Was immer wir tun, wir shoppen. Unser Gefühlsleben ist von Bildern geprägt, die alle irgendwie wie Werbung aussehen. Auch die Romantik kann konsumiert werden, wie die Jerusalemer Soziologin Eva Illouz so überzeugend gezeigt hat: Keine Liebe ohne den Konsum von Romantikwaren – zu zweit ins Kino, das Candle-Light-Dinner im Restaurant, der Wochenendtrip zu Destinationen, die nach allgemeiner Auffassung mit Romantik verbunden sind. Paris ist da noch immer ein großer Renner. Jedes Erlebnis ist entlang vorfabrizierter Bilder modelliert. Wie “Liebe” auszusehen hat, wissen wir aus Filmen. Wie Erfahrungen von Waren produziert werden, so sind alle Praktiken von “einer konsumorientierten Mentalität durchdrungen” (Illouz). Mit vollem Recht kann daher gesagt werden, dass wir unsere Gefühle, unsere Erfahrungen und unsere Identität “konsumieren”, “erwerben”. Eingedenk dessen ist es kein Wunder, dass Shopping zu einer sozialwissenschaftlichen Kategorie wird – und dass sich sofort die Frage stellt, um “was für eine Kategorisierung es sich dabei handelt”, wie Frederic Jameson, der bekannte amerikanische Theoretiker, anmerkt. Jedenfalls hat Shopping längst nicht in erster Linie mit dem Erwerb von Dingen zu tun – wenn Menschen Dinge besitzen wollen, von denen sie kurz zuvor noch nicht einmal wussten, dann ist das keine derart simple Operation. Möglicherweise wird am Ende auch eine Ware erstanden, in jedem Fall aber konsumieren wir Bilder, entscheiden wir uns für einen der Lebensstile, die längst alle von der Stange zu haben sind, kaufen uns Affekte, gönnen uns womöglich etwas Schönes am Erlebnismarkt – sogar dann, wenn wir ausdrücklich nichts kaufen. Wir erwerben uns buchstäblich selbst. Darum auch die Allgegenwart des Branding, die Strategie, Waren, Dienstleistungen, Stadtviertel, Nationen, Personen mit einem Image zu verbinden, an dem der teilhat, der diese Waren erwirbt oder diese Stadtviertel besucht. Shopping ist also eine Kategorie, die gerade deshalb produktiv ist, weil sie unscharf ist: Sie bezieht sich auf ökonomische Aspekte ebenso wie auf psychische, auf urbanistische ebenso wie auf technologische. Und sie färbt alle Lebenswelten ein. “Nicht nur, dass Shopping mit allem verschmilzt, alles verschmilzt auch mit Shopping”, schreibt Sze Tsung Leong im indes fast schon kanonischen Harvard Design School Guide to Shopping. Konsumismus als Weltverhältnis, als Disposition, als “ein Verhältnis zu einer marktförmigen Welt” (Dominik Schrage), mit ihrem Steigerungskalkül und Strategien zu “Lustgewinn”, bringt Shopping als raffinierte Kulturtechnik hervor. Von Rem Koolhaas ist der Satz überliefert, “Shopping dürfte wohl die letzte noch übrig gebliebene Form öffentlicher Aktivität sein.”
Kurzum: Im Lifestyle- oder Kulturkapitalismus, in dem sich die Güter weniger hinsichtlich ihres praktischen Gebrauchswerts als vielmehr hinsichtlich ihrer “kulturellen” Eigenschaften unterscheiden, ist Shopping einfach der Weg, sich eine Identität zusammenzukaufen. “Brands represent identity”, heißt das in den Worten des britischen Marketingpapstes Wally Olins.
Klingt etwas übertrieben? Leicht überspitzt? In jedem Fall ist die Diskrepanz doch erstaunlich: Bedenkt man die Bedeutung, die Shopping für die Formung unseres (inneren) Ich und unserer (äußeren) Lebenswelten ohne jeden Zweifel hat, ist Shopping ziemlich untheoretisiert. Shopping ist wie ein weißer Fleck auf der globalen Kartografie des Wissens. Eine Art Tabu, das nicht angerührt wird. Nachdenken über Shopping gilt als niedere Kunst, die der Gebrauchsliteratur überlassen wird, den Ratgeber schreibenden Spezialisten, die sich mit Schaufenstergestaltung beschäftigen, oder den Forschern, die nützliches Wissen zusammentragen. Leuten wie Paco Underhill etwa, dem Autor von Why We Buy: The Science of Shopping, der weiß, dass Käufer durchschnittlich 11,27 Minuten in einem Shop verbleiben, Nichtkäufer dagegen nur 2,36 Minuten, und der das Gesetz entdeckt hat, dass sich Shopper nach dem Betreten eines Geschäfts zunächst nach rechts wenden (woraus Innenarchitekten und Händler ihre praktischen Schlüsse ziehen).
Was aber das Entstehen einer “konsumistischen Mentalität” recht eigentlich bedeutet, ist wenig beleuchtet. Im Diskurs über Globalisierung beispielsweise wird aller Ton auf internationale Arbeitsteilung gelegt, darauf, dass Autos in Deutschland entworfen, in Spanien zusammengeschraubt, in China verkauft werden, die Firmenbuchhaltung möglicherweise in Kalkutta besorgt wird und dass die Shareholder des Unternehmens global agierende Investmentfonds sind, die ihre Einlagen zwischen Arkansas und Asunción einsammeln und im virtuellen Raum “in Echtzeit” durch irgendwelche Glasfaserkabeln jagen. Viel weniger Worte werden aber darauf verschwendet, dass eine globale power brand nur dann erfolgreich ist, wenn ihr Markenimage sowohl in Ulm wie in Ulan Bator als erstrebenswert gilt, wenn man mit ihr einen Lifestyle (mit) zu erwerben wünscht –, dass es also so etwas wie eine Globalisierung der Gefühle und Sehnsüchte geben muss und ein globales Verständnis der Zeichensprache, mittels derer eine Ware mit den Konsumenten kommuniziert (was natürlich nicht ausschließt, dass eine Zeichensprache, die global expandiert, nicht auch zu Miss-Verständnissen einladen kann).
Über Shopping zu theoretisieren hat also den strengen Hautgout jener eigenartigen kulturwissenschaftlichen Leichtfüßigkeit, die von sinnarmer Beliebigkeit manchmal nicht leicht zu unterscheiden ist und auch eine Sozialgeschichte der Klobrille hervorzubringen vermag. Besser also, man verliert nicht allzu viele Worte über Shopping, ansonsten besteht Gefahr, dass man für einen dieser Flachdenker aus dem Popliterateneck gehalten wird. Ähnliches gilt für die paradigmatischen Orte des globalisierten Konsumkapitalismus schlechthin, die von New Jersey bis Shanghai ziemlich gleich aussehen: die Shopping Malls. Sie sind das Selbstverständliche. Sie stehen überall rum und keiner redet über sie. Dabei ist die Mall, Nachfahre der Passagen und Arkaden des neunzehnten und der Warenhäuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, nicht bloß eine Ansammlung von Geschäften in einem Komplex, der außerhalb der großen Städte oder inmitten der Suburbs hochgezogen wird, also nicht bloß eine effektive und kostengünstige Konzentration von Möglichkeiten zum Erwerb von Dingen. Sie ist auch nicht bloß ein Kind von Air-Conditioning, Rolltreppe und Gipskartonwand. Wenngleich man darauf auch nicht einfach vergessen soll: Die Entwicklung raffinierter technischer Möglichkeiten, einen großen Raum verschieden großer Räume ohne Fenster zu schaffen, durch den man sich trotz weiter Wege bequem bewegen kann und in dem man nicht erstickt, war eine entscheidende Voraussetzung für das Entstehen von Shopping Malls. Nur erschöpft sich die Shopping Mall keineswegs in der Technik, die sie ermöglichte. Sie ist all das, aber doch auch mehr: Sie ist ein eigener Erlebnisraum mit Orts-Effekten über den eigentlichen Kreis der Mall hinaus. Wenn der Imperativ des Konsumkapitalismus lautet “Führe uns in Versuchung!”, so ist die Shopping Mall seine Kathedrale.
Heute ist übrigens die Urform der Mall längst überlebt. Das letzte “Big Thing” ist das “Urban Entertainment Center” (UEC): Shopping Mall, Treffpunkt, Multiplex, Ort der Erlebnisgastronomie in einem. Riesige Klumpen von Läden, Büros, Restaurants, Kinos, die sich zu einer “Mini-Stadt” formen. Wucherungen am Rande der Städte, aber auch inmitten derselben, die sich ähnlich in die Landschaft fügen wie ein Karzinom in einen Organismus. Öffentliche Orte, die doch nur Als-ob-Städte sind, Kulissen des Sozialen, in denen man zwar schon aktiv sein kann, dies aber doch nur auf eigentümlich passive Weise.
“Ich habe mich”, sagt Jon Adams Jerde, “des architektonischen Drecks angenommen, um wieder Plätze für Gemeinschaften zu kreieren.” Jerde ist, wenn man so will, der bedeutendste Architekt der Welt, auch wenn ihn kaum jemand kennt, auch jene nicht, denen ansonsten die Namen der eigentlichen Architektur-Celebrities durchaus geläufig sind – die Gehry, Hadid, Eisenman und wie sie alle heißen. “Von so viel Bedeutung und Möglichkeiten träumen andere Architekten”, sagt denn auch Rem Koolhaas. Jerdes Bauten werden jährlich von mehr als 500 Millionen Menschen besucht, zu seinen Projekten gehören die Mall of Egypt in Kairo, das West End City Center in Budapest, der City Walk in Los Angeles und die Mall of America in Bloomington, Minnesota, Amerikas größtes überdachtes Einkaufszentrum. Letzteres “ist ein Ort, an dem man außer Geborenwerden und Sterben problemlos ein ganzes Leben verbringen kann”, urteilte das deutsche Wirtschaftsmagazin Brand Eins. Was die Mall paradigmatisch macht, ist, dass sie soziales Leben rund um den Imperativ “Kaufen!” organisiert. Die Mall of America etwa hat “ihr eigenes Ausbildungszentrum, ein Joint Venture mit der Schulbehörde Bloomingtons. Die Mall bietet Niveaus vom Kindergarten bis zur Universität an und hat sogar ihr eigenes MBA-Programm.” Das ist, als würde man hierzulande sein Doktorat in der Shopping City Süd machen.
In der Mall kann man normales soziales Leben rund um jene Warenförmigkeit simulieren, welcher der Ort erst seine Existenz verdankt. Worauf Leute wie Jerde ihr Augenmerk richten sind die Zwischenräume: die Orte zwischen den Läden, die einstmals leeren Flächen. Diese Brachwüsten in den klassischen Einkaufszentren haben sie zu Orten gemacht, an denen man verweilen kann, mit Cafés, Kino, Erlebnisgastronomie. So haben die Shopping Malls, zu Urban Entertainment Centers mutiert, Eigenschaften angenommen, die ursprünglich zu den klassischen Charakteristika der Innenstädte gehörten: scheinbar brodelnde, scheinbar lebendige, scheinbar öffentliche Orte. Das urbane Erlebnis ist eingebettet in eine Brand-Politik, die Politik einer Warenmarke. Die Erlebnisse, die zur Konsumtion angeboten werden, müssen mit den Images der vertretenen Brands vereinbar sein und mit dem Image der Mall als brand zone. Die Mall ist also ein pseudo-öffentlicher Raum oder ein gigantischer Privatraum. Sie ist ein Privatraum, weil sie nur eine Kulisse des Öffentlichen und im privaten Besitz ist, aber sie ist natürlich nach allen praktischen Gesichtspunkten ein öffentlicher Raum. Dem tragen mittlerweile auch einige Gerichtsurteile Rechnung, etwa die des Höchstgerichtes von New Jersey, das, nachdem die Betreiber der örtlichen Mall eine Bürgerrechtsgruppe am Verteilen von Flugblättern hinderten, erkannte, erstere hätten “vorsätzlich ihr Eigentum in einen öffentlichen Platz, einen öffentlichen Versammlungsort verwandelt”, wodurch das Recht auf freie Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch an diesen “Hauptstraßen unserer Zeit” begründet sei. Kurzum: In der Mall dürfe man also genauso demonstrieren wie, sagen wir, am Bahnhofsvorplatz.
Hierzulande sind Demonstrationen in Shopping Malls (noch) verboten. In Wien fordern etwa die Grünen, die Gesetze der Realität anzupassen – also dem Umstand, dass die Malls zu wesentlichen öffentlichen Orten geworden sind. Die Ladenbesitzer und Mall-Betreiber lehnen das ab. Womöglich verweist aber gerade diese “Meinungsverschiedenheit” auf das Symptomatische, denn beide haben auf ihre Weise Recht. Shopping Malls sind Zonen mit Effekten des städtischen Lebens – aber deswegen noch lange keine urbanen Räume. In den schein-öffentlichen Räumen “findet eine Reglementierung statt. Der als öffentlich wahrgenommene Raum ist in Wirklichkeit ein privater Raum, der geöffnet wird, um – als öffentlicher Raum simuliert – ein Kommen und Gehen zu ermöglichen. Dieses Kommen und Gehen wird vom Hausherrn kontrolliert, um nur bestimmten Personen den Zugang zu gewähren oder im Falle eines Regelverstoßes einen Verweis auszusprechen. Gleichzeitig aber muss eine Aufenthaltsatmosphäre geschaffen sein, die den Zielen des Besitzers entgegenkommt: Es sollte durch Musik u.ä. eine angenehme, entspannte oder anregende Atmosphäre geschaffen werden, um zu konsumieren. Das angenehme Verweilen ist daher nur in kommerziellen Zonen erwünscht. Alles ist a priori geplant und wird gelenkt. Eine Aneignung oder Umnutzung durch die Passanten kann und darf nicht stattfinden. Auf Stufen darf man sich nicht setzen. Jedes Ding hat seinen Platz.”
In manchen dieser Urban Entertainment Center sind nicht nur “Versammlungen in größeren Gruppen” untersagt, sondern auch “unnötiges Herumstarren”, und wer etwa eine Baseballkappe verkehrt herum trägt, wird umgehend von der Plaza des City Walks verwiesen. Deswegen hat der Stadttheoretiker Mike Davis die Entertainment-Malls auch “das Architektur-Äquivalent zur Neutronenbombe” genannt – “eine Stadt, der alle lebendigen Erfahrungen fehlen”. Mit echten Erlebnissen, bemerkte ein anderer Architekturkritiker, habe das so viel zu tun “wie ein Zoo mit dem Leben in der Wildnis”. Eine Formulierung, die übrigens bei aller Wahrheit auch zeigt, auf welch unsicherem Boden sich Kritik bewegt. Denn wo ist denn verbindlich verzeichnet, welche Erlebnisse “echter” sind als andere? Weshalb genau ist ein Theaterbesuch “echter” als eine Tour durch Sony City, warum ist ein Vollrausch aus der Eckkneipe ein “echteres” Erlebnis als einer aus dem Millenium Tower? Wie auch immer: Unbestritten ist, dass das soziale Leben in den Malls vom Wunsch nach Beherrschbarkeit, nach Kontrollierbarkeit bestimmt wird sowie vom kommerziellen Charakter der gesamten Anlage und dem mächtigen Zwang zur Homogenisierung. Denn Malls haben die Eigenart, überall mehr oder weniger gleich auszusehen, sich gleich anzufühlen, gleich zu schmecken.
Man sollte die Auswirkungen all dessen nicht unterschätzen. Orte prägen. Sie sind eine Schule des Sehens, sie haben Auswirkungen auf den Habitus, ja, auf die Physiognomie derer, die sich in ihnen gewohnheitsmäßig bewegen. Wir orientieren uns in Orten durch Zeichensysteme. Und Zeichensysteme sind nicht nur etwas, worüber wir verfügen, sondern was über uns verfügt: das Mittelmäßige und Billige, gepaart mit dem immer etwas zu Bunten, immer einen Dreh zu Grellen der Mall, die Strategien, mit Glitzeroberflächen die Wahrnehmungsschwellen zu überschreiten, nur um sie immer höher zu treiben. Unnötig zu sagen, dass all dies nicht ohne Auswirkungen auf die Sinne der Subjekte bleiben kann. Noch die exquisiteste Mall ist so gesehen immer auch eine Schule der Stumpfheit.
Die Mall ist aber nicht deshalb der paradigmatische globalisierte Ort, weil sie überall herumsteht, sondern weil sie zum Modell für alle globalisierten Räume geworden ist – zum Paradigma also für all die Durchgangszonen, in denen man sich recht eigentlich nicht aufhält, die Drehkreuze der permanenten Ortsveränderung. Wenn man so will: der Orte der Ortlosigkeit schlechthin. Flug- und Bahnhöfe sind heute von Malls praktisch ununterscheidbar geworden (man denke an den neuen Bahnhof in Linz). Dasselbe gilt für die Eingangsbereiche großer Krankenhauskomplexe (Beispiel AKH) und, mutatis mutandis, die großen Kulturkomplexe von der Art des Museumsquartiers und überhaupt die großen Museen, die den internationalen Tourismus anziehen, die mit ihren Shops, manchmal so groß wie Warenhäuser, einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen bestreiten. Übrigens folgt die Kolonisierung öffentlicher Räume durch privatwirtschaftliche Shoppingzonen in der Regel auch einer simplen Logik: Weil sich die öffentliche Hand aus budgetären Gründen aus der Finanzierung des öffentlichen Raumes zurückzieht, suchen die Betreibergesellschaften von Flughäfen, Bahnhöfen, Spitälern und Museen ihr Heil bei den Shops. Zuletzt sorgte für etwas Erstaunen, dass sich in den USA sogar die größten und einflussreichsten Kirchengemeinden an den Shopping Malls orientieren – diese Mega-Churches bieten Platz für einige tausend Gläubige, für ausreichend Parkplätze ist auch gesorgt und darüber hinaus ist auch Rundumbetreuung von Psychoberatung über Haarschnitt bis zum Fitnesscenter garantiert. Schließlich hat sich auch in Glaubensdingen das kapitalistische Prinzip durchgesetzt: Es überleben nur die Großen und auch die Priester müssen auf die Quote achten.
Die Glaswürfelästhetik der Malls ist die Bühne des Sozialen, durch die sich die Bewohner und Hindurchgeher wie Schauspieler bewegen, und weil sie es von klein auf lernen, haben sie darin bald eine Virtuosität, deren Schattenseite freilich die geistlose Routine ist. Aber im System Mall ist der Bewohner des modernen konsumkapitalistischen Universums eben so “zu Hause”, wie man in einer Syntax zu Hause ist, die man von Kind auf erlernt hat. Die Mall ist denn, wie John McMorrough in einer schönen Wendung schreibt, eine tote Sprache wie Latein – “sie wurde zum grundlegenden Ausdruckssystem für verschiedene Ausdrucksweisen”.
Dies wirkt, einer Rache der Geschichte gleich, auch auf die Innenstädte zurück. Markierte das Phänomen der Shopping Mall einstmals einen Bedeutungsverlust der Innenstädte und eine Abwanderung des Shoppings an die Peripherie, so ist heute der Aufschwung der Innenstädte zu Konsumzonen und Magneten für den internationalen Tourismus von einer Anverwandlung an die Ästhetik der Malls geprägt. Dementsprechend behübscht, geschrubbt und verordentlicht sind sie – “sauber, sicher, lustig” lautet, in den Worten der Wiener Theoretikerin Anette Baldauf, das Prinzip. Diese Innenstädte sind die Orte, an denen die globalen power brands ihre “Flagship Stores” platzieren, die nicht nur Feierstätten des Markenimages sind, sondern auch die Fabrikationsorte desselben. So müssen die globalen Luxusmarken nachgerade an den teuersten Quartieren vertreten sein, weil sie ja eben das zu globalen Luxusmarken macht. Keine Main Street ohne die unvermeidlichen Stores von Kenzo, Louis Vuitton, Prada, Dior. Und die Innenstädte sind nicht nur die Territorien, an denen die Brands präsent sind, sie werden selbst zu brand zones – im internationalen Wettbewerb um Touristen und Investoren müssen die Städte selbst zu Marken mit einem unverwechselbaren Markenimage werden, zu einem brand statement aus Stahl, Glas, Beton oder Stein – und manchmal auch aus Fleisch und Blut. Doch Menschen werden natürlich nur toleriert, sofern sie entweder zahlende Besucher oder einheimische Komparsen sind, die mit dem Image der brand zone harmonieren. Wer herumlungert, wird weggewiesen. Straßenmusikanten sind nur so weit akzeptiert, als sie sich in das Lokalkolorit fügen. Ebenso obligatorisch ist heute eine Prise Subkultur, meist am Rande des städtischen Zentralbereichs – das gehört zum Stadterleben dazu und ist daher im Stadtmarketing von heute zwingend vorgeschrieben. In jedem Fall verkaufen sich die Städte immer auch selbst und müssen bedacht sein, ein erlebbarer Ort zu sein, an dem man sich wohl fühlt, an dem sich die Erwartungen des Besuchers erfüllen, an dem man den Konsum konsumieren kann. Die Werte der Shopping Malls mit ihren sedierten Erlebnissen und der Kontrollierbarkeit werden auch zu den Werten der Städte. Kurzum: Die Innenstädte definieren sich als Konsumzentren. “Die Straße kann jetzt als Mall unter freiem Himmel entschlüsselt werden” (John McMorrough).
Mit dieser Transformation zum “urban experimental retailing” ist die “Innenstadt als korporativer Themenpark mit ihrer scheinbar perfekten sozialen Harmonie zur Zugriffsfläche der Mittelschicht geworden. Sie fungiert nun als ausgedehnte Unterhaltungs- und Einkaufszone, die primär die Gruppe der Young Urban Professionals bedient. Unabhängig von ihrem konkreten Standort setzen sich die Zentren nun immer häufiger aus einem standardisierten Set an Franchiseniederlassungen zusammen: McDonalds, KFC, GAP, Virgin Megastore, Tower Music, Barnes and Nobles, Starbucks verwandeln die Stadtzentren in brandscapes (Markenlandschaften), in denen going downtown’ gleichbedeutend ist mit ‘going shopping'” (Baldauf).
Wobei in einem komplizierten Prozess der Osmose die Geschichte einer Stadt, ihr Image in die brand zone aufgehen muss. Anders als die Shopping Mall haben die Innenstädte einen “Standortvorteil” – ihre Aura. Gerade deshalb müssen homöopathische Dosen von Urbanität gepflegt werden, denn der Besucher der Stadt will ja mit den Gütern, die er in ihr kauft, einen Teil des Images der Stadt als brand zone mit erwerben.
Shopping in der Innenstadt ist so gesehen nur eine von vielen Varianten des Themen-Shopping. In diesem Fall: Shopping im Erlebnisraum Stadt, unterhaltend wie ein Spaßbad. Schlussendlich schlägt die Verwandlung von der Stadt zum Themenpark als Shoppingumgebung, diese Rache der Shopping Mall am Urbanen, auf paradoxe Weise zurück auf die Shopping Malls selbst. Einige Mall-Betreiber ziehen in ihren Einkaufszentren neuerdings Stadt-Kulissen hoch, errichten einen Themenpark in Gestalt von Städten. “Wir bauen richtige Straßen ein”, berichtete ein Mall-Betreiber aus San José, Kalifornien: “Wir bauen regelrecht eine Innenstadt nach.”
Wenn, wie Stuart Hall sagt, “die materielle Welt der Waren und Technologien zutiefst kulturell” ist, dann ist die Shopping Mall tatsächlich der paradigmatische Ort einer solchen “kulturkapitalisierten” Welt, in der am Ende soziales Leben, Kommunikation gar nicht mehr ohne Vermittlung von Waren vorstellbar ist. So gesehen ist die “Ver-Mallung” der Städte selbst nur konsequent – und gerade deshalb bei Gott keine Kleinigkeit. “Junk-Space” nennt Rem Koolhaas in einem zornigen Manifest “die Summe unserer heutigen Architektur”: “Junk-Space ist das Ergebnis des Aufeinandertreffens von Rolltreppe und Klimatisierung, empfangen in einem Brutkasten aus Gipskartonplatten […] Die Schönheit der Flughäfen, besonders nach jedem neuen Ausbau! Das Glitzern der Renovierungen! Die Vielfalt der Shopping Malls! Lassen Sie uns den öffentlichen Raum erforschen, Spielkasinos entdecken, Themenparks untersuchen. […] Junk-Space ist additiv, schichtweise angeordnet und leichtgewichtig, zerstückelt […] ausersehen, Warenzeichen zu tragen […] er besteht nur aus Subsystemen ohne Konzept, aus verwaisten Partikeln auf der Suche nach einem Plan oder einem Muster […] völlig chaotisch oder erschreckend steril und perfekt, undeterminiert und zugleich überdeterminiert.”
Womöglich kann man die Shopping Mall als die DNA unserer Zeit bezeichnen.