Ruinen. Die Geschichte der Zoffjetunion

An excerpt

(1) 10. Dezember 1999

Nur das Rot der Fahnen war nicht verblaßt.
Nur die Partei altert nicht.
Sándor Kányádi: Fahnen (Interlinear)

Wir müssen zur Feststellung gelangen, daß der Klassenkampf im Land während des Aufbaues des Sozialismus und abhängig von verschiedenen Faktoren stärker beziehungswiese schwächer wird.

Dezsö Nemes

Was ist das Allgemeine?
Béla Biszku

Der Bolschewikenputsch ist 80 Jahre alt. Er hat die Hosen voll, wie man sagt.

Sein Kopf zittert.

Ungefähr so, wie wenn irgendwo in Südamerika ein greiser Nazi herausgefischt wird, mitschuldig an der Ermordung Hunderter, er wird im Fernsehen vorgeführt, ein Haufen seniler Dreck vor der Kamera, steht kaum noch auf den Beinen, voller Rotz und Tränen, er ist da, er ist es – aber ist er es wirklich? Der nämliche, oder wer zum Teufel? Er ist es ganz und er ist es gar nicht. Was sollte man mit ihm machen, jetzt wirklich, was wäre richtig und gibt es das überhaupt?

Das gibt es nicht. Die Zeit ist zu sehen. Man sieht die Zeit und ich weiß nicht, was sie bedeutet, ich sehe sie, doch ich verstehe nicht, was um alles in der Welt die Zeit ist. Die Zeit trägt uns über alles hinweg.

Angeblich sind jenem Machtgefüge, das man der Einfachheit wegen oder weswegen auch immer Kommunismus zu nennen pflegt, ernsthaften Studien zufolge 100 Millionen zum Opfer gefallen. Hundert Millionen Menschen, und wir stehen vor der Aufgabe, diese Zahl irgendwie zu bewältigen. Sie wurde zuerst von Dostojewski irgendwo in der Mitte der Dämonen niedergeschrieben: “…schnitte man aber in radikalem Vorgehen hundert Millionen Köpfe ab, so könne man nach einer solchen Erleichterung sicherer über den Graben springen.” Radikales Vorgehen, allerdings.

Über den Graben springen.

“Ein herrlicher Gedanke, zweifellos, aber mit der Wirklichkeit mindestens ebenso unvereinbar, wie” usw. Wie was? Klar, solche Mengen kann man nicht bewältigen. Nicht nur soviel nicht, in Wirklichkeit überhaupt keine Menge, du verkraftest das einfach nicht. Menschen werden mengenmäßig getötet. Es werden Quoten vorgegeben, und diese Quoten werden dann erfüllt. Daß also im Landkreis Y eine Anzahl X von Einwohnern aus politischen Gründen liquidiert werden muß, das ist der Ukas. Menschen werden aus politischen Überlegungen getötet, es entstehen politische Formationen, in welchen Menschen ermordet werden, das ist, nicht wahr, eine übliche Geschichte, das ist, sagen wir, Usus, in Ordnung, bisher hat es irgendwie geklappt. Die Zahlen aber, eine Summe, eine Zierleiste, eine Reihe von langweiligen Nullen, die Zahlen darfst du ruhig vergessen.

Und dann vergißt du sie aber doch nicht. 100 000 000.

“Die Idee, hundert Millionen Köpfe abzuschlagen, ist ebenso schwer, wie die Umgestaltung der Welt durch Propaganda. Vielleicht sogar noch schwerer, besonders wenn es in Rußland geschehen soll”, schrieb Dostojewski. Das hat er sich ausgedacht, solche Sachen, noch anno 1872. “Da man aber selbst unter den günstigsten Umständen eine solche Metzelei in fünfzig Jahren, oder meinetwegen auch nur in dreißig, nicht beenden könnte – denn das sind doch keine Lämmer, die sich protestlos den Hals abschneiden lassen -“, sagt dann der eine Kerl, “(der) lahm war … fünfundvierzigjährig, Lehrer am Gymnasium”. Sagt dieser Lahme.

Sagte Fedor Dostojewski, er hat es sich so ausgedacht. Wo hatte er das aber her? Auf Rußland “(weist) ein geheimnisvoller Index (hin), wie auf das Land, das zur Ausführung der großen Aufgabe am meisten befähigt sei.” Woher wußte er das so genau? “Er schlägt … als endgültige Lösung des Problems die Teilung der Menschheit in zwei ungleiche Teile vor. … ungefähr nur ein Zehntel der Menschheit erhält allein persönliche Freiheit und das unbeschränkte Recht über die übrigen neun Zehntel. Diese neun Zehntel der Menschheit aber sollen ihre Persönlichkeit vollkommen einbüßen und zu einer Art Herde werden”. So ungefähr: Hammel, in einer lahmen, schwefelig riechenden Fabel.

Weil dies alles, die Dämonen mitsamt den hundert Millionen, doch nur ein Roman ist. Ein Roman, schön romantisch, gebunden, oder broschiert herausgegeben. “… uns zusammenzutun und geheime Gruppen zu bilden, einzig zu dem Zweck, die allgemeine Zerstörung vorzubereiten”, Sätze, jedoch kein Geruch nach Blut. Und auch diese hier, meine Sätze, die haben damit, was geschehen war [ist], nichts zu tun und wer sie niederschreibt, hat selbst keine Ahnung, wie Blut riecht. Er weiß nicht wirklich, was es bedeutet, daß Menschen abgeholt und ermordet werden.

Sie werden abgeholt und ermordet, ein Mensch, zwei Menschen, einige Dutzend Menschen, riesige Menschenmengen, wo ist da die Grenze und was ist die Wahrheit.

Es ist vollkommen einerlei, ob es wahr ist, denn in welchem Sinne ist es zum Beispiel wahr oder nicht, daß die Russen noch 1956 waggonweise Kinder von hier abtransportiert haben, daß sie Waisenhäuser und Besserungsanstalten geleert haben. Tatsache oder nicht, bewiesen oder nicht, es ist einerlei.

Nicht, als könnte man dann nur noch schweigen. Am besten wäre es freilich so, schweigend, am sichersten ist das Schweigen, sprichst du nicht, so lügst du wenigstens nicht, oder du flunkerst nicht so eloquent herum. Wie ein Wasserfall. Wir reden aber doch, oder?

Jeder sagt das Seine, nicht wahr, und da ist eine einzige Sache, und zwar das, du darfst nämlich das alles nicht allzusehr glauben, auch dir selber nicht, du darfst es nur ein wenig glauben, und dann wird vielleicht doch etwas daraus. Glaub ja nicht, daß du hergehen und das, was los ist, in deiner Sprache schön niederschreiben kannst. Die Wahrheit.

Ich habe im Fernsehen unlängst einen alten Ungarn gesehen, der sechsundvierzig oder sechsundfünfzig Jahre seines Lebens in sowjetischen Konzentrationslagern verbracht hat.
Er hat versucht, etwas zu erklären, dieser Mann.

Ich weiß nicht mehr, ob es 45 oder wie viele Jahre waren, zehn Jahre hin oder her, Kleinigkeit. Ich war offensichtlich nicht aufmerksam genug. Er grummelte und brummelte, seine Augen gingen hin und her, ich glaube, nicht aus Furcht, eher aus Gewöhnung. Und er hat versucht, dieses Dings zu erklären. Er hat einen Reisepaß mit kyrillischen Buchstaben, Bumaschka, den hält er fest, manchmal hält er ihn dir vors Gesicht.

Kann der überhaupt noch ungarisch?

Was zum Teufel könnte er denn sagen, was weißt du, Alter, was niemand anderer nicht auch wüßte. Du zählst deine Jahre auf, die Orte, wohin sie dich gebracht haben, dein ganzes unglaubliches Leben, du murmelst, daß man krepieren muß und glotzt mich mit erschrockenen Augen an? Die Leute, mit denen du zusammen warst und du weißt nicht, wo die hin sind? Wo sollen sie hin sein, was glaubst du, gestorben sind sie, so geh doch scheißen, tot und verscharrt.

Schweige lieber. Schlaf lieber, schlaf, Alterchen.

Über den Graben springen.

(2) 7. Januar 2000

Der Sonnenaufgang und Sonnenuntergang waren traurig gleichermaßen, rundum war nichts Lebendiges zu sehen, wo Verderben auf schweren, bleiernen Füßen umherging; und was zuvor Licht gewesen, davon blieb nichts Bewundernswertes übrig: – da wollte Ruin sein Lager aufschlagen.
Mihály Vörösmarty: A Rom (Interlinear)

1956 war ich fünf Jahre alt. Und noch ein bißchen. Ich besitze sehr wohl einige Erinnerungen an diese Zeit. Ich sah etliches, bekam manches erzählt, träumte und erfand einiges: ich erinnere mich. 56 ist für mich eine Art Geruch oder eher ein Geschmack, ein Gefühl um die Schleimhäute und in der Magengegend. Auch Stimmen und Geräusche, die Stimme meiner Mutter, wie sie aus einem Märchenbuch vorliest, das Krachen von Schüssen, eine eigenartig heulende, mal leiser, mal lauter werdende Radiosendung. An sich ziemlich genau. Unbeschreiblich genau. Ein Panzer, von oben, aus dem Fenster im 3. Stock gesehen, wie Soldaten Brot aus der gegenüberliegenden Bäckerei hineinwerfen. Die Erinnerung an eine Demonstration, wir schauten vor dem Hotel Béke zu, mein Vater und ich. Eingestürzte Häuser.

Eingestürzte Mauern, Wohnungen, zum Körút hin aufgerissen. Der Luftschutzkeller, mein Spielzeug-Medizinkoffer. Es roch nach Keller, das war gut. Die schwere Krankheit meiner kleinen Schwester, offensichtlich einige Wochen früher, und doch zu jener Zeit. Und, daß wir trotzdem nicht weggehen. Daß wir bleiben. Das war mir damals freilich überhaupt nicht bewußt: und doch, irgend etwas war da. Das ist schon mal ganz gut. Ich tue nichts, schaue durchs Fenster, das nicht ich öffne und nicht ich schließe, ich schleppe irgend ein Spielzeug in den Keller hinunter. Ich werde in das Kabinett umgesiedelt, wegen der Tanks, die von der Élmunkás-Brücke Richtung Körút feuern, dort ist es weniger gefährlich für mich. Das ist Tatsache, und das ist gut so. Ich habe nichts gemacht, habe keine Geschichte, und doch ist 1956 irgendwie ungeheuerlich stark in mir drinnen. Machst du auch nur irgend etwas, so beginnt es sofort seine eigene Geschichte zu schreiben. Und die ’56 gemacht haben, daran teilgenommen oder sich davor gedrückt haben, die das Sich-Drücken gemacht haben, die haben sehr wohl eine Geschichte.

Und die Geschichte ist gut, alle Geschichten sind gut, vielleicht sogar auch die unwahren Geschichten. ’56 gehört jenen, die daran teilgenommen haben. Welchen Teil sie auch immer genommen haben. Denen, die das nicht taten, gehört ’56 leider nicht, das kann nicht nachträglich vollzogen, aufgewärmt werden, mag ein Wissen darum noch so genau und objektiv sein, ein Gedenken daran noch so vortrefflich gelungen sein, das alles ist irgendwie kalt, wie es auch immer warmgehaucht werden mag.

Bewußt wurde mir das, als ich einen Artikel eines Historikers über das 56-er Buch eines alten Mannes gelesen hatte: das einigermaßen angewiderte Schreiben eines Fachmannes über die Geschichte eines, sagen wir, 56-er Teilnehmers. Der Alte kann, so der Historiker, nicht formulieren, er schreibt Namen falsch, bringt Zeitpunkte durcheinander, klaut aus Büchern, die er attackiert, verdreht Tatsachen, wird ausfällig, geifert, zieht außerdem über die Juden her, ist im großen und ganzen ein Pfeilkreuzler, und all das wird von einer anderen Zeitung gepriesen. Das glaube ich sofort. Jede Geschichte ist politisch gesehen verwertbar, das ist ein ziemlich alter Hut, ich glaube es sofort, daß es widerlich ist: das sage ich aber nur so, ich habe weder das Buch noch das Presseecho gelesen, und es fiele mir nicht im Traum ein, das zu lesen. Sicherlich wäre auch ich angeekelt, ich habe allerdings keine Lust, mich vorsätzlich zu ekeln, das ist nicht gerade mein Bestreben. Und doch denke ich, wenn ich mich von den Aktualitäten ein wenig zurückziehe, sofern mir das gestattet ist, daß ich nicht dermaßen leicht urteilen würde. Irgendwie wollte ich, den eigenen Widerwillen einmal überwindend, diese haßsprühenden Alten mit ihren frierenden Seelen nicht beurteilen. Da spricht – mit welchem “Geschichtsprofessoren”-Talar auch angetan und in welchem widerwärtigen aktualpolitischen Raum auch versetzt – ein unglücklicher, nun, sagen wir, ein “nicht normaler” Mensch, offenkundig sich kaum artikulierend, zu anderen Unglücklichen. Zu gleichermaßen nicht allzu Normalen.

Mich selbst inbegriffen, nur höre ich halt nicht hin, weil alles kann man sich nicht aus lauter Mitgefühl anhören. Wem schadet¹s auch. Warum sollte es besser sein, daß er nicht redet. Weil es nicht so gewesen ist, wie er es beschreibt? Sicher nicht.

Zunächst einmal, diese Leute haben einfach zu viel abbekommen.

Sie haben zu viele Maulschellen abgekriegt. Und dann, wer an irgend etwas mit anderen gemeinsam teilnimmt, der nimmt klarerweise seinen eigenen Anteil heraus, und er sieht den Anteil anderer von dort, von jenem Ort aus, und diese Geschichte ist klarerweise nicht “die Wahrheit”, sie entspricht nicht der Wahrheit, sie bezieht sich nicht auf die Wahrheit. Sondern nur auf den, dem die Geschichte gehört. Meine Geschichte von mir erzählt. Sie ist wie ich, oder besser: sie ist, was ich bin.

Meine Mutter erzählte mir, wie es in der Silvesternacht 1956 auf den Straßen von Pest war. Sie waren unterwegs nach Hause, und wie es war, als die Menschen in Gruppen stumm den kaum beleuchteten Körút entlangzogen und ihre Papiertröten bliesen. Eine Gruppe von Menschen. Es ist sehr kalt. Es ist im großen und ganzen immer Silvester. Oder was. Es ist nach Silvester, aber nur knapp. Das ist es, was bleibt. Sie marschieren in der eisigen Kälte dahin, blasen ihre Tröten, keiner spricht, keiner lacht.

Published 25 October 2006
Original in Hungarian
Translated by György Buda

Contributed by Magyar Lettre Internationale © Endre Kukorelly/György Buda Eurozine

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