hochsicherheitsgefängnis Ihrer Majestät, durch New Cross, wenn sie, von Südostlondon kommend, zum Obersten Gericht in der Londoner City fahren, vorbei am Temple Bar. Die Haftanstalt Belmarsh – 1991 eingerichtet – beherbergt über 900 Gefangene der Kategorie A, darunter auch Beschuldigte, die auf der Grundlage der Antiterror-Gesetzgebung festgehalten werden. Das Gefängnis gilt deshalb auch als Guantánamo Bay von London. Manchmal hat der Konvoi aus Polizeiautos und Hochsicherheitseskorten Mühe, seiner Route durch den Londoner Süden zu folgen. Es passiert regelmäßig, dass er in der falschen Richtung in das System der Einbahnstraßen von New Cross einbiegen will. Dann kommt es zum Verkehrskollaps und zu ohrenbetäubendem Getöse, begleitet von Panik und höchster Unruhe. Dabei ließen sich solche Szenen der urbanen Hölle leicht vermeiden. Die Architekten von Belmarsh erbauten gegenüber dem Gefängnis außerdem ein Amtsgerichtsgebäude. Justiz und Justizvollzug sollten sich an ein- und derselben Stelle befinden, damit Gefangene von der Verurteilung bis zur Verbüßung der Strafe nur wenige hundert Meter Distanz zurückzulegen brauchten. Richter nehmen die kurze Reise nach Südostlondon jedoch nur ungern auf sich und ziehen es vor, dass die Gefangenen zu ihnen gebracht werden, was jeweils Kosten in Höhe von tausenden von Pfund verursacht. Eine Ausnahme gab es bei den Männern, die man des fehlgeschlagenen Selbstmordattentats vom 21. Juli 2005 beschuldigte. In diesem Fall bemühte sich der Richter nach Belmarsh zu den vier Angeklagten, denen “Verschwörung zum Mord und zur Herbeiführung von Sprengstoffanschlägen” zur Last gelegt wurde. Die Times beschrieb die Szene des 8. August 2005 am Belmarsher Amtsgericht als “dichtesten Polizeigürtel, den wir je gesehen haben […] Sogar Plastikbecher wurden auf gefährliche Substanzen überprüft.”6 Im Dezember 2005 fand die Verhandlung im Gerichtssaal des Old Bailey statt, bei der die Beschuldigten per Videoübertragung aus ihren Zellen in Belmarsh aussagten.7 Das Heulen der Sirenen vermittelt auch Einsichten in die Gefängnisgeografie Londons und zeigt, inwieweit konzertierte Aktionen im Kampf gegen den Terror bereits städtische Routine und Realität sind.
Immer öfter kommt zu den Polizeisirenen auch das Geräusch des Polizeihubschraubers hinzu, der in der Luft steht, während sich der motorisierte Tross am Boden langsam durch die Straßen schlängelt. “Da ich in einer Seitenstraße der New Cross Road wohne, ist das Heulen der Polizeisirenen für mich Alltag”, schreibt Jane, Verwaltungsangestellte am Goldsmiths College: “An die Hubschrauber gewöhnt man sich aber schwerer; abends übertönt ihr Lärm das Fernsehen, und von dem sich herantastenden Suchscheinwerfer kriegt man ein schlechtes Gewissen, man bekommt Angst, dass er schließlich das ganze Haus ausleuchten könnte! Als Abu Hamza8 als Untersuchungshäftling im Belmarsh Prison einsaß, fand sein Prozess unter medialer Dauerbegleitung statt, und eines Tages merkte ich, dass ich gar nicht Nachrichten zu schauen brauchte, um mich über den Fortgang der Dinge zu informieren, sondern bloß auf die Kakofonie der Polizeieskorte für den Gefangenentransporter, in dem Hamza von Woolwich die New Cross Road entlang zum Old Bailey gebracht wurde, und auf den tief fliegenden Hubschrauber achten musste, der das Vorankommen des Konvois mit vollzog.”9
Der Soundtrack zum Krieg gegen den Terror legt sich wie eine Decke über die Stadt. Die Sirenen erzeugen eine Atmosphäre unmittelbarer Bedrohung, in der sich Angst und Unruhe gegenseitig aufschaukeln.10 Die Geräusche der Polizeisirenen und der Helikopter sind gleichermaßen Ursache und Wirkung der Angst, die London nach den Bombenanschlägen vom Juli überfallen hat, und die Entstehung eines Fehlschlüsse begünstigenden Klimas ist Teil der Schadensbilanz. Die Erschießung des jungen Brasilianers Jean Charles de Menezes an der Tube Station in Stockwell durch die Polizei ist ein Beispiel für einen solchen Fehlschluss mit tödlichem Ausgang. Am 22. Juli – dem Tag nach der zweiten Welle missglückter Angriffe – erblickte ein Polizist einen “Selbstmordattentäter” in seinem Visier und feuerte auf ihn. Der junge Mann war bloß vor Beamten weggelaufen, die automatische Waffen mit sich herumtrugen. Am Ausgang neben dem Bahnhof Stockwell wurde ein provisorisches Denkmal errichtet, ein Platz, wo Nachrichten und Informationen über die Tötung für die Bewohner des Viertels angeschlagen und wo Blumen zum Gedenken an den Toten niedergelegt werden können.
Die Angst vor dem Feind nebenan
Den verzerrten Wahrnehmungen, die ich zu beschreiben versuche, begegnet man in den Blicken der Passagiere, die bänglich einem jungen Asiaten zusehen, der sich beim Besteigen des Busses mit einem schweren Koffer abmüht. Die Londoner Verkehrsbetriebe haben die Einwohner der Stadt mit einer Plakatkampagne gemahnt: “Machen Sie Ihr Gepäck nicht zum Verdächtigen.” Es waren aber nicht Gepäckstücke, anhand derer die Verdächtigen identifiziert wurden, sondern Bärte und Hautfarben, wie auch das Beispiel von Mohammed Abdul Kahar zeigt, der aufgrund von Falschinformationen angeschossen wurde. Mohammed Abdul Kahar, 23, und Abul Koyair, 20, wurden während einer Razzia am 2. Juni 2006, bei der 250 Polizisten im Einsatz waren, in ihrem Haus in Forest Gate in Ostlondon festgenommen. Nach seiner Freilassung berichtete Mohammed Abdul Kahar davon, wie man ihn und seine Familie terrorisiert hatte: “Das einzige Verbrechen, das ich in ihrem Augen begangen habe, ist wohl, dass ich Asiate bin und einen langen Bart trage.”11 Die beiden jungen Männer wurden zwar ohne Anschuldigung wieder auf freien Fuß gesetzt, erhielten jedoch zu keinem Zeitpunkt Aufklärung darüber, warum ihr Zuhause buchstäblich durchwühlt worden war. Angezeigt hatte sie jemand, weil sie sich den Schädel geschoren und Bärte hatten stehen lassen, und weil sie öfter in die Moschee gegangen waren.
Wir alle sehen einander jetzt anders als früher, was durch die täglichen Berichte vieler Menschen bestätigt wird, die sich im Schatten des 7. Juli durch eine kosmopolitische Großstadt bewegen. Die Londoner Verkehrspolizei hat von Juli bis August 2005 aufgrund der Antiterror-Gesetzgebung 6747 Personen gestoppt. Im ethnischen Querschnitt ergeben diese Verkehrskontrollen ein krasses Missverhältnis: 2390 Personen waren Asiaten (35 Prozent aller Kontrollierten), 2168 waren Weiße (32 Prozent aller Kontrollierten). In London stellen Asiaten aber nur 12 Prozent der Bevölkerung, Weiße hingegen 63 Prozent.12 Die Wahrscheinlichkeit, dass Asiaten bei Verkehrskontrollen angehalten wurden, war also fünfmal höher. Eine Stadt in Angst erzeugt eine politische Praxis verzerrter Wahrnehmungen. Der Begriff der Wahrnehmung als “Politik der Anerkennung” wurde in Diskussionen zu Fragen der Multikulturalität häufig thematisiert, hauptsächlich in Anlehnung an die Vorstellungen von Charles Taylor.13 Die Sirenen helfen uns weder, einander zu hören, noch gegen die entstandene Angst anzusprechen – vielmehr übertönen sie unsere Stimmen.
Tiggy steckte an dem Tag, an dem Jean Charles de Menezes erschossen wurde, kurz vor Stockwell in einem U-Bahn-Zug fest. “Ich war auf dem Weg durch die Stadt, und auf einmal blieb die Tube stehen. Mein erster Gedanke war: ‘Mist, jetzt komme ich zu spät.'”14 Tiggy hatte viele Jahre in Südafrika gelebt und dort in antirassistischen Projekten gearbeitet. “Man sagte uns, im Zug vor uns befinde sich ein Selbstmordattentäter – und im ersten Reflex dachte ich: ‘Na, hoffentlich töten die ihn noch vorher.'” Die Polizei schoss dann auch zuerst; nachdem sie seiner habhaft geworden waren, schossen sie den jungen Brasilianer sieben Mal in den Kopf. “Eigentlich ist es schrecklich”, dachte Tiggy später. “Man beginnt die Welt aus dem Blickwinkel der Polizei zu sehen.” Heute halten die Sirenen das permanente Gefühl von Krieg und Notstand wach und verstärken auf die Weise die Angst. Dass London in Angst lebt, ist nicht allein das Werk der Attentäter, sondern vielmehr das Werk von Politikern und Journalisten, die die Vorstellung von Attentaten dazu nutzen, mit den Ängsten der Menschen zu spekulieren.
Suresh Grover, seit langem aktiv in der Bürgerrechtsbewegung, konstatierte ein Versagen der Linken, die das Leben “im Ghetto aus einer politischen Vorstadtperspektive betrachtet” habe.15 In ähnlicher Weise leide der akademische Diskurs über die multikulturelle Gesellschaft an der Bereitschaft, die Autoritätsgläubigkeit der Machtlosen eingehend zu untersuchen. Manche Mitglieder dieser Communities haben Angst, sich offen gegen die Befürworter absolutistischer religiöser Politik auszusprechen. Im derzeitigen Klima hat die Regierung von New Labour Räume geschaffen, in denen eine religiös motivierte Politik gedeiht. Angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten verfällt die Regierung, so Chetan Bhatt, jedoch auf die alte koloniale Strategie, durch die “Community der religiösen Führer” zu operieren. Welche Verlockung “eherne Gewissheiten” bieten, zeigt Hanif Kureishis Film My Son the Fanatic aus dem Jahre 1997. Der Film erzählt die Geschichte eines Einwanderers, dessen Engagement für das von ihm – sogar trotz dort herrschendem Rassismus – bewunderte Großbritannien mit der Ablehnung kontrastiert wird, die sein Sohn dem Land entgegenbringt. Der Sohn weist Sitten und Gebräuche der Welt zurück, in die er hineingeboren und in der er aufgewachsen ist. Er begeistert sich für intolerante Strömungen des Islam und belehrt seinen Vater darüber, dass “die beiden Kulturen sich letztlich […] nicht vermischen können”. Als der Vater einwendet, es sei doch jetzt schon “alles vermengt”, erwidert der Sohn mit zusammengebissenen Zähnen: “Manche von uns wollen aber mehr als bloßen Mischmasch.” Das Streben nach Reinheit und die Idealisierung der Vergangenheit sind ein Ausweg aus dem Durcheinander der Moderne. Kureishis Botschaft ist, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen nicht an ihren Zweifeln leiden, sondern an ihren Gewissheiten: an falschen Gewissheiten, mit denen reale Nachteile und Kränkungen kompensiert werden. Das trifft nicht nur auf die Personen in Kureishis modernem Märchen zu, sondern auch auf die politische Kaste im Weißen Haus und in der Downing Street.
Die unspektakuläre Normalität des Lebens im Gewirr der Großstadt muss gegen diejenigen verteidigt werden, die seine Problematik überbetonen. Wie ich bereits anderweitig gesagt habe, begegnet man diesem Gewirr im Warteraum jedes Krankenhauses. Als man die Opfer der Anschläge vom 7. Juli ins Krankenhaus brachte, kümmerten sich Krankenpfleger aus der ganzen Welt um die Verletzten. Wie belanglos unsere rassischen und kulturellen Unterschiede sind, wurde besonders deutlich bei den Ärzten und Schwestern, die sich nur aufs Heilen und auf die Rettung von Menschenleben konzentrierten. Krankenhäuser sind Orte der Hoffnung, in denen die multikulturelle Gesellschaft Normalität ist, tägliche Routine, kurzum: die pure Selbstverständlichkeit. Das heißt freilich nicht, es genüge zu behaupten, alles sei bereits in bester Ordnung und es gingen ja nicht täglich Bomben in die Luft, oder lediglich die Tatsache zu begrüßen, dass die multikulturelle Gesellschaft mit ihrem Durcheinander und Chaos sowieso die dominierende Erfahrung der Menschen ist. Manches ist schwer erträglich, und Suresh Grover hat Recht, wenn er uns mahnt, dass Schluss sein muss mit der falschen Bequemlichkeit der Vorstadtperspektive – ob politisch oder akademisch. Das heißt, dass wir eine politische Sprache entwickeln müssen, die gleichermaßen engagiert und wachsam auf Rassismus und auf Terror reagiert.
Vielleicht ist das Wissen um die Fragilität und Kostbarkeit des Lebens der letzte Ausweg, der uns nach diesen schrecklichen Ereignissen geblieben ist. Es hätte jeden Londoner treffen können, die Bombe scheidet nicht zwischen Freund und Feind, und niemand ist unverletzlich. In dem Chaos, das sie an dem Vormittag in der Tube vorfand, gab Shahara Islam es auf, noch zu ihrer Arbeitsstelle gelangen zu wollen. Sie bestieg stattdessen einen Bus der Linie 30, der zu den Geschäften im Londoner West End unterwegs war. In diesem Bus saß der 19-jährige Hasib Hussein, der jüngste der vier Selbstmordattentäter. Hasib, als Kind pakistanischer Eltern in Leeds geboren, hatte am Kings Cross in die Northern Line einsteigen wollen, aber die Station war geschlossen. Um 9.47 Uhr zündete er seine Bombe, die das Dach des Busses zerfetzte und Shahara Islam und zwölf andere Personen in den Tod riss. Shahara war in Whitechapel im Osten Londons aufgewachsen und hatte noch zwei jüngere Geschwister. Ihr Vater Shamsul war in den Sechzigerjahren nach London gezogen und arbeitet als Kontrolleur bei den Londoner Verkehrsbetrieben. Die aus Bangladesch stammende Familie musste länger als die Angehörigen anderer Anschlagsopfer auf die Bestätigung warten, dass jemand aus ihrer Familie zu den Toten gehörte, wohl deshalb, wie manche meinen, weil die Polizei zunächst Shahara für die Attentäterin hielt. Die gerichtsmedizinische Untersuchung widerlegte diese Annahme jedoch bald. Shahara war einfach eine junge Muslima, die tat, was das Normalste für eine junge Frau aus dem East End ist: Als sich eine Gelegenheit bot, die Arbeit zu versäumen, wollte sie shoppen gehen. “Sie war Eastenderin, Londonerin und Britin, doch vor allem eine wahre Muslima und stolz darauf”, teilte die Familie in ihrer Todesanzeige nach den Anschlägen mit.16 Die Selbstmordattentäter töteten sich selbst und andere, die wie sie waren; ihr Anschlag zielte nicht auf einen weit entfernten Feind, sondern auf ihr kulturelles und historisches Spiegelbild. Dass die multikulturelle Gesellschaft inzwischen Alltag ist, muss wahrgenommen werden, auch wenn die Attentäter deren Spuren in sich selbst offensichtlich missachtet haben.
Tony Blair und die britische Regierung haben die terroristische Bedrohung instrumentalisiert, um Zustimmung für eine Politik zu suchen, die die Rechte von als Attentäter Beschuldigten einschränkt und polizeiliche Befugnisse ausweitet. Am 28. Februar teilte der Premierminister den Hörern von BBC Radio 4 in der Sendung “Woman’s Hour” mit, es gäbe “mehrere Hunderte von ihnen [den Terroristen] in diesem Land, die nach unserer Überzeugung terroristische Akte planen und begehen wollen”. Auf Druck der Sensationspresse veröffentlichte Blair im Sommer 2005 seinen mit der heißen Nadel gestrickten “Zwölf-Punkte-Plan” für den Kampf gegen den Terror, darunter auch der unglückselige Zusatz zum Antiterror-Gesetz aus dem Jahre 2000, mit dem die Polizei ermächtigt werden sollte, Terrorverdächtige bis zu 90 Tage ohne Anklage festzuhalten, und der am 9. November 2005 vom Unterhaus abgelehnt worden ist. Noch vor der Veröffentlichung des offiziellen Berichts zu den Londoner Bombenanschlägen im Mai 2006 meldete eine Zeitung unter Berufung auf eine Quelle aus dem Sicherheitsapparat, dass sich die Zahl derer, die der Mitgliedschaft in “Terror-Netzwerken” verdächtigt werden, verdreifacht habe und 700 betrage, eine Zahl, die unmittelbar vor dem ersten Jahrestag der Anschläge vom 7. Juli auf 1200 angehoben wurde.17 Laut den vom Innenministerium veröffentlichten Zahlen waren bis zum 30. September 2005 895 Personen unter dem Antiterror-Gesetz aus dem Jahre 2000 festgenommen worden. Von diesen Festgenommenen wurden jedoch nur 23 terroristischer Verbrechen für schuldig befunden.18 Trotz all dieser aufgeblähten Zahlen liegt die tatsächliche Zahl derer, die die Auflage erhielten, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, noch unter 20 Personen.19 Die Angst vor dem Feind nebenan ist zu einer Allzweckwaffe des Regierungshandelns geworden, die einerseits den Populismus der Sensationspresse dämpft und andererseits politische Unterstützung und öffentliche Meinung in sich bündelt. Niccolò Machiavelli schrieb vor über 400 Jahren, ein Fürst müsse sich dergestalt fürchten machen, dass er, wenn er die Liebe auch nicht gewinnt, den Hass doch vermeide.20 Ob die modernen Fürsten geschmäht werden oder nicht, ist eine müßige Frage, aber Zustimmung durch Verbreitung von Furcht zu gewinnen hat seinen Preis: die Entfesselung und Stärkung von Rassismus, die den Boden für die Begegnung der Kulturen vergiften. Benjamin Barber schrieb: “[…] nicht der Terrorismus ist der Feind, sondern die Angst, und mit Angst wird man Angst letztlich nicht besiegen.”21
Fragmentarischer Patriotismus
In seiner Antrittsrede sprach Präsident Franklin D. Roosevelt 1933 den berühmten Satz: “Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst” und fügte – wie auf unsere Zeit gemünzt – hinzu: “namenlose, blinde, ungerechtfertigte Angst, die notwendige Anstrengungen lähmt, damit aus Rückschritten wieder ein Vorankommen wird.”22 Angesichts der Weltwirtschaftskrise tröstete er seine Mitbürger mit den Worten, die “normalen Schwierigkeiten” beträfen “nur materielle Dinge”.23 Das ist ein krasser Gegensatz zur Rhetorik heutiger Spitzenpolitiker, die keine Gelegenheit versäumen, die terroristische Gefahr zu übertreiben und sie zur Legitimation des Kampfes gegen den Terror einzusetzen. Weit davon entfernt, materielle Dinge zum Inhalt zu haben, findet dieser Kampf vielmehr permanent statt, auf einer metaphysischen Ebene, ist weniger ein Ringen um die praktischen Lebensbedingungen selbst als vielmehr eine Frage der Selbstbestimmung, wobei der nationalen Identität neue Geltung verschafft werden und in einer unumkehrbar verflochtenen Weltgesellschaft die Grenze zwischen “uns” und “denen” aufrechterhalten bleiben soll.
Am Tag vor der ersten Wiederkehr der Londoner Anschläge strahlte die arabische Nachrichtenagentur al-Dschasira ein Video von Shehzad Tanweer aus, dem Attentäter von Aldgate East. Es wies alle Merkmale der Aufnahme von Mohammed Sidique Khan auf: eine geifernde Rede und die Ablehnung des Irakkriegs, gesprochen von einer Stimme, die nur allzu vertraut klang.24 Das Video rief sofort Erinnerungen an die Geschehnisse vor einem Jahr wach. Banges Schweigen kehrte in vielen Zügen und Wagen der Tube ein. Michael Keith, Professor für Soziologie und Lokalpolitiker, schrieb dazu:
Am Tag vor der Wiederkehr der Anschläge fuhr ich zum Bahnhof Aldgate East, wie ich es mehrmals pro Woche tue. Ich war zur Stoßzeit unterwegs, aber an der U-Bahn war merklich weniger los, als für diese Tageszeit normal war. Man spürte, um das Klischee noch einmal zu bemühen, die Anspannung. Inwiefern? Wenn man sonst auf den nächsten Zug wartet, signalisiert das auf den Bahnsteigen aufgeführte Fußgängerballett die Geschäftigkeit Londons, den ungezwungenen Verkehr in der Stadt: die Menschen bewegen sich durch ihn hindurch, weichen hastig nach links oder rechts aus, nehmen den allen gemeinsamen Raum wahr, jeder zu seinem individuellen Ziel unterwegs. An diesem Tag jedoch war es, als hätten die Menschen die Choreografie vergessen: Vorsichtig schritten sie den Bahnsteig entlang, achteten höflich darauf, neben wem sie standen, für wen sie einen Schritt beiseite traten. Von dem sechsten Sinn, mit dem sich Pendler täglich durch das Getümmel bewegen, war nichts zu spüren. Das deutlichste Indiz für die veränderte Lage jedoch war, wie wir die einfahrende Bahn bestiegen. Die meisten Leute auf dem Bahnsteig waren Nicht-Weiße; die Bangladeschi waren in der Überzahl, doch es waren auch Afrikaner da, Chinesen und das übliche ethnische East-End-Gemisch – die meisten westlich gekleidet. Im Zug saß ein bärtiger Mann, der traditionelle islamische Kleidung trug, allein auf einer Bank. Wir blickten uns an, während die übrigen Passagiere in dem vollen Wagen eifrig vermieden, den freien Platz neben ihm zu besetzen. Ein Satz ging mir immer wieder durch den Kopf, den ich einmal von jemand gehört hatte – Selbstmordattentäter rasieren sich vor ihrer letzten Stunde, um sich auf den Tod vorzubereiten. Der Ungefährlichste in der Tube ist der Mann mit dem Bart.25
Die Politik der Angst und der verzerrten Wahrnehmungen zerstört die Choreografie des Lebens. Sie untergräbt nicht nur unsere Fähigkeit zum Miteinander, zum gemeinsamen Aufenthalt im öffentlichen Raum von Bus oder U-Bahn, sondern beeinträchtigt auch das Vermögen, Risiken und Gefahren zu erkennen. Die verzerrten Wahrnehmungen lassen Rassismus gedeihen; die erzeugten Ängste halten sich nicht an die binäre Ordnung von Hautfarbengrenzen, und niemand ist vollkommen frei davon.
Das Klammern an die durch Hautfarben gezogenen Grenzen erzeugt komische und tragische Wirkungen, Momente reiner Absurdität. Polizisten einer Antiterror-Einheit holten in Durham einen Mann aus einem Flugzeug mit der Destination London, weil er sich “London Calling” anhörte, die Punkrock-Hymne von The Clash aus dem Jahre 1979. Die Geschichte fand in der Boulevardpresse weite Verbreitung.26 Während er von Hartlepool im Nordosten Englands mit dem Taxi zum Flughafen Teesside fuhr, hörte der 25 Jahre alte Harraj “Rab” Mann auf seinem MP3-Spieler eine Kompilation von Rockklassikern aus dem Pantheon der britischen Musik, darunter Procol Harum, Led Zeppelin, Ocean Colour Scene, die Beatles und The Clash. Der Songtext von The Clash hatte die Polizisten Argwohn schöpfen lassen. “London calling the faraway towns. Now war is declared – and battle comes down. London calling to the underworld. Come out of the cupboard, you boys and girls.” Statt den Retro-Charakter des Songs mit seiner Anstiftung zu einer Jugendrebellion vergangener Tage zu erkennen, wurde er als dschihadistischer Schlachtruf der Gegenwart fehlinterpretiert.
Der Vorfall verdient genauere Betrachtung. Harraj dokumentierte sein Erlebnis in einem Weblog, und auf die Weise kam ich in Kontakt mit ihm.27 Als wir telefonierten, sagte er mir, er wolle “Rab” genannt werden; Harraj sei sein “Sonntagsname”. “Ich finde es ja lachhaft, aber meine Freunde – in der Mehrzahl übrigens Weiße – sind sehr zornig darüber gewesen. Ich weiß, solche Sachen passieren überall in London, und das andauernd, meine Verwandten erzählen mir ja davon. In Hartlepool aber vergesse ich, dass ich Asiate bin. Ich hab zwar einige Freunde, die auch Asiaten sind oder Schwarze, aber viele Asiaten gibt es auf dem Durham Airport nicht. Wenn ich etwas trinken geh, bin immer ich derjenige, der angehalten wird. Da lach ich zwar bloß drüber, aber mir ist schon klar, dass es eigentlich nicht witzig ist.”28 Anders als in den Zeitungsartikeln behauptet, hatte nicht der Taxifahrer, dem Rabs aufrührerische Musik nicht entgangen war, seinen Fahrgast bei der Polizei angezeigt, sondern Rab hatte beim Betreten des Flughafens eine Auseinandersetzung mit einem Wachmann gehabt, der ihn feindselig und grob behandelt hatte. Es waren die “Behelfspolizisten”, die die Antiterror-Polizei benachrichtigten, und diese wiederum befragten den Taxifahrer zu den Geschehnissen während der Fahrt.29
Rab war an dem Tag nach London unterwegs, weil er sich mit Verwandten treffen wollte, die in Southall und Ilford wohnen. Ein Anlass für seine Reise war, dass er mehr über die Sikh-Religion – den Glauben seiner Familie – und über seine Herkunft erfahren wollte. “Man braucht einen Glauben, aber die Religion ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn Politik und Religion vermengt werden, geht alles vor die Hunde. Ich bin Agnostiker.”30 Rab hat eine Eins in Soziologie, und er hat seine eigene Theorie zu den Veränderungen nach den Londoner Bombenanschlägen. “Die Welt ist verrückt geworden – vollkommen durchgedreht. Man braucht sich bloß die Musik anzusehen: da geht alles durcheinander, ist ganz verdreht, und die Leute sind genauso. Dasselbe mit dem Essen, ich meine, ich ess gern italienisch, ich ess gern chinesisch, indisch auch. Und trotzdem hält sich das Klischee, und die Leute stellen dauernd irgendwelche Vermutungen an. Mir ist es schon passiert, dass Neunjährige mir ‘Paki’ nachgerufen haben, total gehässig, da hab ich mich umgedreht und gesagt: ‘Und, was seid ihr, Iren oder Waliser oder Schotten?’ Da haben sie verdattert gekuckt, und dann hab ich denen erklärt: ‘Es gibt ein Land, das heißt Pakistan, und ein anderes, das heißt Indien, und meine Eltern kommen aus Indien. Ich bin in Yorkshire geboren und wohne schon länger in England, als du am Leben bist.’ Manchmal sieht man ihnen richtig an, wie schockiert sie sind, wenn ich mit britischem Akzent spreche. Das macht mich traurig.” Rab hat nicht vor, seine Klage gegen die Wachleute am Flughafen weiter zu betreiben, er möchte sich lieber auf seine Zukunft konzentrieren, seinen Abschluss als Grafiker machen und danach Philosophie studieren.
Rabs Alltag erzählt eine Geschichte aus dem heterogenen Leben der britischen multikulturellen Gesellschaft: Fragmente aus Kultur, Religion und Ideologie koexistieren hier als simple Lebenstatsachen, wenngleich nicht unreflektiert, sondern unvoreingenommen hinterfragt. Die Ironie des Ganzen ist ja, dass das “London Calling” von The Clash ein Indikator für Rabs Integration ist, den man hätte erkennen können: der Song als ein Kettenglied, das Rab mit der Geschichte der britischen Jugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Rabs Erfahrung freilich ist alles andere als ein Einzelbeispiel für das Angstsyndrom. Am 19. April 2004 meldete die Polizei, man habe eine terroristische Bande genau in dem Moment ausgehoben, als sie einen Selbstmordanschlag im Old Trafford Stadium von Manchester United ausführen wollte. Die Polizei nahm acht Männer, eine Frau und einen 16 Jahre alten Jugendlichen fest. Anklagen gegen sie wurden nie erhoben. Der Journalist Peter Oborne sprach mit einem der Verdächtigen, einem kurdischen Asylsuchenden, der ihm sagte, im Zuge der polizeilichen Befragungen habe sich der Jugendliche als Fan von Manchester United geoutet. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand die Polizei Fanartikel, darunter ein Poster von Old Trafford und Kontrollabschnitte von Tickets, die der Verdächtige als Souvenir behalten hatte, wenn er im Stadion war, um seine Mannschaft gegen Arsenal spielen zu sehen. Oborne schrieb: “Die Kurden, mit denen ich sprach, waren nach Großbritannien gekommen, um der Brutalität des Regimes von Saddam Hussein zu entgehen. Ihre Begeisterung für Manchester United war das vielleicht wichtigste Gefühl, das sie mit Großbritannien verband, deshalb bewahrten sie auch diese Souvenirs bei sich zuhause auf […] Nichtsdestotrotz hat die Polizei die Souvenirs von Manchester United als potenzielle Beweismittel für ein Bombenattentat betrachtet.”31 Heraus kam bei dem Ganzen nur, dass die als Kriminelle Gebrandmarkten und fälschlich Beschuldigten ihre Wohnung, ihre Arbeit und ihre Freunde verloren.32 Ein Song von The Clash oder ein Programmheft von Manchester United in den “falschen Händen” ist nach dieser Logik sich tarnender Terror und kein Indiz für eine emotionale Bindung an Großbritannien oder für das multikulturelle Leben in diesem Land. Das gemahnt an Paul Gilroys Beobachtung, dass sich der rassistische Furor jetzt auf die “noch größere Bedrohung des nur halb Andersartigen und teils Vertrauten” richtet.33 Es gibt manifeste Instrumentalisierungen, die im Kampf gegen den Terror bereits Routine sind.
Solche Widersprüche erwecken Zweifel an der Auffassung, ein gestärktes Nationalgefühl sei die Lösung. Tariq Modood ist nicht gut auf Autoren zu sprechen, die die britische nationale Identität ein “hohl und bedeutungslos gewordenes Projekt” nennen, “dessen Zeit zu Ende geht”.34 Die Lösung, so Modood, “muss vielmehr eine multikulturelle Gesellschaft sein, die sich mit einem erneuerten und gestärkten britischen Nationalgefühl verbindet, ja, geradezu die Kehrseite dieser Medaille darstellt”.35 Wie Paul Gilroy überzeugend dargelegt hat, wird Großbritannien immer noch von seiner imperialen Vergangenheit verfolgt, ohne dass es sich ihr direkt stellt oder sich endlich davon verabschiedet. Die einfache Wiederbelebung des britischen Nationalgefühls verfestige daher, so Gilroys Diagnose, zwangsläufig die imperiale Psychopathologie einer manisch gesteigerten postkolonialen Melancholie.36 Von George Orwell stammt der Hinweis: “Jeder Nationalist wird verfolgt von dem Glauben, dass sich die Vergangenheit ändern lässt.”37 Die Vergangenheit lässt sich aber nicht ändern; man kann sich ihr entweder stellen oder sie leugnen. Daher plädiere ich für etwas, was man als fragmentarischen Patriotismus bezeichnen könnte.
Der viel geschmähte Millennium Dome beherbergte eine Ausstellung, benannt “Selbstporträt-Zone”, die von Marks and Spencer gesponsert worden war. Neben einer spiralförmig gewundenen Rampe hingen 400 Fotos, ausgewählt von Einwohnern Großbritanniens. “Großbritannien, gesehen von den Briten”, wie die Ausstellung im Untertitel hieß, spiegelte die banale und alltägliche Komplexität der britischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen Gartenlauben, Töpfchen mit Marmite-Brotaufstrich und verdauungsfördernden Plätzchen hingen Fotos des Musiker Talvin Singh und die Plakette zum Gedenken an den ermordeten schwarzen Teenager Stephen Lawrence, die in der Well Hall Road in Eltham im Londoner Südosten ins Pflaster eingelassen ist. In der Debatte über die Realität der multikulturellen Gesellschaft dominieren Metaphern der Dinglichkeit. Kommentatoren beschwören oft das Bild eines “Mosaiks” mit klaren, deutlich erkennbaren Rändern, so dass die multikulturelle Gesellschaft als ein aus diesen einzelnen Teilen zusammengesetztes Spiegelbild erscheint. In dieser Auffassung gleicht die Kultur dem Chip im Kasino, der eingetauscht, verspielt und gefährdet werden kann. Der Begriff “Schmelztiegel” wiederum hat seinen Ursprung in der Nomologie amerikanischer Rassenkämpfe, deren konfliktreiche Zusammenstöße Differenzen verflüssigt und Verschmelzungen bewirkt haben. Gemeinsam ist all diesen Metaphern die Auffassung von einem materiellen Kernbestand einer Kultur, und zwar, wie im Beispiel der Mosaikteile, als fixierte oder durch die Hitze eines Umwandlungsprozesses veränderte Eigenschaften.38 Vielleicht lässt sich mit dem Begriff des Fragments, das eben nicht für inhärente Unterschiede kultureller Kernbestände steht – wie jene 400 Ausstellungsfotos –, eine andere Metaphorik entwickeln.
In einer viel zitierten Passage aus “Der Löwe und das Einhorn” nennt George Orwell, was er für “charakteristische Fragmente” hält: “die Dutzenden von kleinen Dingen, deren Zusammenwirken” ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugen.39 Wie alle anderen auch übertrug Orwell dabei die banalen Freuden des Alltags – sei es eine “hübsche Tasse Tee” oder die Freuden der englischen Küche – auf ernsthafte Kulturstudien.40 Aus solchen Fragmenten lassen sich keine stabilen, festen nationalen Identitäten schmieden, und alle Pferde des Königs und alle Männer des Königs können sich noch so mühen, der Nationalismus ist zerschlagen. Was bleibt, sind nur Fragmente, die mit anderen geteilt und die kombiniert werden können, und dies führt zu einer Identifikation, die ohne eine stabile Kernidentität auskommt. Ein solcher fragmentarischer Patriotismus bricht mit der Sehnsucht nach einer stabilen, abgeschlossenen Identität und verweist darauf, dass nationale Identitäten stets nur bruchstückhaft vorhanden sind. Die resultierenden Affinitäten sind locker, veränderlich und dennoch so kraftvoll und nach außen unabgeschlossen wie die Fotografien in der Ausstellung im Millennium Dome. Ein solcher fragmentarischer Patriotismus vereint in sich inkommensurable politische Kräfte, und imperiale Nostalgie kann in ihm genauso widerhallen wie eine zukunftsorientierte, inkludierende, weltliche Vielfalt. Ich glaube, dies ist die Richtung, in die wir schauen sollten, um zu verstehen, was Menschen wie Paul Gilroy und andere als Kultur des geselligen Miteinanders bezeichnen, die “ein bestimmtes Maß an Differenzierung mit einem hohen Maß an Überschneidung in sich vereint”.41
This is an excerpt from Les Back’s forthcoming book The Art of Listening, which will be published by Berg in July 2007.
This article is based on a contribution to the panel discussion “Parallel lives. Cultural diversity and inequality in the urban space”, which took place at the 19th European Meeting of Cultural Journals in London from 27-30 October 2006.
Jon McGregor: Nach dem Regen. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 1
Albert Camus: "Sommer in Algier", in: ders., Hochzeit des Lichts. Impressionen am Rande der Wüste. Zürich: Arche Verlag 1954
Murray Schafer: The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Richmond, Vermont: Destiny Books 1994, S. 58
Die am 28. September 2005 gemachte Aufnahme ist auf www.goldsmiths.ac.uk/csisp/ zu hören.
Martin Amis: Visiting Mrs. Nabokov and Other Excursions. London: Vintage 2005, S. 146
Simon Freeman: "Maximum security as London bomb suspects appear in court", www.timesonline.co.uk/article/0,,22989-1726498_1,00.html
Associated Press, "London bombing suspects in court, via video", www.msnbc.msn.com/id/6448213/did/10384766
Abu Hamza ist ein muslimischer Geistlicher, der 2006 wegen Anstachelung zu Rassenhass und Mord verurteilt wurde.
Jane Offerman, Mail an den Verfasser vom 15. Mai 2006
Geräusche wurden von den Folterern und Vernehmern auch gegen Gefangene in Einzelhaft eingesetzt, die mit lauter Musik, häufig von blinkendem Licht begleitet, gepeinigt werden. Die verwendete Musik ist von bizarrer Bandbreite, angefangen von Heavy Metal, etwa Metallicas "Enter Sandman", bis hin zu Songs aus dem Kinderfernsehen, darunter etwa der "I Love You Song" aus "Barney & Friends", einer Puppenshow mit violetten Dinosauriern. Siehe dazu: Jon Ronson: The Men Who Stare at Goats. Basingstoke-Oxford: Picador 2004, S. 130f. Noch bedrückender ist, was Moazzam Begg -- ein britischer Häftling in Guantánamo Bay -- in seinen Erinnerungen über die permanente Beschallung mit dem Geräusch einer schreienden Frau berichtet. Siehe Moazzam Begg: Enemy Combatant: A British Muslim's Journey to Guantanamo and Back. London: Free Press 2006, S. 161
Mohammed Abdul Kahar: "I just thought: one by one they are going to kill us", in: The Independent, 14. Juni 2006, S. 2
Vikram Dodd: "Asian men targeted in stop and search", in: The Guardian, 17. August 2005
Amy Gutman (Hg.): Multiculturalism and the Politics of Recognition. Princeton: Princeton University Press 1994
Tagebuch von unterwegs, 27. Juli 2005
Suresh Grover: "After 7/7", Xenos Conference, Goldshmiths College, 15. Februar 2006
"Obituary: Shahara Islam", BBC News, http://news.bbc.co.uk/1/hi/england/london/4738141.stm
Siehe dazu: Jason Bennetto et. al.: "Security services identify 700 potential al-Qa'ida terrorists at large in Britain", in: The Independent, 10. Mai 2006, http://news.independent.co.uk/uk/crime/article363121.ece und Frank Gardner: "One year on: Is the UK any safer?", BBC News, http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk/5140958.stm
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Peter Oborne: The Use and Abuse of Terror: The Construction of a False Narrative on the Domestic Terror Threat. London: Centre for Policy Studies 2006, S. 17
Niccolò Machiavelli: The Prince. London: M. Dent and Sons 1958, dtsch.: Der Fürst, 17. Kapitel: "Von der Grausamkeit und dem Mitleid und ob es besser sei, geliebt als gefürchtet zu werden"
Benjamin Barber: Fear's Empire: War, Terrorism, and Democracy. New York: W.W. Norton and Company Inc. 2003, S.32, dtsch.: Das Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt. München: C.H.Beck 2003
Franklin D. Roosevelt: "Inaugural Address, 4 March 1933", in: Samuel Rosenman (Hg.): The Public Papers of Franklin D. Roosevelt, Volume Two: The Year of Crisis, 1933. New York: Random House 1938, S. 11-16
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Sean O'Neill/Daniel McGrory: "I blame war in Iraq and Afghanistan, 7/7 Bomber says in video", The Times, 7. Juli 2006, S. 4
Persönliche Mitteilung, Mail vom 12. Juli 2006
"Man Taken off Plane", in: Hartlepool Mail, 3. April 2006; "Man held as terrorism suspect over punk song", Reuters, Mittwoch, 5. April 2006; "Clash Fan Taken off Plane", in: The Sun, 5. April 2006; "Air Terror Alert Over Clash Hit", in: The Mirror, 5. April 2006
Dies findet man auf "MySpace.com" unter: http://blog.myspace.com/index.cfm?.fuseaction=blog.ListAll&friendID=63403172&MyToken=c898b5c2-cf25-41a8-9e7a-c56062822c78ML
Interview vom 9. Mai 2006
Nach einer ganzen Reihe von Terrorwarnungen auf Flughäfen wurden zwei Studenten aus Manchester -- Sohail Ashraf und Khurram Zeb -- im Sommer 2006 während eines Flugs aus Malaga in Spanien aus ihrer Maschine des Billigfliegers Monarch geholt. Unter ihren weißen Mitreisenden war eine solche Paranoia ausgebrochen, dass die beiden gebeten wurden, das Flugzeug zu verlassen. Es war ein Paradebeispiel für die verzerrte Wahrnehmung: Zwei asiatische Studenten, die taten, was der Inbegriff englischer Tradition ist -- ab in die Sonne! -- wurden für gefährliche potenzielle Terroristen gehalten.
Interview vom 9. Mai 2006
Peter Oborne: The Use and Abuse of Terror: The Construction of a False Narrative on the Domestic Terror Threat. London: Centre for Policy Studies, S. 28
ibid., S. 26
Paul Gilroy: After Empire: Melancholia or Convivial Culture? London: Routledge 2004, S. 137
Tariq Mohood: "Remaking multiculturalism after 7/7", openDemocracy, 29. September 2005, www.opendemocracy.net/debates/article.jsp?id=2&debateId=124&articleId=2879
ibid.
Paul Gilroy: After Empire: Melancholia or Convivial Culture? London: Routledge 2004; ders.: "Multiculture in Times of War", Antrittsvorlesung an der London School of Economics, 10. Mai 2006
George Orwell: "Notes on Nationalism", in: The Collected Essays, Journalism and Letters: Volume 3, hrsg. v. Sonia Orwell und Ian Angus. London: Penguin Books 1970 [1945], S. 420
Für eine ausführliche Genealogie des Begriffs "Schmelztiegel" siehe Werner Sollors: Beyond Ethnicity: Consent and Descent in American Culture. New York/Oxford: Oxford University Press 1986, S. 66-101
George Orwell: "The Lion and the Unicorn. Socialism and the English Genius", in: The Collected Essays, Journalism and Letters, Volume 2, hrsg. v. Sonia Orwell und Ian Angus, London: Penguin Books 1970 [1941], S. 75
George Orwell: "In defence of English cooking" und "A nice cup of tea", in: ibid., Volume 3, S. 56-58 und S. 58-61
Paul Gilroy: "Multiculture in Times of War", Antrittsvorlesung an der London School of Economics, 10. Mai 2006, S. 28
Published 15 March 2007
Original in English
Translated by
Silvia Morawetz
First published by Wespennest 146 (2007), pp. 104-110
Contributed by Wespennest © Les Back Eurozine
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