Angesichts der Terroranschläge auf Zentren der westlichen Welt wie dem jüngsten in London wächst in Politik und Medien erneut die Bereitschaft, die Kette solcher Akte wie auch die Gegenwehr als “Krieg” zu bezeichnen. In der deutschen Diskussion bürgert sich der Begriff der “neuen Kriege” ein. Es gibt aber gute Gründe, sich dieser eifrigen Umbenennung von Phänomenen zu verweigern, die oft weder neu noch Kriege sind.
Die “neuen Kriege” werden meist in Kategorien wie Entstaatlichung und Privatisierung von Gewalt, Aushöhlung des Kriegsvölkerrechts und zeitlicher wie räumlicher Entgrenzung beschrieben. Man kann daran unschwer ablesen, welche “alten” Kriege das Reden von “neuen Kriegen” als Bezugspunkt nimmt: Vornehmlich die verregelten Staatenkriege des 18. und 19. Jahrhunderts; dann die weitgehend entregelten, aber immer noch staatlichen “totalen” Kriege des 20. Jahrhunderts; weiter die beruhigend berechenbare Blockkonfrontation des Kalten Krieges; und schließlich ansatzweise noch die Konflikte in der Dritten Welt seit 1945, die der Westen gern und falsch als “Stellvertreterkriege” für den Kalten Krieg vereinnahmte. Als “neu” erscheinen also jene gewaltsamen Konflikte der Gegenwart, die sich der Einordnung in diese vertrauten Muster entziehen.
Gemeinsam ist den “neuen Kriegen” vor allem das Auftreten nichtstaatlicher Konfliktparteien. Ob dieses Kriterium der Nichtstaatlichkeit aber auf nur eine oder auf beide Seiten zutrifft, macht einen Unterschied. Im ersteren Fall zielt der Begriff des “neuen Krieges” auf diejenige Art von bewaffnetem Konflikt, die politikwissenschaftlich sinnvollerweise als “asymmetrischer Krieg” beschrieben wird: Es kämpft also ein Staat oder Bündnis gegen nichtstaatliche Akteure im Inneren oder nach außen. Das vor allem sind die “neuen Kriege” des Berliner Politologen Herfried Münkler. Die meisten Erscheinungsformen des politischen Terrorismus sind hier erfasst. Sind hingegen alle Konfliktparteien nichtstaatlich, so beschreibt der Begriff des “neuen Krieges” häufig dauerhafte, binnenstaatliche Kämpfe, meist in den “failed states” der Dritten Welt.
Beide Konfliktmuster aber sind in der Geschichte alles andere als neu. Asymmetrischer Krieg, Staat gegen Nichtstaat, all dies ist welthistorisch allgegenwärtig, speziell in der Geschichte der europäischen Imperien in Übersee: Der Kolonialkrieg ist geradezu der Archetypus dieser Konstellation. Selbst in der Ära seit dem Westfälischen Frieden 1648, die häufig als Epoche der symmetrischen, verregelten Staatenkriege beschrieben wird, ist der Krieg der ungleichartigen Gegner die vorherrschende Konfliktform auch für die Kernstaaten der westlichen Welt gewesen: ob in den Kolonien oder an den Rändern Europas.
Die Clausewitzsche Trias
Endemische Gewaltsamkeit in Gebieten schwacher bis nicht vorhandener Staatlichkeit ist erst recht nicht neu. Alles deutet vielmehr darauf hin, dass ein permanent hoher Gewaltlevel historischer Standard ist, wo immer ein starker Staat, der Gewaltressourcen rechtlich und faktisch monopolisieren kann, noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. In dieser Hinsicht gilt für viele Länder der Dritten Welt, aber auch für die Zerfallszonen der seit 1989 zerbrochenen multiethnischen Imperien Eurasiens, dass der Wegfall des starken Staates lediglich die Rückkehr zu den meist lange vor der Entstehung der Großreiche des 19. und 20. Jahrhunderts üblich gewesenen gewalttätigen Alltagskonflikten bedeutet hat.
Endlich sind auch terroristische Formen der Konfliktaustragung kein Novum. Vielmehr hat die gezielt eingesetzte symbolische Gewalttat seit Jahrhunderten zum Repertoire gerade asymmetrischer Konfrontationsmuster gehört, von den Assassinen des Mittelalters bis zu den Dekolonisationskriegen nach 1945.
Generell ist es keinesfalls zwingend, jede Form von massenhafter endemischer Gewaltsamkeit, jedes größere Massaker, jede bewaffnete Bandenkriminalität als “Krieg” zu bezeichnen. Nach klassischem westlichem Verständnis ist “Krieg” als gesellschaftliche Großaktivität definiert, in der organisierte Gewalt zur Durchsetzung bestimmter, wenigstens ihrer allgemeinen Natur nach vorgängig bekannter Ziele eingesetzt wird. Dieses Verständnis bindet das Konzept “Krieg” noch nicht zwingend an formale Staatlichkeit, nicht einmal wenn man bei Clausewitz beginnt: In Clausewitz’ Trias Staat – Politik – Krieg kann zweifellos jede identifizierbare Trägergruppe organisierter Gewalt politische Ziele haben und somit aucheinen Krieg führen.
Irgendeine Untergrenze für Größe und Organisationskomplexität dieser Trägergruppe muss es aber doch geben, jenseits derer das Reden von “Krieg” im Sinne der Clausewitzschen Trias sinnlos wird. Bei purer Bandenkriminalität, vornehmlich auf materielle Bereicherung gerichtetem Warlordtum und von angebbaren Kriegszielen weitgehend losgelöster endemischer Gewaltsamkeit scheint diese Grenze jedenfalls unterschritten.
Woher rührt dann der jüngste Trend, von Krieg zu sprechen, sobald irgendwo mit einer gewissen Massenhaftigkeit getötet wird? Die Gründe scheinen in einer Wahrnehmungsverschiebung auf Seiten der Öffentlichkeit und einer Neuausrichtung der nationalen Sicherheitspolitik zu liegen. Der Wegfall des Ost-West-Konfliktes hat die relative Bedeutung von gewaltsamen Konflikten außerhalb des Kernbereichs der westlichen Welt für die staatliche Sicherheitspolitik des Westens (ganz besonders Deutschlands) wie auch für die Weltöffentlichkeit erhöht.
Gewaltkonflikte an der Peripherie werden nun zunehmend als Herausforderungen für den eigenen Staat gesehen. Das Etikett “Krieg” schreibt dann sowohl das Gewicht der Bedrohung als auch die Zuständigkeit der staatlichen Sicherheitspolitik für den Umgang damit fest. Gleichzeitig scheinen diese Konflikte in der Dritten Welt nun seltsam strukturlos und unkontrollierbar, was die Herausforderung der sich neu ausrichtenden Sicherheitspolitik nur noch steigert. Und erst recht verschärft sich die Irritation durch den islamischen Terrorismus, dessen Bedrohung der Westen seit dem 11. September 2001 gar nicht mehr ernst genug nehmen kann.
Methodischer Fehler
Hinzu kommt die abnehmende mentale Toleranz einer zunehmend kriegsentwöhnten westlichen Öffentlichkeit gegenüber Kriegsverlusten. Zwei- bis dreistellige Verlustzahlen erscheinen heute als hohe gesellschaftliche Kosten eines bewaffneten Konfliktes. Das äußert sich nicht zuletzt in einer Inflation der Terminologie – wenn im Kaukasus kompaniestarke Einheiten zusammenstoßen und einige Dutzend Menschen zu Tode kommen, wird das in den Medien durchaus als “Schlacht” beschrieben.
In Sicherheitspolitik wie Medien muss daher der Begriff “Krieg” wohl letztlich als Ernsthaftigkeitstopos verstanden werden, mit dem die Bedeutung eines Konfliktes für das eigene Politikumfeld unterstrichen wird. Das einschlägige Beispiel für eine solche Verwendung liefert zweifellos die Bush-Administration, die darauf beharrt, dass die Vereinigten Staaten sich seit “9-11” gegen den Terror im Krieg befänden.
Dieses bequem-vage Kriegsbild dient innen- wie außenpolitisch vor allem der Aushebelung einer alltagsvernünftigen Zweck-Mittel-Relation. Nach innen ermöglicht es zum vorgeblichen Schutz der Demokratie die Aushöhlung des Rechtsstaates durch die Einschränkung von Grundrechten in einem Umfang, den nur eine Kriegssituation rechtfertigen kann. Nach außen erlaubt der “Krieg gegen den Terror” die Invasion fremder Staaten unter konstruierten Vorwänden, die als Kriegsgrund schon im keineswegs kriegsscheuen 19. Jahrhundert schwer vermittelbar gewesen wären.
Nicht nur Gesellschaftswissenschaftler sollten mit solchen Umetikettierungen vorsichtig sein. Es ist schlicht ein methodischer Fehler, den Gestaltwandel eines gesellschaftlichen Großereignisses wie Krieg anhand von Grenzfällen vermessen zu wollen, wenn die näher liegende Erkenntnis die wäre, dass der Grenzfall eben nicht mehr zum Phänomen gehört und ein Wandel somit auch nicht vorliegt. Das ist keine nur semantische Frage. Die Suche nach “neuen Kriegen”, nach den gemeinsamen Gründen der vermeintlichen globalen Innovation, verstellt den Blick für historische Kontinuitäten bewaffneter Konfliktaustragung gerade in der Dritten Welt – und ist damit einer Analyse der jeweiligen spezifischen Faktoren eher abträglich.
Wenn Gesellschaftswissenschaftler angesichts jedes massenhaften Auftretens von Gewaltsamkeit von Krieg sprechen, propagieren sie ohne Not einen politisch-medialen Modebegriff, der zum Verständnis des konkreten Falls wenig beiträgt, dafür aber unseren Begriff von Krieg ohne guten Grund verwässert und vor allem Scheinlegitimationen für maßlose Antiterroraktionen nährt.
Wenig ermutigend
Außerdem zementiert die Ausweitung des Kriegsbegriffs die Festschreibung der vorrangigen Zuständigkeit der staatlichen Sicherheitspolitik, in letzter Instanz der bewaffneten Macht, für den Umgang mit Gewaltkonflikten gerade in der Dritten Welt. Angesichts der Regelmäßigkeit, mit der die Militärapparate des Westens von Aufgabenstellungen wie Friedenswahrung, Aufbau- und Entwicklungshilfe weitgehend überfordert sind, sollte man sich diese Kompetenzzuweisung im Einzelfall genau überlegen.
Primär sind die Angehörigen der Bundeswehr wie auch der US-Streitkräfte eben doch Spezialisten der bewaffneten Durchsetzung staatlicher Politik. Das mag sich eines Tages ändern, aber bis dahin scheinen für die dauerhafte Lösung gewalttätiger Konflikte in der Dritten Welt wie übrigens auch für die innere Sicherheit des Westens die zivile Politik und die Polizei geeignetere erste Ansprechpartner zu sein. Mit dem inflationären Reden von Krieg trägt man zu einer Militarisierung der Politik bei, die in einem demokratischen Rechtstaat unerwünscht bleiben sollte.
Nach den Londoner Anschlägen bleibt abzuwarten, wie die staatliche Sicherheitspolitik in Großbritannien, aber auch in Deutschland, auf diese vermeintlich neue Herausforderung reagieren wird. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es erneut zu einer dramatisierenden Verschärfung der entsprechenden Rhetorik kommt, die das Bild einer Kriegssituation heraufbeschwört. Wie lange eine offene, demokratische Gesellschaft in einem solchen “Krieg” ihren freiheitlichen Charakter behalten kann, wird sich zeigen; die historischen Präzedenzfälle, angefangen vom amerikanischen Bürgerkrieg 1861-65, sind nicht ermutigend.
Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutsche Zeitung und der DIZ München GmbH.
Published 16 August 2005
Original in German
First published by Süddeutsche Zeitung 13 Jul. 2005
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