The remaining thousandth
Ord&Bild 5/2022
On the documentary poetry of Jonas Mekas; multi-voiced personalism as literary genre; and the history of the Fens as ecological morality tale.
‘Vietnam’ musste erst geschaffen werden – nicht nur als Staat, sondern auch als Bild und Begriff. Zunächst nämlich sollte der Indochinakrieg (1946–1954) von seinen europäischen Zeitgenossen möglichst ferngehalten werden: Nur unter Aufsicht des Service cinématographique des Armées durften Aufnahmen dessen entstehen, was damals in Frankreichs ostasiatischen Kolonien geschah. Auch wenn dieser Krieg bis heute in Wort und Bild, in zahllosen Dokumenten und Fiktionen immer wieder durchgearbeitet wird: Unabhängige Kriegsreporter waren auf seinen Schlachtfeldern nicht zugelassen, und kriegskritische Berichte, Bilder oder Filme konnten allenfalls in den klandestinen Reihen von Frankreichs Kommunistischer Partei zirkulieren.1
Dagegen ist mit dem Begriff ‘Vietnam’ eine bis dahin beispiellose Immersion verknüpft, ein vor allem kinematografisch vermitteltes Eintauchen westlicher Öffentlichkeiten in das Kriegsgeschehen. Nicht zuletzt das US Militär startete eine filmische und televisuelle Groß-Offensive, die auf dem Schauplatz nordamerikanischer wie europäischer Medienlandschaften unübersehbare Spuren hinterließ. Bereits in früheren Kriegen wie dem spanisch-amerikanischen von 1898 hatte sich für die Vereinigten Staaten die Allianzvon militärischer und visueller Intervention, von wartime propaganda und embedded reporting, bewährt.2 Daher wurde den US-Amerikanern auch und gerade im geopolitisch prekären Fall Vietnams eine televisuelle Grundversorgung frei Haus geliefert, auf dass sie sich imaginär an die ferne Front,empathisch in die Lage ‘ihrer’ GIs und ideologisch auf den strategischen Standpunkt des Pentagons versetzen konnten. Ästhetisch munitioniert wurde diese Bilderschlacht um die öffentliche Meinung und Anteilnahme durch heute längst konventionalisierte Topoi des ‘traumatischen’ Kriegs: Der Dschungel als ein Ort unergründlichen Grauens und der Vietcong alsein allgegenwärtiger, wiewohl unsichtbarer Feind, der selbst alles sieht und jederzeit aus seinem Hinterhalt hervorzubrechen droht.
Das Hollywood-Kino blieb zunächst ein stiller Komplize dieser Bilderschlacht. In den frühen 1960er-Jahren wurden vorerst keine Kriegsfilme mehr produziert, bis 1967 die Dreharbeiten zu John Waynes The Green Berets anliefen – ein propagandistisches Machwerk, das vom Pentagon trotz aller Dementis mit Steuergeldern gesponsort und in der Endfassung wesentlich mitgestaltet wurde.3 Dabei hatte das State Department bereits 1965 den Streifen Why Vietnam? in Auftrag gegeben: Eingerahmt von einer Rede Präsident Johnsons, in der er ‘einer Frau aus dem Mittleren Westen’ erklärt, dass ihr Sohn nicht ohne Grund in Vietnam sei, er dort vielmehr mit Ho Chi Minh einen Aggressor vom Schlage Hitlers und Mussolinis bekämpfe, schärfte man hier der amerikanischen Öffentlichkeit in Wort und Bild die Heimtücke eines von China ferngesteuerten Nordvietnams ein. Mit etwa tausend Kopien wurde das Feature in den USA in Umlauf gebracht und den GIs zur ideologischen Einstimmung auf ihren Einsatz vorgeführt. Unter dem Titel Know your Enemy – The Vietcong entstand ein Jahr später zudem ein Film, der von der vietnamesischen Befreiungsfront erbeutetes Bildmaterial vom Guerillakrieg und vom Alltag der nordvietnamesischen Bevölkerung ‘kontextualisieren’ sollte. Was die Zuschauer zu sehen bekämen, warnte ein ins Bild gerückter Kommentator, sei allein “the Viet Cong as the Viet Cong would like to see themselves”. Propaganda umfasste also, neben der Bilderproduktion, nicht zuletzt die Kritik der zirkulierten Bilder. Indem sie visuelle Dokumente im Namen einer ‘fairen’ und ‘sachlichen’, weil auf Evidenz gestützten und zugleich bildkritisch korrigierten Information aufbereiteten, wirkten derlei Filme im schlechten Sinne beschwichtigend. Anders als bloße Radiomeldungen oder Zeitungsnachrichten produzierten sie nämlich einen Realitätseffekt, der für Zweifel oder Bedenken keinerlei Raum ließ. Ohne derlei kalkuliert verbreitete und entsprechend kommentierte Bilder hätte es in den USA, wie der FilmregisseurEmile de Antonio später vermutete, wohl schon nach John F. Kennedys Ermordung, erst recht aber nach der Eskalation des Kriegs in Fernost einen Aufstand gegeben.4 Seitdem ‘Vietnam’ zum leitenden und zugleich umkämpften Bild und Begriff geworden war, gestaltete sich das Kriegstheater mithin auch als eine Schlacht televisueller und kinematografischer Aufblendungen, die ihre angemessene Interpretation gleich mitlieferten. Und diese Schlacht schien der Akteur für sich zu entscheiden, der über die mächtigste Industrie der Bilderproduktion und über die wirkungsvollsten Institutionen der Bilderdeutung verfügte. Auf dieser Einschätzung dürfte wohl auch das Pathos beruhen, mit dem etliche politische Filmemacher zumal in Frankreich das europäische Kino zu einer moralischen Instanz erklärten. War nämlich der Vietnamkrieg zum kontroversen Gegenstand globaler Beobachtung geworden, galt es, das – im Indochina- oder auch Algerienkrieg – versäumte ‘Engagement’ nachzuholen.
Ausgehend von Che Guevaras Motto “Schafft ein, zwei, viele Vietnams” begriff das cinéma d’intervention diesen Krieg als einen Bildkomplex, dem man allein mit einer neuen Pädagogik, Politik und Ethik des Kinos beikommen könne. Auf den Spuren von Bertolt Brechts älterer Pädagogik des Films beanspruchte dieses Kino erstens, die “eigentliche Realität” sichtbar zu machen, selbst wenn sie – gestaltet von einem militärisch-industriellen und massenmedialen Komplex – längst “in die Funktionale gerutscht” sein sollte. Es forderte zweitens, jede mise en scène im Brecht’schen Sinne’gestisch’, also durch Störung ihres illusionistischen Arrangements, und zudem die Bedeutung von Bilddokumenten mittels Montage und Kommentarzu reflektieren. Und drittens nahm es sich vor, neue Publika zu erobern und zugleich wirklich kollektive Produktionsweisen zu erproben.5 ‘Militant’ war dieses Kino bereits in seiner ‘strategischen’, längerfristigen Ausrichtung, der zufolge man das produzierte Filmmaterial auch als künftige Quelle der Kriegsgeschichtsschreibung begriff. Bei der Besetzungdes visuellen ‘Schlachtfeldes’ musste man freilich, im Stile einer Guerillataktik, vor der Offensichtlichen Übermacht US-amerikanischer Bilderproduktionauf die Ränder und das Außen des Bildraums, auf den hors-champoder das Off ausweichen, um gleichsam aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Nicht die Durchschlagskraft und Wirkung von Kriegsbildern selbst, sondern die Auseinandersetzung um den Status, die Rahmung und Relationierung der Bilder sollte für dieses Kino zentral werden. Das Politische suchte es also letztlich nicht mehr auf dem Bildfeld als einem virtuellen Schlachtfeld ästhetischer Gegenmobilisierung. Vielmehr wandte es sich dem hors-champ, dem ‘Jenseits’ oder ‘Umfeld’ kinematografischer Bildregime, zu, um es nicht mehr nur als Ort ideologischer Kundgabe oder aktionistischer Bildkommentierung, sondern als Ansatzpunkt spezifisch politischer ‘Bildakte’ zu nutzen.
Während man in den Hollywood-Studios John Waynes Green Berets produzierte, laborierte ein ganzes Kollektiv französischer Filmschaffender an solch einem neuen Kino. Für dieses Projekt spielte sicherlich auch das ‘schlechte Gewissen’ etlicher beteiligter Filmautoren eine Rolle, die – wie etwa Jean-Luc Godard – während des Algerienkriegs stillgehalten und sich mit den Kolonisierten wenig solidarisch gezeigt hatten. Doch nicht minder entscheidend waren das Misstrauen gegenüber einer französischen Presse, die bereits den Indochinakrieg weitgehend unter dem Schirm der öffentlichen Wahrnehmung gehalten hatte, und der Einspruch gegen die filmische US-Propaganda. Dieses mehrfache, sowohl moralische und politische als auch ästhetische Unbehagen verdichtete sich für das Kollektiv zuletzt in der Schwierigkeit, lebensweltlich dem ‘realen’ Vietnam Offenbar allzu fernzustehen. Der Filmtitel Loin du Viêt-Nam (“Fern von Vietnam”) bezeichnete mithin auch die Unsicherheit darüber, ob die umkämpften Bilder überhaupt etwas von Vietnam sichtbar machen konnten – oder es nicht vielmehr selbst in eine gewisse Ferne rückten.6
Die empfundene Distanz zumindest moralisch überbrücken zu können, stellt bereits die erste (Claude Lelouch zugeschriebene) Episode aus Loindu Viêt-Nam (1967) in Aussicht: Gezeigt wird die asymmetrische Konstellation im Kriegsgeschehen durch eine Montage, die die routinierten und effizienten Abläufe auf dem Deck eines Flugzeugträgers der siebten US-amerikanischen Flotte vor Vietnams Küste mit den verstohlenen Bewegungen einiger Vietcong kontrastiert, welche sich in primitiver Tarnmontur durch ein Reisfeld vorarbeiten. Trotz dieses unverkennbaren Machtgefälles versichertder Off-Kommentar Maurice Garrels, die Vietnamesen stünden in diesem Krieg der Reichen gegen die Armen nicht allein. Vielmehr trage gerade ihre vermeintliche Unterlegenheit dazu bei, den weltweit verstreuten Widerstand in einer internationalen Solidaritätsbewegung zu sammeln, getragen von einer aus der Not rekrutierten, doch schlussendlich überlegenen Moral. Zwar läuft diese erste Episode in unscharfen, nur mehr stummen und schwarz-weißen Bildsequenzen aus, die von den Zerstörungen und Opferneines US-amerikanischen Luftangriffs zeugen. Doch ist es, in einer eher simplen dialektischen Volte, gerade diese Zerstörung des realen Vietnams, die zur Parusie des moralisch-politischen Kollektivideals ‘Vietnam’ führt. Und dieses Ideal lässt der Film im Folgenden durch die gesamte westliche Welt geistern.
Doch begnügt er sich nicht mit der Verkündung dieser schlechtweg repräsentativen Moral. Schon durch seine Entstehungsweise führt er vor, wiedas (politisch oder ideologisch) Zerrissene zu vereinigen und für kollektives Handeln zu ‘begeistern’ sei. Loin du Viêt-Nam wurde, wie es im Vorspann heißt, von einem Kollektiv produziert, “pour affirmer, par l’exercisede leur métier, leur solidarité avec le peuple vietnamien en lutte contre l’agression”. Als ‘Omnibus-Projekt’, das zwischen seinen fast zweihundert Künstlern, Technikern und sonstigen Beteiligten keine Rangunterschiede machen sollte, brach dieser filmische Agitationsessay mit den Prämissen jenes Autorenkinos, das noch die Nouvelle Vague vertreten hatte. Er verarbeitete Bildmaterial aus Paris und Vietnam, aus den USA und Kuba. Bereits 1967 wurde er in Montreal und New York sowie in Besançon gezeigt, dem Ort eines großen Fabrikarbeiterstreiks. Und tatsächlich ergaben sich hier intensive Diskussionen zwischen den Filmemachern und den Arbeitern, woraufhin man – nach dem Vorbild von Alexander Medwedkins ‘Filmzug’, einem sowjetischen Projekt zur dezentralen Arbeiterbildung durch das Kino – die Société pour le Lancement des OEuvres Nouvelles institutionalisierte: Ursprünglich in Belgien angemeldet, um die französische Zensur zu umgehen, wurde die SLON 1974 als ISKRA (für Images, Son, Kinescope, Réalisation Audiovisuelle) neu gegründet, um ‘militante’ Gruppen in der kinematografischen Agitation gegen die televisuelle Desinformation dauerhaft zu schulen.7
Dass die Aktivisten dieses westlichen ‘Guerillakinos’, für das Loin du Viêt-Nam exemplarisch steht, ihr Tun nicht nur im übertragenen Sinne, sondern tatsächlich als Form des Guerillakampfs verstanden wissen wollten, ergab sich auch aus einer ästhetischen Verwandtschaft zur Aufführungspraxis der Vietcong: Deren Kino bestand – und sei es nur der technischen Bedingungen oder der fehlenden Anbindung an die westliche Bildtraditionwegen – aus Stummfilmen, die von einem frei fabulierenden Kinoerzähler ‘episch’ kommentiert wurden.8 In Anlehnung an Brechts dramaturgischen und radioästhetischen Begriff des ‘Kunst-Akts’ kann man hier auch von einem ‘Bild-Akt’ sprechen, das heißt von einer kinematografisch geschaffenen Gelegenheit zur Versammlung und ‘Bildung’ des Volks im vollen Doppelsinn des Worts. Von dieser Filmpraxis inspiriert zeigte sich auch das US-amerikanische ‘Guerillakino’, etwa Emile de Antonios In the Year of the Pig (1969) oder Nick Macdonalds The Liberal War(1972) – beides Filmessays, die hinsichtlich ihrer Skepsis gegenüber den Homogenisierungs- und Realitätseffekten der vorherrschenden Kriegsberichterstattung deutliche Nähen zur französischen Bildästhetik aufweisen.
In seiner zweiten und dritten Episode zeigt Loin du Viêt-Nam polizeiliche Repressionsmaßnahmen gegen US-kritische Demonstranten in Paris, patriotische Paraden in New York oder Wall-Street-Banker, die den Schlachtruf “Bomb Hanoi!” skandieren. Die vierte, von Alain Resnais gedrehte Episode Herman Kahn: De l’escalade. Métaphores et scénarios, zu der Jacques Sternberg und Chris Marker das Drehbuch verfasst haben, fällt jedoch ausdem bislang gesetzten Rahmen, schon weil sie fiktional und als Monologeines Pariser Intellektuellen angelegt ist. Was sie inszeniert, ist exakt jener’Gewissenskonflikt’, der dem Gesamtprojekt zugrunde liegt: Ein Schriftstellernamens Claude Ridder soll, wie es zu Beginn heißt, das 1965 erschienene Buch On Escalation von Herman Kahn rezensieren. Darin deduziert dieser schon während des Kalten Kriegs prominenteste Strategieberaterim Pentagon rein spieltheoretisch – aus dem Fehlen einer US-Rückzugsstrategie– die Notwendigkeit eines intensivierten Bombardements von Vietnam. Bei Kahns Denkschrift handelt es sich also um eine durchaus ‘aufrichtige’ Manifestation US-amerikanischer Strategien, der gegenüber die Figur Ridder “contradictoire, pathétique et, à sa façon, honnête” wirkt. Was sich hier in Ridders Selbstgespräch vor einer stummen Zuhörerin artikuliert, wird im Off-Kommentar als “la voix de la mauvaise conscience, c’est-à-dire de la mauvaise foi” beschrieben.
Der Krieg in Vietnam sei, wie Ridder sagt, der erste Krieg in der Geschichte, den jeder live verfolgen könne. Noch nie sei man so nah an ein Kriegsgeschehen gerückt, weshalb sich auch niemand mehr darauf berufen könne, nichts gewusst zu haben. Doch sei man Teil einer exklusiven Inszenierung, stehe doch das ‘Schicksal’ der Vietnamesen ungleich höher im Kurs als das Elend der Jemeniten, Kurden oder Sudanesen. Und diese Segregation der Toten werfe einen doppelten Mehrwert ab: Aufgrund ihres ideellen Engagements gegen diesen Krieg könnten sich 40 Millionen Franzosen, die im Algerienkrieg noch geschwiegen hatten, nun als aufrechte Antikolonialisten fühlen, während sie gleichzeitig Investments von zwei Milliarden US-Dollar in ihr Land lockten. Krieg und Protest ergänzten sich zu einem regelrechten Konzert, das das zeitgenössische Management virtuosdirigiere – im Sinne eines gemeinsamen und partnerschaftlichen Strebens nach Wohlstand. Er jedoch, sinniert Ridder, er verstehe ‘Vietnam’ nichtmehr: Weder sei es ein wirkliches Land noch ein bloßes Symbol, sondern allenfalls eine Erfahrung sinnloser Unausweichlichkeit. Letztlich beweise esnur die “complicité monstrueuse” von Leuten, die sich auf der einen wie auf der anderen Seite Erfolge vom Kriegsgeschehen erwarten. Er verstehe nicht die Texte, die er rezensieren solle, sondern höre aus allem nur einen Schrei. Man könne – das versinnbildlicht schon der beengte Schauplatz der Episode – mit ‘Vietnam’ auf nichts Reales mehr referieren, oder anders gesagt: Jenes Land, über das allein sich schreiben ließe, jenes Land hinter der Chiffre ‘Vietnam’, existiere nicht. Er könne deshalb nur sagen, dass er Angst habe und dass wir alle sterben würden. Begreifen aber könne er nichts, und deshalb auch nichts schreiben.
Ridder war ursprünglich als eine Figur geplant, die im Verlauf des Films wiederholt auftreten und ihn dabei durchgehend kritisieren oder kommentieren sollte. Ihr Auftritt wurde jedoch zuletzt von Chris Marker, der für den Schnitt verantwortlich zeichnete, auf die vierte Episode beschränkt, die dann von der Filmkritik prompt als “séance de masturbation” bezeichnet wurde.9 Freilich sollte man sie wohl besser als das ideologische Zentrum von Loin du Viêt-Nam verstehen, werden hier doch die simplen moralischen Ausgangsprämissen des Projekts entscheidend gebrochen. Stand nämlich das Zauberwort ‘Vietnam’ zu Beginn des Films und, wie es etwa Jean-Paul Sartre geschildert hat, auch zu Beginn der öffentlichen Proteste noch für einen kollektiven Möglichkeitssinn, an den auch die Studentenbewegung mit der Parole ‘L’imagination au pouvoir’ appellierte, depotenzierte die Diskussion um den unterlassenen Widerstand im Algerienkrieg den Glauben an die Macht imaginärer Solidarität.10 Ganz wie es der Off-Kommentar der Episode nahelegt, mündete das ‘schlechte Gewissen’, die mauvaise conscience, unversehens in die ‘Unaufrichtigkeit’, die mauvaise foi. Im existentialistischen Duktus Sartres gesprochen handelt es sich bei diesem ‘schlechten Glauben’ um einen Glauben an Begriffe (wie hier den Begriff ‘Vietnam’), “die man ausdrücklich ersinnt, um sich zu überzeugen”.11 Doch ist ein Glaube, der um seinen Status als bloßer Glaube weiß, schon kein Glaube mehr. Er kommt vielmehr dem Willen gleich, nicht wirklich überzeugt zu sein, die Natur des Glaubens also im Zweifel, das eigene Sein in seiner Negation zu begründen. Sartre spricht von einer Flucht des Seins ins “Nicht-das-glauben-was-man-glaubt”: Ohne dass man sich zur zynischen Lüge entschließt oder trügerischen Begriffen aufsitzen möchte, will man doch die Selbstzerstörung des Glaubens, damit “das Wissen zur Evidenz hin entweicht” (man sich also wenigstens einer bestimmten Form der ‘Wirklichkeit’ versichert) und man vor dem zu fliehen suchen kann, dem nicht zu entfliehen ist: das, was man aus eigener Wahl ist.12 Die mauvaise foi kommt, wie es die Ridder-Episode demonstriert, einer Flucht vor dem Wissen gleich, der jedoch das Wissen um die eigene Flüchtigkeit unvermeidlichist. Der derart Fliehende ‘nichtet’ jene Angst und zugleichjene Freiheit, die ihn selbst ausmacht, auf dass die Unaufrichtigkeit, der Glaube an die eigene Unfreiheit, jene Leere und jenes Nichts auffülle, das der Fliehende sich selbst gegenüber geworden ist.
Will man die Ridder-Episode nicht nur als eine Art philosophisches Sprechstück oder als existenzialistische Auseinandersetzung mit dem Problem individueller Freiheit und Flüchtigkeit ansehen, sondern sie als eine bewusst inszenierte Depotenzierung des kinematografischen Bilds selbst verstehen, kann man sie auch als den schlagenden oder vielmehr lähmenden Ausdruck dessen begreifen, was Gilles Deleuze als “das Unerträgliche” bezeichnet hat: “nicht mehr eine höhere Ungerechtigkeit, sondern der permanente Zustand der alltäglichen Banalität”.13 Was sich dem Unerträglichen allein noch entgegensetzen lässt, ist nicht mehr der Glaube an eine andere, bessere oder wahre Welt, der dann der private Einzelne im Zuge seiner aufrichtigen Wahl entsprechen könnte. Vielmehr ist es die Freiheit, jederzeit den ‘absurden’ – weder durch ideologische Evidenzen noch durch strategische Probabilitäten gestützten – Glauben an ein unverbrüchliches Band zwischen Mensch und Welt, zwischen dem Jedermann und der globalen Lage wählen zu können. Notwendig ist es daher für das Kino geworden, dass es fortan “nicht die Welt filmt, sondern den Glauben an die Welt, unsereinziges Band”.14 Und von daher rührt, wie Deleuze sagt, eine gewisse Katholizität des Nachkriegskinos, das seit dem Neorealismus und der Nouvelle Vague darauf abzielt, jenes in einer immer ‘unmenschlicher’ gewordenen Welt zerrissene Band zu restituieren – eine Katholizität, von der in Loin du Viêt-Nam gerade die Beteiligung des Katholiken Chris Marker zeugt. Markers spezifische Arbeit an Schnitt und Kommentar, die er für das Gesamtprojekt übernahm, wird in einigen Passagen des Films besonders deutlich. Die fünfte Episode mit dem Titel Flashback etwa rekonstruiert, versehen mit einem Off-Kommentar Agnès Vardas und schlaglichtartig assoziiertem footage, die interventionistische Strategie der USA. Der historische Parcours, der im Verlauf der Episode durchmessen wird, führt vom Ende des Indochinakriegs (mit dem die USA Frankreich in einen faulen Friedengeführt hätten) über die Genfer Verhandlungen (bei denen die Vietnamesenum ihre freie Wahl und Vereinigung betrogen worden seien) bis hin zur militärisch und finanziell flankierten Installierung Ngo Di’nh Diems als Marionettenpräsident eines angeblich demokratischen Südvietnams. An diesem Punkt der Darstellung werden geloopte jump-cuts, das heißt verfremdend wiederholte Sequenzen ein und derselben Szene, eingespielt, in der ein gefesselter vietnamesischer Zivilist von einem Militär zu Boden geschlagen wird. Suggerierte der Kommentar bis dahin noch eine gewisse narrative Kontinuität der Darstellung, so wird diese von der neuen Bilderfolge sichtlich irritiert, und die mechanisch wiederholte Einstellung wandelt sich zu einer Art Denkbild. Was die Off-Stimme erst später verbalisieren wird, nehmen die Bilder hier bereits in suggestiver Weise vorweg, so als würden sie sagen: Wir, die Bilder, die Sie sehen, zeugen nicht für einen Bürgerkrieg zwischen links und rechts, sondern für eine Form polizeilicher Intervention, die das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volks missachtet. Die Bilder zeigen keine bestimmte Form der Kriegsführung, sondern, wie es heißt, systematische Folter, mit der der Wille eines ganzen Volkes gebrochen werden soll. Und tatsächlich hatte 1965, als Kahns On Escalation erschien, diese Folter bereits die Ausmaße von Flächenbombardements angenommen. Die Episode Flashback liefert also nicht nur eine historisch resümierende Rückblende, sondern setzt ‘traumatische’ Repetitionsstrukturen gegen jenes Konzept ‘verantwortungsbewusster’ Erinnerungspolitik, das die US-Intervention propagandistisch in eine Kontinuitätslinie mit der Befreiung vom Faschismus zu stellen suchte. Wenn die Episode überhaupt eine Form des Gedächtnisses propagiert, dann ein ‘genealogisches’, das die ‘historische Wahrheit’ aus scheinbar nebensächlichen, tatsächlich aber entscheidenden Ereignissen der Konfrontation und Übermächtigung hervorgehenlässt. Dazu zählt etwa die Missachtung des 1954 am Ende der Indochinakonferenz verlesenen Genfer Abkommens durch die von den USA protegierte südvietnamesische Regierung unter Ngo Di’nh Diem, die sich den für Juli 1956 vereinbarten Wahlen in ganz Vietnam widersetzte.15 Wenn aber nicht einmal schriftlichen Abmachungen zu trauen ist, wie glaubwürdig können dann Bilddokumente sein?
Flashback nährt bewusst den Zweifel an der Verlässlichkeit der Bilder: Von Offizieller Seite lancierte Filmaufnahmen dokumentieren weniger das Gezeigte als vielmehr den Versuch, der Nachwelt unbezweifelbare Dokumente zu hinterlassen. Das hier dagegengesetzte weniger bekannte Filmmaterial soll freilich keineswegs dazu dienen, dieses Wirklichkeitsbild zu korrigieren und ihm ‘wahre’ Dokumente entgegenzusetzen; eher soll es das Vertrauen in den Dokumentarismus generell irritieren. Und dessen konventionelle Bildsprache wird hier deshalb zuletzt ikonografisch verfremdet, etwa wenn US-Truppen im Stil von Comicfiguren oder Vietcong-Kämpfer nach Art von Tuschezeichnungen ins Bild gesetzt werden. Dieses spannungsgeladene und teilweise gegenläufige Zusammenspiel von Wort und Bild, von Off-Kommentar und Sichtbarem, kommt in Flashback erst ganz zuletzt zur Ruhe: als Vardas Stimme den Befreiungskrieg als einzigen Weg zum Frieden preist und, wie in einem Rekurs auf die allererste Episode, der Blickauf einfache, kollektiv und diszipliniert arbeitende Vietnamesen mit dem Begriff der Gerechtigkeit verknüpft wird.
Gibt es bei Marker eine gewisse Katholizität des Kinos, dann wird diese Offenbar von der ostentatorischen oder bildverwandelnden Kraft des Verbalen getragen. Katholisch im Sinne von ‘umgreifend’, ‘das Ganze umfassend’, scheint das Wort letztlich so wirkmächtig zu sein, dass es sogar den Ausfall visueller Einstellungen zu kompensieren vermag. Die siebte Episode Victor Charlie etwa präsentiert das Bildmaterial der Journalistin Michèle Ray, die drei Wochen lang zunächst unter den Vietcong und anschließend unter den US-Truppen gelebt und gefilmt hat. Nachdem sie auf der einen Seite die grenzenlose Angst der Vietcong, auf der anderen dann deren Folterung miterlebt hat, muss sie gar nicht erst ‘das Unaussprechliche’ zu sagen versuchen. Die Technik eilt ihr hier zu Hilfe. Zufällig nämlich dreht die Kamera, so als sei sie Rays Avatar, wortwörtlich durch und liefert nur nochgestörte Bilder, Emulsions- und Farbfehler, gestauchte Bewegungen und Auflösungen im Bildfeld, ehe sie den Film ganz zerhackt und zerreißt. “Was daraus entstanden ist”, sagt zuletzt eine Männerstimme aus dem Off, “gleicht vielleicht mehr als alles andere dem Schrei, den sie hätte ausstoßen wollen.” Doch ist es womöglich erst die Rede vom Schrei, die aus Bildern ‘schreiende Bilder’ macht. Der Glaube an ein letztes Band zwischen Weltund Mensch speist sich also tatsächlich aus Bildern; selbst im Falle ihrer Auflösung und Desartikulation hat er Bestand, ja er intensiviert sich sogar noch mit derselben. Doch bedarf es hierzu Offenbar einer von Anfang bis Ende artikulierten Rede.
Die übrigen Episoden von Loin du Viêt-Nam zeigen flackernde Fernsehbilder von der kriegsapologetischen Rede eines US-Generals, ein Interviewmit Fidel Castro, der den Sieg der Guerilla für unausweichlich hält, weil sie auf die Ressourcen von Territorium, Bevölkerung und Gerechtigkeit zurückgreifen könne, sowie eine Abschlusssequenz, die den Zuschauer aus dem Off direkt adressiert: “In wenigen Minuten wird dieser Film vorbei sein. Sie werden das Kino in eine Welt ohne Krieg verlassen” – in eine westliche Gesellschaft, die ihre Ziele, ihre Verworrenheit und Gewaltsamkeit vor sich selbst verberge. Es sei wahr, heißt es, dass die Vietnamesen auf dem Parkett der Weltpolitik unvernünftig oder gar verrückt agieren. Und ebenso wahr sei es, dass uns ihre Unversöhnlichkeit in unseren privilegierten Gewohnheiten stört. Doch könnte dieser vietnamesische Wahn die politische Weisheit von morgen sein, denn der Krieg zwischen Arm und Reich sei unausweichlich. Wie in einem nunmehr aufgeklärten Rekurs auf die allererste Episode sieht man eine marschierende vietnamesische Formation in Tarnmontur und zuallerletzt wieder US-High-Tech zur See.
Diese schlussendlich beschworene Vernunft der Unvernunft korrespondiert mit der erhOfften Vereinigung des weltweit fragmentierten Widerstands oder – auf den Film selbst bezogen – mit dem Versuch, aus der Formlosigkeit der heterogenen Einzelepisoden eine übergreifende Form zuentwickeln. Für diese übergreifende Form zeichnet, zumindest was Ton und Bild betrifft, ein und derselbe Filmautor verantwortlich: Chris Marker. Zwar sollte Marker noch Jahrzehnte später darauf bestehen, dass Loin du Viêt-Nam eine strikt kollektive Produktion gewesen sei. Schon während der Filmentstehung, für die zahllose Beteiligte ihre Bilddokumente, ihre Zeit und ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt hätten, habe sich nicht mehr feststellen lassen, wer letztlich welche Vorschläge und Materialien eingebracht habe.16 Marker jedoch war der Initiator und Organisator dieses Kollektivprojekts, der auch für die Endmontage, die Mischung und einen Großteil des Kommentars zuständig war, weshalb es nicht zuletzt sein Verdienstist, dass sich die Einzelteile am Ende zu einem Ganzen fügten.17 Und selbst wenn es richtig sein sollte, dass der Ausschluss von bereits produzierten Einzelepisoden (wie denen von Agnès Varda oder Ruy Guerra) auf einem Mehrheitsbeschluss aller Mitarbeiter beruhte, entsprach man damit doch Markers sehr genauen Vorstellungen von formaler Klarheit und inhaltlicher Kohärenz im Gesamtaufbau.18 Dass man bereit war, ihm so weitgehend zufolgen, hatte freilich gute Gründe.
Nach seinem Philosophiestudium bei Jean-Paul Sartre und seinem Engagementin der französischen Résistance hatte Marker zunächst in der linkskatholischen Zeitschrift Ésprit publiziert, ehe er als Romanschriftsteller debütierte und 1950 für Le Coeur net, einen Fliegerroman zum Indochinakrieg, den Prix Orion erhielt. Schon thematisch war er also in Sachen ‘Vietnam’ bewandert. Bald darauf arbeitete er als Assistent André Bazins, einem der geistigen Väter der Nouvelle Vague, bevor er dann in seinen ersten Filmarbeiten Elemente und Motive von Existenzialismus und Surrealismus sowie Katholizismus und Marxismus miteinander zu verbinden suchte. Zusammen mit Alain Resnais drehte er 1953 den ein Jahrzehnt lang verbotenen Kurzfilm Les statues meurent aussi, eine Studie über die gewalttätigen Bildregime des Kolonialismus, und wirkte auch an Resnais’ Nuit et brouillard(1956) mit. Nebenbei hat Marker mehrere ‘imaginäre’, das heißt niemals gedrehte, aber als Wortessay ausgearbeitete Filme konzipiert, in denen er – wie in L’Amérique rêve – die traumhafte Logik und phantasmatische Matrix ideologischer Leitmuster auslotete. In der Topografie des Pariser Intellektualismus verortete man ihn auf der ‘Rive gauche’, die man mit einem avantgardistischen Interesse an Formproblemen verband und zu der, von der Gruppe der ‘Rive droite’, bald auch Jean-Luc Godard hinüberwechselte. Marker genoss zudem den Ruf eines erfolgreichen Aktivisten im Brecht’-schen Sinne, der sich weltweit als Mentor ‘militanter’ Filmautoren und unterschiedlichster politischer Medienexperimente etabliert hatte. Seine eigenständigen oder auch nur kuratorischen und editorischen Arbeiten trugen stets eine unverkennbare Handschrift, wie er überhaupt das Autorkonzept weniger untergrub, als dass er es, etwa durch die bewusste Verschleierung seines bürgerlichen Namens, seines Geburtsdatums und Geburtsorts, aushöhlte und zugleich mystifizierte. Wenn es um sein ‘geistiges Eigentum’ und damit verbundene Ansprüche ging, verhielt er sich bemerkenswert gleichgültig. Was ihn letztlich mit dem Autorenkino seiner Zeit verband, war das Interesse an einer Aufwertung der Kunstform Film; was ihn davon abhob und zugleich als primus inter pares für Loin du Viêt-Nam empfahl, war seine Absage an Originalitätsvorstellungen jeglicher Art, selbst wenn die ‘katholische’ und ‘literarisch-essayistische’ Tendenz seiner Arbeiten auch im Kollektivprojekt durchschlug.
Gleichwohl befindet sich exakt in der Mitte von Loin du Viêt-Nam eine Episode, die Markers omnipräsent spürbare Filmästhetik, seinen ‘Bilderglauben’ und sein pädagogisches Konzept wenn nicht konterkariert, so doch zumindest irritiert: Jean-Luc Godards Camera Eye. Gezeigt wird zunächst eine Kamera in Frontalansicht, dann Godard von der Seite an dieser Kamera; schließlich Godard von vorn, wie er durch das Kameraobjektiv blickt, um fortan von ‘Vietnam’ zu sprechen. Konkret ins Bild gerückt wird hier gewissermaßen das ‘maschinelle Erzählsubjekt’ der amerikanischen Bildermacht, nämlich eine Mitchell-BNC-Kamera, die Godard bereits in der Anfangssequenzvon Le Mépris (1963) in Szene gesetzt und mit einem Zitat von André Bazin flankiert hatte: “Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.” Für Godard war dieser sogenannte ‘Rolls Royce de la prise de vues’ ein zutiefst widersprüchlicher Gegenstand: ein geradezu erotisch besetztes Objekt, ein Mittel wirksamer Manipulation, zudem ein High-Tech-Produkt, das man als kinematographisches Gegenstück US-amerikanischer Kriegstechnologien auffassen konnte, und natürlich ein Produktionsmittel der Kulturindustrie Hollywoods, die sich nach Godards Dafürhalten die ‘Dritte Welt’ auch ästhetisch unterworfen hatte. Doch gerade diese massive, für den filmischen Guerillakampf untaugliche Kamera stellte Godard in den Mittelpunkt seines ästhetischen Feldzugs, so als wolle er die imperiale Bildtechnik systematisch zweckentfremden. Wäre er ein Kameramann von ABC News, dann hätte er das Erzählenswerte einfach ‘geschossen’, sagt Godards Stimme aus dem Off. Doch lebe er in Paris, und ihm sei die Einreise in den Norden Vietnams verweigert worden, weil er als ideologisch unzuverlässig gelte. Mit der Entscheidung hätten die Vietcong recht gehabt: Ein Pariser könne seine Filme auch in Paris, fern von Vietnam machen … Fortan spricht Godard weniger von Vietnam als vielmehr von jenem Film, den er für Markers Projekt womöglich hätte machen können. Und dieser hypothetische Film erscheint nun, wie eine bildgewordene Fabulation, in Fragmenten auf dem Bildkader, wo man etwa einen Bomber am Himmel oder einen maskierten Soldaten mit Panzerfaust sieht (Szenen aus Godards La Chinoise, wie man als Cineast erkennen kann), oder vietnamesische Soldaten, die durch ein Grabensystem flüchten (Bildmaterialvermutlich unbekannter Herkunft). Hanoi habe recht gehabt, sagt Godard, er hätte mit seinen Ideen wohl mehr geschadet als genützt; schließlich sei es schwierig, über Bomben zu reden, wenn sie einem nicht wirklich auf den Kopf fallen.
Was zu tun bleibe, sei nicht, auf pompöse Art und Weise in Vietnam einzumarschieren, sondern Filme zu drehen, die Vietnam in uns einmarschieren lassen. “Créer un vietnam en soi-même”, ihm Platz in unserem Alltäglichen gewähren – dies allein werde Che Guevaras Motto gerecht. ‘Vietnam’ ist für Godard kein imaginäres Bindemittel zur Annäherung und Vereinigung derjenigen, die sich schon untereinander fern sind, die sich in ihren jeweiligen ‘kulturellen Gefängnissen’ befinden und dort einerseits gegenden ‘ökonomischen’, andererseits gegen den ‘ästhetischen Imperialismus’ kämpfen. ‘Vietnam’ ist für ihn eine Unterbrechung im Redefluss, ein Stottern und Schreien; und eine Leerstelle im Strom der Bilder, ein Riss und eine Lücke. Es markiert eine Abwesenheit, die Gemeinsamkeit nur indirekt, nur durch den jeweils eigentümlichen Bezug auf ein Drittes zu stiften vermag; und erst in diesem Bezug erlangt das ‘ferne Vietnam’ selbst eine gewisse Wirklichkeit und Wirksamkeit. So wie die Streikenden der Fabrik Rhodiaceta in Besançon von den Nordvietnamesen lernen können, können auch die Filmemacher in der Auseinandersetzung mit ‘Vietnam’ (und seinem Guerillakino) nur lernen, um gerade auf diesem Umweg eine Beziehung zu den Arbeitern Europas herzustellen. Nur Filme, die ‘Vietnam’ in ‘uns’ eindringen lassen, können also Wirklichkeit aus dem phantasmatischen Ideal (einer gerechten Sache) hervorgehen, Gemeinschaft ausder realen Fragmentierung (wie der zwischen Arbeitern und Intellektuellen) erstehen lassen und so zu guter Letzt ein neues Band zwischen Menschund Welt knüpfen.
Es ist keine mauvaise foi, die Godards Rede antreibt. Gegenstrebig zum Ridder-Monolog stellt sie sich, ungerührt von einer evidentermaßen unmenschlichen, einer grausamen und ungerechten Welt, dem Wissen um die heutige Unmöglichkeit wirklicher Revolutionen, um dennoch die eigene Freiheit, nämlich das ‘freie’ Filmemachen zu wählen. Und anders als in der Resnais-Episode verstrickt sich hier nicht das diskursive Denken in Aporien und Inkohärenzen, versinkt hier kein Zweifelnder im Unerträglichen des alltäglich Banalen. Vielmehr propagiert Godard ein Denken in akustischen und visuellen Bildern. Das Irrationale, zu dem dieses Denken (in Gestalt einesSchreis oder einer Lücke) gelangt, erlaubt keine kinematografische Illusionvon ‘Welt’ mehr; es zerstört sowohl den Realitätseffekt der Bilder als auch die Autorität des Kommentars; und dennoch legt es uns einen neuen, wenn auch absurden Glauben an unsere Bindung zur Welt nahe, weil es die Möglichkeit bejaht, dass diese Bindung auf unserer eigenen Wahl (und sei es nur die des Filmemachens) und unserer eigenen Schöpfung (und sei es nur die eines ‘inneren Vietnams’) beruht.
In Godards Kino klafft immer schon eine Lücke zwischen den Bildern und den Worten, und von diesem Intervall, von dieser Differenz her gilt es, allererst eine mögliche Verbindung zu suchen. Unausweichlich ist die Notwendigkeit, zwischen Visuellem und Verbalem eine Synthese herzustellen. Diese, wie es Deleuze nennt, “Fusion eines Risses” strebt aber nicht die Aufhebung in einer neuen audiovisuellen Einheit an,19 sondern bleibt dem Film eingeschrieben: Wenn in der Episode Camera Eye Worte und Bilder noch in einer Vorstellung (wie der vom ‘vietnamesischen Grabenkrieg’ oder vom ‘Kampf gegen den kulturellen Imperialismus’) zu koinzidieren scheinen, dann oszillieren die Elemente des Hör- und Sichtbaren zwischen Wirklichkeitsanpruch und bloßer Fiktion, zwischen eigentlicher und bloß symbolischer Geltung. Letztlich hat für Godard, wie Pascal Bonitzer sagt, die ‘dargestellte Welt’ jedes Interesse verloren, die ‘Darstellung’ selbst aber alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.20 Hier ist das visuelle Bild kein Fenster zur Welt mehr, sondern ‘juste une image’, dem das Akustische folglich nicht mehr als realistischer Ton zur Seite tritt. Gleichermaßen autonom, werden das visuelle und akustische Bild auf ihre Weise kadriert, sodass es eigentlich keinen hors-champs mehr gibt, an die Stelle des Bildaußens vielmehr eine Lücke zwischen zwei Kadrierungen tritt und, wie es Godard selbst formuliert, die Tonmischung gleichberechtigt neben die Montage tritt.21 So unwiderruflich wie in Godards Filmen Bild und Ton als ‘symbolische’ Hälften ein und derselben verbürgten Weltdarstellung auseinandergerissen sind, so sehr nötigen, ja zwingen sie dazu, zur ‘Welt’ und ‘Wirklichkeit’ eine neue Verbindung zu stiften.
Unter diesen Vorzeichen ist auch Godards Rekurs auf die Programmatik des Kinoglaz (des ‘Kameraauges’) von 1924 zu verstehen, der 1968 zur Gründung der Groupe Dziga Vertov führen sollte: Einerseits ist die Hoffnung des sowjetischen Dokumentarfilmpioniers Vertov (1896–1954), über die Kamera unverfälschte ‘Fakten’ zu erfassen, diese zu organisieren und dannüber die Leinwand auf das Bewusstsein der Arbeiter einwirken zu lassen, für Godard passé; schließlich liefert, wie es 1967 in La Chinoise heißt, die Kunst nicht mehr “die Reflexion der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit jener Reflexion”, zu der Bilderschlachten wie die um ‘Vietnam’ veranlasst haben.22 Andererseits zwingt Vertovs Reflexion über das ‘Kameraauge’ zu einer spezifisch kinematografischen Analyse von Bildgehalten, Bilddokumenten und Bildpolitiken. Stellt nämlich das Medium Kino ein epistemologisches Instrument dar, das nicht der Abbildung, sondern der Erkundungvon ‘Wirklichkeit’, ihrer Speicherung, Manipulation und Übertragung dient, dann verlieren Konzepte wie das des Mimetischen, der Repräsentationoder der natürlichen Wahrnehmung ihren Sinn. Sie werden ebenso problematisch wie die Unterscheidungen zwischen real und fiktiv, Dokumentar- und Spielfilm oder, grundsätzlich, zwischen wahr und falsch.23 Sich, wie Godard fordert, von einem verbindlichen Modell des Wahren abzulösen, impliziert zwar die Relativierung ideologisch fester Standpunkte, keineswegs aber die Preisgabe jeder Parteilichkeit, nachdem ja ohnehin alleBilder der Wirklichkeit ‘gleichgültig’ geworden seien. Vielmehr zwingt es dazu, die Manipulierbarkeit der Wirklichkeit zu explorieren, nicht zuletzt, um bei der politischen Repräsentation und im Krieg der Bilder neue Interventionen zu ermöglichen.
In diesem Sinn hat Godard mit seinem Mitarbeiter Jean-Pierre Gorin im Filmessay Letter to Jane 1972 eine Pressefotografie Jane Fondas untersucht, auf der sie als solidarische und engagierte westliche Intellektuelle im Gespräch mit Vietcong gezeigt wird. Dieses Bild verweist, wie Godard und Gorin feststellen, allenfalls im Falle der anonymen Vietcong auf etwas Reales. Mit der Gestalt Fondas bietet sich hingegen eine Mischung von mimischen und gestischen Codes, von Pathosformeln und unwillkürlichen Regungen dar, die weniger über ihre Einstellung und Empfindung, ihre wirkliche Lage und ihr faktisches Engagement verrät als über ihre professionelle Anbindung an die Bilder- und Diskursindustrie Hollywoods. “Nicht ein richtiges Bild, sondern nichts weiter als ein Bild”: Unter diesem Vorzeichen stellt die Ridder-Episode das politische und ideologische, dabei aber unsichere und ‘flüchtige’ Zentrum von Loin du Viêt-Nam dar, Camera Eye indes sein ethisches und formales Epizentrum. Hier nämlich wird der ideologische Bilderkampf zu einer Bildkritik der Wirklichkeit transformiert und wird die real existierende ‘Politik’ mit ihrem permanenten Aktionsbedarf anhand bildgeleiteter Denkakte auf einen Raum des insistierenden ‘Politischen’ hingeöffnet. Godards Kino stellt ein politisches cinéma verité in dem Sinne dar, dass es nicht zur Manifestation politischer Wahrheiten dient, sondern vielmehr “die Wahrheit des Kinos” manifestiert, indem es das Imaginäre der Bilder auf deren Ungedachtes hin überschreitet.24 Oder anders gesagt: Um ‘wahre’ und in diesem Sinne ‘politische’ Filme zu machen, muss vom Bildfeld ein Bezug zum hors-champ gestiftet werden.
Der hors-champ beschränkt sich dabei nicht auf den kritischen Off-Kommentar. Ganz allgemein kann man ihn als das (noch) nicht sichtbare Feldjenseits des Bildkaders bestimmen. Und auf dieses Außen oder Offverweist das Filmbild unweigerlich, ist es doch ein bewegtes Bild, das sich nicht, wie ein Gemälde, durch einen zentripetalen ‘Rahmen’ nach innen hin abschließen lässt, sondern sich, wie es André Bazin beschrieben hat, visuell oder akustisch über einen zentrifugalen ‘Kasch’ hinaus stets potenziell fortsetzt.25 Auch was jenseits des Bildes liegt, vermag somit völlig gegenwärtig zu sein. Dabei kann der hors-champ zwei unterschiedliche Funktionen übernehmen: Zum einen gibt es für jedes Bildfeld eine kontinuierliche Fortsetzung (etwa wenn man als Zuschauer ein Zimmer jenseits des Bildfelds antizipiert, in das eine sichtbare Figur gleich eintritt), die sich als natürlich und organisch verstehen und zudem (wie ein Gang von Zimmer zu Zimmer) unbegrenzt fortsetzen lässt. Zum anderen kann der hors-champ aber auch für ein Außen stehen, das diese Dimension überschreitet – das, wie es Deleuze nahelegt, nicht mehr in Relation zum gegebenen Bildfeld steht und somit als dessen ‘Umfeld’ existiert, sondern vielmehr als ein absolutes Anderswo ‘insistiert’.26 Strukturell entspricht dem jene in Nietzsches Kritik der Historie bezeichnete Dimension des ‘Unhistorischen’,27 in der allein es zu wirklichen, von empirischen Ursachen und Zwecken unableitbaren ‘Ereignissen’ kommen kann. Indem es sich auf diesen hors-champ verpflichtet, trifft das Kino eine Wahl im Sinne Sartres. Indem es nämlich einen absoluten Bezug zum Außen stiftet, öffnet es sich auf das Ereignishafte und knüpft damit, abseits der politischen oder psychologischen Zwänge und losgelöst von den Klischees des Handelns und Empfindens, ein neues Band zwischen uns und der Welt.
Zuweilen operiert solches Kino nach Art einer – in Nietzsches Sinne –schöpferischen Historie, etwa wenn es bereits vorliegende Bilddokumente nicht nur mit anderen Bildern (parallel, kontrastiv, dialektisch etc.) montiert, sondern sie vielmehr auf den hors-champs hin öffnet, sie dadurch gleichsam neu erschafft und damit jene bis dahin unbekannten Ereignisse erschließt, die in der Geschichte ‘insistieren’. In ebendiesem Sinne folgt Godard dem Motto Oscar Wildes, “eine genaue Beschreibung dessen zugeben, was nie stattgefunden hat”.28 Doch sobald er sich dem hors-champ öffnet, ist ein Filmemacher allgemein und selbst ein Dokumentarfilmer nicht mehr derjenige, der die Bilder von einem souveränen Standpunkt ausfilmisch zu perspektivieren und kommentierend zu bewerten weiß: Bild und Wort kommentieren und perspektivieren sich nun gegenseitig, und das Sichtbare kann gewissermaßen zum Off des Sagbaren werden. Der Kommentarist dann kein Metadiskurs mehr, sondern wird zu einer Äußerung im Beziehungsgeflecht einer komplexen Aussage, die sich wiederum aus dem Zusammenspiel zahlreicher anderer Äußerungen (aus dem Bildfeld oder auchdem Off) ergibt. Eine solche Off-Stimme verliert jede letztverbindliche Autorität, weil sie nur mehr eine vereinzelte Rede im Gefüge vieler anderer Reden artikuliert. Und in diesem Zuge schwindet für den Autor die Gewissheit darüber, wer er selbst ist, was er filmt und wie es ‘eigentlich’ zu kommentieren wäre. In diesem Diskurs oder Verweisungszusammenhang von Bildern und Worten tritt an die Stelle der direkten (im Bildfeld als autonom erscheinenden) und der indirekten Rede (dem neutralen Bericht von der Rede eines anderen) die ‘freie indirekte Rede’: ein kollektives Aussagengefüge, in dem die Wahrheit und Legitimität dieser oder jener Äußerung nicht schon feststeht, sondern in dem ihr jeweiliger Wirklichkeitsbezug allererst erkundet werden muss.
Ein derartiges Vorgehen zielt weder darauf ab, alle Reden als gleichermaßen fiktiv zu charakterisieren, noch beansprucht es, einzelne Reden gegenüber anderen als wahr auszuzeichnen. Äußerungen zeichnen sich vielmehr durch ihre Ereignishaftigkeit und ihre Fabulierkraft aus: Wenn in der Episode Johnson pleure aus Loin du Viêt-Nam vietnamesische Pantomimen auf einer improvisierten Bühne die Verzweiflung Präsident Johnsons und seines Beraters McNamara in Szene setzen, hat dies nicht nur für ihre Zuschaueraus der verarmten Landbevölkerung Ereignischarakter. Denn mit den Pantomimen äußern sich diejenigen, die von den Produktionsmitteln medialer Wahrheit am weitesten entfernt stehen und die mangels Wahrheitskompetenz eigentlich nicht einmal Subjektfunktionen für sich beanspruchen können. Dass sie aber den US-Präsidenten und seinen Berater unter Gelächter als Verzweifelte vorführen, macht sie zu politischen Akteuren, die durch eine simple Lüge und Fiktion die Wahrheit ihres Kampfesmutes artikulieren. Man kann hier vom Ereignis einer ‘kleinen’ politischen Manifestationsprechen, die im Gegensatz zu großen Kundgebungen (der westlichen Kriegsgegner oder -befürworter) eine Art improvisierter Gegenöffentlichkeit herstellt und dabei keine allgemeine oder moralische Stellvertreterfunktion (für ‘die Vietnamesen’, für ‘die gerechte Sache’ etc.) übernimmt, sondern vielmehr eine doppelt paradoxe, weil unbeständige Gründungsfunktionfür ein abwesendes Volk. Im Zusammenwirken mit dem Publikum beziehen sich die anonymen Pantomimen nicht auf die propagandistische Legende ihrer Unbesiegbarkeit oder eines schwachen Feinds, sondern vielmehr auf die Legende, überhaupt ein ‘Volk’ zu bilden. Allererst durch diese Bezugnahme werden sie zu Exponenten dieses Volks. Und so, wie sie mittels einer Fabulation, die die Differenz zwischen Realität und Fiktion einfach unterläuft, zu anderen werden, werden auch die Filmautoren dieser Episode gerade dadurch zu anderen, dass sie sich nun auf das ‘Werden eines Volks’ und nicht mehr nur auf das allerorten ventilierte Phantasma ‘Vietnam’ (mitsamt seiner repräsentativen und moralischen Akzente) beziehen. Die Praktik der Fabulation geht nicht mehr, wie noch die Narrativedes klassischen politischen oder des antikolonialistischen Kinos, von einer künftigen Herrschaft des Proletariats oder des Volks aus, sondern gerade von deren Unmöglichkeit. Wovon hier fabuliert wird, ist Deleuze zufolge ein zwangsläufig ‘fehlendes Volk’: ein Volk der Minder- und Vielheiten, das, ohne jemals ‘existiert’ zu haben, gerade in dem Moment verschwinden muss, da es sich zu einem staatlichen Verband politischer Subjekte organisiert. Das Volk, das in diesem Fabulieren ‘insistiert’, ist ‘im Werden’: gerade im legendenhaften Bezug auf sein Kommen stellt es sich her. Und auch das Kino-Publikum soll von diesem ‘Werden’ erfasst werden, vermag es sich doch allein dadurch zu ‘bilden’, dass es sich nicht in die ‘Wahrheit’ und ‘Realität’ der Fernseh- und Kriegsberichterstattung verstricken lässt, sondern sich der Fabulation von seinem eigenen ‘Fehlen’, von seiner Verstreuungund seiner Versäumnis hingibt.29 In diesem Sinne ist das Fabulieren dieses neuen politischen Kinos weder ein unpersönlicher Mythos noch eine persönliche Fiktion, sondern vielmehr “eine Rede in actu, ein Sprechakt, durch den die Figur fortwährend die Grenze überschreitet, die ihre Privatangelegenheiten von der Politik trennt und selbständig kollektive Aussagen produziert”.30
Was den kollektiven Aussagen, die weder dialogische (im Bildfeld) nochreflexive Sprechakte (im Off ) darstellen, fehlt, ist ein definites Objekt. Aber ebensowenig lassen sie sich einem bestimmten Subjekt zurechnen. In ihnen bemächtigt sich die Sprache nicht der Wirklichkeit, vertritt das Sprechen niemanden und erteilt es auch keine Befehle mehr. ‘Nichts weiter als ein Sagen’, versetzt solche Rede den Sprachvollzug in ein gewisses Stottern, in eine Trance und einen Schwindel. Auf eben diese Art stimmt in William Kleins Vertigo, der elften Episode von Loin du Viêt-Nam, ein unverständlich lallender, womöglich betender, vielleicht aber auch verrückter oder nur betrunkener Mann an einer Straßenecke Manhattans eine Litanei an, einen eintönigen Singsang, der zu einem Menschenauflauf führt. Die aus der alltäglichen Berichterstattung wohlbekannten, aber unbegriffenen und nunverfremdet rezitierten Silben “Na-Palm-Na-Na-Palm-Napalm” hinterlassen die Passanten ratlos, wissen sie doch nicht, an wen sich die Rede richtet und wie mit dem Sprecher zu verfahren wäre, bis dieser auf seinen kleinen Sohn zeigt und lakonisch sagt: “Kids like this are getting burned up by Napalm.” Es ist in dieser Episode also gerade das Stottern in der eigenen Sprache, das ‘Vietnam’ in seiner ganzen Unverständlichkeit erfahrbar machen und als verstörende Erfahrung in den Alltag eindringen lassen soll.
Wenn sich an Loin du Viêt-Nam und seinen unterschiedlichen Episoden das Werden des neuen politischen Kinos regelrecht ausbuchstabieren lässt, welche Rolle wäre im Rahmen dieser Genese dann Chris Marker zuzuschreiben, immerhin der spiritus rector des Projekts? Nachdem er, mit Rekurs auf die Film- und Literaturgeschichte, aber auch auf den Algerienkrieg, bereits in früheren Arbeiten – exemplarisch in seinem wohl bekanntesten Film, dem ‘Foto-Roman’ La jetée (1962) – die manipulative Macht von Bildern und ‘Ein-Bildungen’ unter dem Aspekt von Zeit- und Geschichtskonstruktionen untersucht hatte, produzierte er 1975 mit Le fond de l’air est rouge eine Fortsetzung von Loin du Viêt-Nam. In einer Art Archäologie seiner eigenen Zeitgenossenschaft führt er darin die Jahre von 1967 bis 1975 als Periode fundamentaler politischer Transformationen vor: Die Kulturrevolution wirdan die Kandare genommen, die revolutionäre Linke Venezuelas und Chiles scheitert, Europas linke Gruppierungen werden infiltriert und Vietnam erlebt seine Staatswerdung, bildet also kein ‘fehlendes Volk’ mehr. Hinzukommen die Gemetzel der Roten Khmer in Kambodscha und der Aufstieg der Neuen Rechten in Frankreich sowie der Bruch zwischen Arbeitern und radikalen Studentengruppen. Marker spricht davon, dass mit alledem die Moral und Solidarität der 1960er-Jahre ausgelöscht worden sei. Eine erweitert-aktualisierte Version des Films von 1993 heißt deshalb A Grin without a Cat, um damit, in Anspielung auf Lewis Carrolls Alice in Wonderland, das Virtuellwerden der Linken und ihres Treibstoffs ‘Vietnam’ zu bezeichnen. Le fond de l’air est rouge will weniger eine Chronik der erwähnten Ereignisse als eine Untersuchung ihrer filmischen Reflexion sein. Der Film versteht sich deshalb auch als ein ‘Replay’ von Loin du Viêt-Nam: Marker arbeitet unter anderem mit dem 1967 geschnittenen und gekürzten Material, den damaligen Outtakes und non utilisées, und fragt: Was steckt, aus heutiger Perspektive, hinter der damaligen Verdrängung dieser Bilder?31 Umgekehrt entdeckt er bei ihrer erneuten Sichtung eine ungeahnte ‘Potenzialität’ der Quellen, die sich, obwohl gut konserviert und damit eigentlich unverändert, mit der Zeit regelrecht ‘verandert’ haben: 1952 etwa hatte Marker, in einer Art ‘Replay’ von Leni Riefenstahls propagandistischem Dokumentarprojekt Olympia (1938), bei den Olympischen Spielen in Helsinki einen chilenischen Springreiter gefilmt, der sich dann 1975 als der junge General und Putschist César Mendoza entpuppte. Markers Fazit: “Man weiß niemals, was man filmt” führt, wie auch sein späteres Filmprojekt Le souvenir d’un avenir (2001), weniger zur Ungewissheit darüber, wer man beim Filmemachen eigentlich ist und wird, als zu einer rekursiven Reflexion über die Reflexion der Geschichte in Filmbildern. Dass bereits das Original eine Fälschung darstellt, oder dass jedem Bild ein virtueller Gehalt zu eigen ist, der seine aktuelle Erscheinung nachträglich verändern kann – über derlei schwindelerregende Befunde kann hier eine Off-Stimme ruhig räsonieren, ohne selbst in Trance zu geraten.
Auch Markers spätere Filme betreiben eine Archäologie historischer Bildgedächtnisse, nur gehen sie dazu über, mehr und mehr mit den medialen Möglichkeiten am Rande des Filmischen zu experimentieren: In Sans Soleil(1983) ist es ein digitaler, ‘The Zone’ genannter Bildsynthesizer, der – von einem so poetischen wie medienkundigen Off-Kommentar unterstützt –die Vorstellung dementiert, Bilder könnten durch ihre mimetische Qualität mit unseren Erinnerungsspuren fusionieren und uns somit einen direkten Zugang zur Vergangenheit bahnen. Bei zahllosen Experimenten, unter anderem mit neuen Kameras, dem Fernsehen oder der Videotechnik, aber auch mit computergenerierten Bildern und Tönen sowie mit Installationen aus Videos, Filmen und Computern (wie 1990 in Zapping Zone) durchstöberte Marker eine umfängliche Infrastruktur von Bildarchiven und Bildverarbeitungstechniken, um dabei freilich dem Kino, im Augenblick seines allerseits beschworenen Endes, dennoch eine Sonderstellung einzuräumen.
Die CD-ROM Immemory (1997) ermöglicht es dem Zuschauer beziehungsweise Bediener, durch acht verschiedene ‘Zonen’ (betitelt als: Gedächtnis, Kino, Fotografie, Dichtung, Museum, X-Plugs, Reisen und Krieg) zu navigieren und somit das ‘Unvordenkliche’, weil immer schon medial Gestützte des eigenen Erinnerns und Denkens zu organisieren. Einerseitswerden damit, wie es scheint, rein technisch etliche Beschränkungen des Kinos (die Linearität der Bilder, die Macht des Autors und das durch ihn vorgeprägte Verhältnis von Zuschauern und Welt) überwunden, was den im Zuge der Navigation entstehenden ‘Film’ gänzlich virtuell werden lässt, weil er nur aus kontingenten, individuell gewählten Anschlüssen und Verzweigungen besteht und letztendlich nichts anderes als die Koexistenz eigentlich inkompossibler Welten darstellt. Andererseits gebietet das Projektgerade jener technischen Euphorie Einhalt, die das Kino im digitalen Medium aller Medien aufzuheben meint: Marker beschränkt die Gestaltungsmacht der Nutzer auf eine Wahl der Menüs, die dann, in einer zweiten, vom Programm selbst zufallsgenerierten Wahl, zu den Filmfragmenten überleiten, sodass immer nur ein endlicher Bildbestand verfügbar wird. Die eigentliche ‘Rezeptionsarbeit’ muss weiterhin in Auseinandersetzung mit den Bildern und ihrem hors-champ geleistet werden – und das unter verschärften Bedingungen, fehlt hier doch der typisch Marker’sche Off-Kommentar. In seinen schriftlichen Essays, etwa in Le depays(1982), hat Marker für seine Filmarbeiten geltend gemacht: “Der Text ist ebenso wenig ein bloßer Bildkommentar wie die Bilder bloße Illustrationen des Texts sind. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Serien von Einstellungen, die sich unvermeidlicherweise kreuzen und hie und da interagieren.”32 Dass bei Marker zwischen Bild und Wort wirklich eine Lücke klafft und die visuellen und akustischen Bilder tatsächlich heterogene Serien bilden, dass der alte hors-champ damit seine Macht verloren hat und das Off zu einem Off–Off gewordenist, haben freilich seine späteren Kritiker ebenso bestritten wie schon sein Lehrer Bazin. Für gewöhnlich sei es “das Bild, also das grundlegende kinematografische Element, das das Ausgangsmaterial eines Films darstellt, sogar im ‘engagierten’ und thesenhaften Dokumentarfilm”, schrieb Bazin bereits 1958. “Bei Chris Marker ist das ganz anders. Ich würde sagen, daß bei ihm das Ausgangsmaterial die Intelligenz und deren direkter Ausdruck,das Wort, ist; das Bild steht im Zusammenhang mit dieser verbalen Intelligenzerst an dritter Stelle.”33 Markers Bilder sind in einer, wie Bazin sagt, ‘horizontalen Montage’ an jene Gedanken, die die übergeordnete Kommentarstimme artikuliert, rückgebunden. Mit ähnlichem Tenor schreibt Jacques Rancière anlässlich von Le tombeau d’Alexandre (1993), Marker gehe ‘dialektisch’ vor: Aus unterschiedlichstem, stets aber dokumentarisch aufgefasstem Material konstruiere er Bilderserien, die er dann “dem skandierenden Rhythmus der Erinnerung” entsprechend miteinander verknüpfe. Seine Filmkunst kranke dabei allerdings an dem Paradox, “auktorial über die Kommentarstimme zu unterstreichen, was die Bilder ‘sagen’, die ‘für sich selbst sprechen'”. Markers “Stimme des Herrn und Meisters kommt in der Regel aus dem Off, verdoppelt mit seiner melodischen Kontinuität dieVerkettung heterogener Bilder oder reguliert Punkt für Punkt den Sinn.”34 Zusammenfassend kann man sagen, dass es Marker nicht um jene gegenhegemoniale ‘Selbstentfremdung’ des Filmemachers ging, die Godard forderte, damit ‘Vietnam’ in uns eindringe. Bei Marker ist das Off gleichsam noch ‘on’, und der hors-champs ist immer noch der feste und privilegierte Ort autoritativer Rede. Deshalb kennt sein Kino auch nicht die Fabulation eines zwar fehlenden, aber werdenden ‘Volks’. Vielmehr zeugt es von dessen aktuellem Schwund, der aber durch eine dauerhafte virtuelle Präsenz kompensiert wird. Letztlich besitzen die Bilder hier kein ‘absolutes’ oder ‘unhistorisches’ Außen, auf das sie sich eigenständig beziehen könnten, um damit, wie es Deleuze beschrieben hat, ein neues Band zwischen der Welt und den Menschen zu knüpfen. Während Godard das Politische der Aktion in einen politischen ‘Bildakt’ transformiert, der den Bildern ihre Autonomie und Potenzialität belässt, damit sie auf das Empfinden, Denken und Handeln des Filmemachers wie des Publikums ein- und rückwirken können, operiert Marker über den ‘Sprechakt’. Doch geht es ihm hierbei nicht darum, durch eine Trance oder ein Stottern der Rede die performativen Bedingungen des Sprechens grundsätzlich zu verändern; vielmehr erfüllt sich dieser ‘Sprechakt’ in einem – aufgrund seiner Intelligenz und Intellektualität – schöpferischen Diskurs. Somit vertritt Marker insgesamt eine durchaus eigenwillige Katholizität des Kinos, für die es, solange es sich noch um ‘klassische Filme’ handelt, der verbalen Ostentatio bedarf: der Autorität einer Rede, die den Glauben an das Sichtbare herstellt und immer wieder befestigt.
Das alles mag vielleicht erklären, wieso Marker zwar ein führender Exponent des Essayfilms und ein weltweit erfolgreicher Mentor des politischen Films war, filmgeschichtlich aber dennoch ein Außenseiter geblieben ist. In Deleuzes philosophischer Geschichte des Kinos wird er, im Gegensatz zu Resnais oder Godard, kein einziges Mal auch nur genannt. Der horschamp scheint sich also – seit Loin du Viêt-Nam – zu einem Kampfplatz par excellence entwickelt zu haben, und dies nicht nur im Kampf gegen die ‘imperiale Bildermacht’, sondern auch im Streben nach filmgeschichtlicher Anerkennung. Vielleicht aber wurde Marker auf diesem Feld auch nur deshalb die angemessene Würdigung verweigert, weil man hier auf das Politische filmästhetischer Belange größeren Wert legte als auf das ästhetische Potenzial filmtechnischer Experimente. Godard selbst hat wiederholt gefordert, der Film müsse über den Indikativ kinematografischer Medialität hinausgehen. Für ihn hat der Film viele mögliche Formen, und besonders das Video verstand er als ein ‘Kino zweiter Potenz’. “Doch das Video wird durch den Computer überholt werden oder durch eine hybride Mischung, die sich von einem filmischen Schaffen, wie es heutzutage existieren kann, weit entfernen wird”, sagt Godard. “Wenn Sie so wollen, gäbe es noch eine andere Art zu arbeiten, nämlich auf CD-ROM: Hier gibt es eher die Möglichkeit, durchzublättern, zu finden, Titel zu setzen. […] Zwischen Videospielund CD-ROM ließe sich eine Art, Filme zu machen, denken, die Borges oder derartigen Leuten weitaus näher stehen könnte. Vielleicht gibtes eines Tages jemanden, etwa einen Chris Marker […], der solche Filmemachen wird.”35 Das alles sagte Godard im Jahre 2000. Doch hat es damals einen solchen Marker bereits gegeben: den des erwähnten Projekts Immemory. Zuletzt wirkt es wie eine bittere Ironie der Filmgeschichte, dass Godard von diesem filmtechnischen Experiment nichts wusste – und Deleuze nichts mehr wissen konnte.
Vgl. Beate Weghofer, Cinéma Indochina. Eine (post-)koloniale Filmgeschichte Frankreichs, Bielefeld 2010, S. 126–128.
Aus filmgeschichtlicher Perspektive vgl. hierzu Joachim Paech, Literatur und Film, Stuttgart/Weimar 1997, S. 26.
Siehe David E. James, "Documenting the Vietnam War", in: Linda Dittmar / Gene Michaud (Hg.), From Hanoi to Hollywood. The Vietnam War in American Film, New Brunswick / London 1990, S. 239–254, hier S. 241 f.
Vgl. hierzu Chris Markers Hinweis auf Antonio in einem Interview von 1968, abgedruckt in: Nora M. Alter, Chris Marker, Urbana/Chicago, IL, 2006, S. 136–139, hier S. 139.
Bertolt Brecht, "Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment" [1931], in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, hg. v. Werner Hecht et al., Berlin/Weimar 1992, S. 448–514, hier S. 469. Zur Rezeption von Brechts Filmkonzeption innerhalb der Nouvelle Vague vgl. etwa Bernard Dort, "Pour une critique brechtienne du cinema", in: Cahiers du Cinéma 114 (1960), S. 33–43.
Zur konkreten Aufnahme der Arbeit an Loin du Viêt-Nam nach Anfragen des GaleristenRobert Bonzi und einiger Studenten der Université Paris-Nanterre bei Chris Markervgl. François Leconte, "The Elephants at the End of the World. Chris Marker and ThirdCinema", in: Third Text 25 (2011), 1, S. 93–104, hier S. 94.
Vgl. hierzu Catherine Lupton, Chris Marker. Memories of the Future, London 2005, S. 113 f., und Sarah Cooper, Chris Marker, Manchester/New York 2008, S. 73 f.
Siehe James, "Documenting the Vietnam War", S. 246 f.
Zit. nach: Weghofer, Cinéma Indochina, S. 168.
Vgl. hierzu Matthew Croombs, "Loin du Vietnam", in: Third Text 28 (2014), 6, S. 489–505, hier S. 492.
Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie,hg. v. Traugott König, übers. v. Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek 1993, S. 154.
Ebd., S. 158.
Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, übers. von Klaus Englert, Frankfurt am Main 1991, S. 222.
Ebd., S. 224.
Vgl. dazu James Cable, The Geneva Conference of 1954 on Indochina, Basingstoke u. a. 1986.
Vgl. Markers kurze Stellungnahme in: Télérama 2486 (1997), S. 4.
Siehe das Interview mit Alain Resnais in: Birgit Kämper und Thomas Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist, München 1997, S. 205–217, hier S. 212 f.
Vgl. hierzu Weghofer, Cinéma Indochina, S. 169.
Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 343.
Vgl. Barbara Filser, Chris Marker oder die Ungewissheit der Bilder, München 2010, S. 77.
Siehe Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 235.
Vgl. hierzu Elisabeth Büttner, Projektion, Montage, Politik. Die Praxis der Ideen von Jean-Luc Godard (Ici et ailleurs) und Gilles Deleuze (Cinema 2, L'image-temps), Wien 1999, S. 29.
Zur Medienästhetik Vertovs siehe Ute Holl, Kino, Trance & Kybernetik, Berlin 2002, S. 285–290.
Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 199.
Vgl. André Bazin, "Malerei und Film", in: ders., Was ist Film?, Berlin 2004, S. 224–230.
Siehe Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1989, S. 32–35.
Vgl. Friedrich Nietzsche, "Unzeitgemäße Betrachtungen", in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1, München / Berlin / New York 1988, S. 239–330, hier S. 252–257.
Youssef Ishaghpour, Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts, Zürich/Berlin 2008, S. 19.
Vgl. hierzu den entsprechenden Hinweis in Filser, Chris Marker, S. 144.
Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 286.
Vgl. hierzu das Vorwort zum Textbuch, in: Kämper/Tode, Chris Marker, S. 176.
Zit. nach: Alter, Chris Marker, S. 10 (meine Übersetzung; B. W.).
André Bazin, "Lettre de Sibérie" [1958], wieder abgedruckt in: Christa Blümlingerund Constantin Wulff (Hg.), Schreiben Bilder Sprechen, Wien 1992, S. 205–208,hier S. 206 f.
Jacques Rancière, "Fiktion der Erinnerung", in: Natalie Binczek/Martin Rass (Hg.),"... sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder ...". Anschlüsse an Chris Marker,Würzburg 1999, 27–38, hier S. 36 f.
Godard im Gespräch, in: Ishaghpour, Archäologie des Kinos, S. 30.
Published 15 July 2015
Original in German
First published by Mittelweg 36, 3/2015
Contributed by Mittelweg 36 © Burkhardt Wolf / Mittelweg 36 / Eurozine
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