Die Problematik
Wie konnte das Christentum, das in seinen Gründungschriften keinen Ehrenkodex kennt und Gewalt wider den Nächsten kategorisch ablehnt, gerade mit dem in Zusammenhang gebracht werden, was es am vehementesten ablehnt? Wie konnten die Worte der Bergpredigt zur Heiligen Schrift der Kreuzfahrer werden, ohne dass dieser Widerspruch die Gesellschaft erschütterte? Wie konnten Aristokratien, die auf Blutsbande und den Fronpflichten von Leibeigenen gegenüber dem Leibherrn gründeten, eine Liturgie zulassen, die im Magnificat tagtäglich verhieß, dass die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen erhöht werden? Für Christen, die das Neue Testament ernst nehmen, stellen die Fakten der christlichen Geschichte ein moralisches Problem dar. Für Soziologen sind diese Fakten dagegen überhaupt kein Problem, da die Erfordernisse der Macht je nach Situation und Gesellschaftstypus die religiösen Muster, wie sie in die Ideologie herrschender Eliten eingegangen sind, beugen und verbiegen. Die politische Notwendigkeit wird sich über ein Evangelium, das sich gegen Gewalt ausspricht und von weltlichem Besitz lossagt, hinwegsetzen und nur jene Bilder und Passagen der Heiligen Schrift usurpieren, die den eigenen Zwecken dienlich sind.
Damit habe ich auf meine Eingangsfrage bereits die Antwort gegeben, die allerdings kaum eine Chance hat, akzeptiert zu werden, da sie mit mächtigen ideologischen Narrativen überkreuz liegt, die von einem wesenhaften Zusammenhang von Religion und Gewalt ausgehen. Man kann von westlichen Intellektuellen freilich kaum erwarten, diese Narrative aufzugeben, bieten sie doch eine unerschöpfliche Quelle für Selbstgerechtigkeit und Eigenlob. So entspringt meiner ersten Frage über den Rückfall des Christentums in Gewalt meine zweite: Warum fährt ein so großer Teil der westlichen Intelligenz fort, eine ideologisch aufgeladene Darstellung des Spannungsfeldes von Religion und Gewalt zu verbreiten, obwohl dieses gar kein grundsätzliches Problem darstellt? Wenn wir von schierer Böswilligkeit und intellektueller Inkompetenz absehen, bleibt als Erklärung nur der Widerwille von Naturwissenschaftlern und Publizisten, die Problemstellungen und Praktiken von Wissenschaften zu verstehen, die keine Raketen entwerfen oder Gene manipulieren.
Die offensichtliche Antwort auf meine erste Frage liegt im variablen Verhältnis des Christentums zu besonderen historischen Situationen, spezifischen Formen gesellschaftlicher Organisation und unterschiedlichen Arten von Macht. Man kann die Beziehung des Christentums zu Krieg und Gewalt nicht als Konstante behandeln. Jede Aussage über das Christentum, ganz zu schweigen über Religion, ist anfällig für verbale Taschenspielertricks, ideologische Verzerrung und zirkuläre Argumentationen.
Die Antwort auf meine zweite Frage zur Dominanz ideologischer Narrative ist komplizierter und weniger leicht zu vermitteln. Diese Narrative, die normative Geltung beanspruchen und für westliche Eliten so nützlich und emotional befriedigend sind, und denen jedes soziologische Verständnis der Beziehung zwischen Religion und Gewalt fremd ist, müssen selbst im Kontext historischer Kämpfe um ideologische Vorherrschaft, vor allem in Frankreich, angesiedelt werden.
Es überrascht kaum, dass diese Narrative noch offensichtlicher wahr zu sein scheinen als meine einleuchtende soziologische Antwort. Welcher intelligente Mensch würde auf eine wohlfeile Rhetorik verzichten, die es erlaubt, die Überreste der christlichen Kultur im Namen der Sache des Friedens auf Erden, der wissenschaftlichen Wahrheit und der öffentlichen Tugend zu geißeln und ihre endgültige Entsorgung zu fordern? Wer würde eine so einfache und mit moralischem Pathos aufgeladene Antwort auf eine strittige Frage verwerfen, um sich in einer unabschließbaren und ungewissen Untersuchung zu verlieren, und das in einer sozialwissenschaftlichen Disziplin, für welche die heutigen Kämpfer für die Wahrheit kaum Verständnis oder Respekt aufbringen?
Kontext ist alles, zumindest fast. Es gibt zwei Kritiken am Christentum. Die eine lehnt das Christentum ab, weil es politisch passiv und quietistisch sei und sich daher hinsichtlich der soldatischen und zivilen Tugenden zur Verteidigung des Gemeinwesens sowie des Rechts der Bürger auf gewaltsamen Widerstand gegen den Tyrannen indifferent verhalte. Die andere Kritik lehnt das Christentum ab, weil es die chronische Neigung habe, durch Unterstützung aggressiver Kriege – sei es um der Sache der “christlichen Kultur” willen, sei es im Namen konfessionell verfasster Staaten wie Polen oder Schweden oder christlich definierter Nationen wie den USA – die Erfordernisse legitimer Verteidigung zu überschreiten. Die Frage, warum es zwei einander widersprechende Kritiken gibt, führt uns auf die Antwort: Ob das Christentum als zu aggressiv oder zu passiv abgelehnt wird, hängt davon ab, ob es als ideologische Hauptstütze einer Kultur oder eines Nationalstaates definiert wird oder als Attribut einer unabhängigen Religionsgemeinschaft.
Im Fall des Römischen Reichs konnte dem Christentum vom aufgeklärten Rationalismus, zum Beispiel von Edmund Gibbon in seinem Verfall und Untergang des Römischen Imperiums, vorgehalten werden, die Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbarei anderen überlassen zu haben. Im Fall der sich bekriegenden Stadtstaaten der Renaissance konnten die friedfertigen Enklaven des christlichen Mönchtums vom Fürsten angeprangert werden, sich vor ihren Bürgerpflichten zu drücken. In den Entwicklungsländern von heute können einige Spielarten des Christentums, zum Beispiel die Pfingstbewegung, beschuldigt werden, gegen unterdrückerische Regime nicht zu den Waffen zu greifen, von denselben Leuten, die in anderen Zusammenhängen das Christentum beschuldigen, allzu bereitwillig zu legitimer Gewalt zu neigen. Dem chilenischen Soziologen Claudio Véliz zufolge waren sehr viele Frauen in Lateinamerika mit dem verantwortungslosen Machogehabe ihrer Männer unzufrieden und fühlten sich zur Pfingstbewegung hingezogen, weil diese an die Stelle des gewalttätigen Lebens auf der Straße das Leitbild der friedlichen häuslichen Tischgemeinschaft setzte. Einige Männer waren nur allzu erleichtert darüber, domestiziert zu werden und ihre Kalaschnikows einmotten zu können und so die friedliche Vision Jesajas zu verwirklichen, Speere in Rebmesser zu verwandeln. Aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten erwachsen unterschiedliche Narrative über Christentum und Gewalt. Diese wandeln sich im Übergang von einem heidnischen Reich zu den katholischen Kulturen des Mittelalters und der Renaissance bzw. vom frühmodernen Konfessionsstaat zu transnationalen Gemeinschaften, wie sie die Pfingstbewegung verkörpert. Eine ernsthafte Diskussion von Religion und Gewalt verlangt also nach systematischen, kulturübergreifenden Vergleichen, doch fehlen diese in der zeitgenössischen Debatte nahezu vollständig.
Meine Erörterung kreist um das Auftreten eines aggressiven “neuen Atheismus”, die das negative Narrativ dem positiven vorzieht, und dies aus einem “wissenschaftlichen” Blickwinkel, der aller Normen sozialwissenschaftlicher Untersuchung spottet. Daher bin ich gezwungen, auf den Unterschied zwischen Aussagen von Naturwissenschaftlern über die physische und biologische Welt und solchen von Sozialwissenschaftlern über die menschliche Welt einzugehen. Die menschliche Welt lässt sich wissenschaftlich nur verstehen, wenn man Mittel und Zwecke, Bedeutungen, Motive und Intentionen versteht, da sich diese in stark abweichenden Kontexten unterschiedlich ausprägen. Die der Sozialwissenschaft angemessene Kausalargumentation folgt einer anderen Ceteris-paribus-Klausel als die Naturwissenschaft, da es die Sozialwissenschaft mit Subjektivität zu tun hat und deshalb mit der schieren Besonderheit und Kontingenz der Geschichte und des historischen Ortes.
Doch die “neuen Atheisten” beharren darauf, vermischte Fallbeispiele von Religion und Krieg anzuführen, die verschiedenen Epochen, unterschiedlichen Gesellschaftstypen und vom Kontext abstrahierten Situationen entnommen werden, solange sie nur zur Illustration ihrer Behauptungen taugen. Arglist wird als Heldentat moderner Wahrheitskämpfer1 beklatscht. Die neuen Atheisten zollen der konstruierten und historisch eingebetteten Natur der verwendeten Kategorien kaum Aufmerksamkeit, namentlich “Religion” und “Wissenschaft”, und sie vermeiden erfolgreich jede nuancierte Untersuchung des Ausmaßes und der Art religiöser Verwicklung in Krieg und Gewalt, scheren also etwa die Tempelrittern des Jahres 1320 und die Quäker von 1820 über einen Kamm. Vor allem versäumen sie zu untersuchen, warum sich etwa Christentum und Buddhismus in ihren Ursprüngen und Gründungsschriften zur Gewaltlosigkeit bekennen und doch an anderer Stelle Gewalt mit offenbar ungebührlichem Enthusiasmus begrüßen, abgesehen von der banalen Beobachtung, dass Christen oder Buddhisten, einmal an die Macht gelangt, einen anderen Ton anschlagen. Jene Christen, die im Rom Konstantins in Machtpositionen aufrückten, waren doch nicht dieselben Leute, noch entstammten sie derselben Gesellschaftsschicht wie jene, die unter verschiedenen Kaisern von Nero bis Diokletian verfolgt worden waren.
Es ist befremdlich, wenn eine öffentliche Debatte unter “Wissenschaftlern” mit ähnlichen Fertigrezepten, rhetorischen Tricks und Gladiatorenkämpfen unter Berühmtheiten aufwartet, wie sie für die heutigen Massenmedien charakteristisch sind. Es ist merkwürdig, dass der gegen die Religion erhobene Vorwurf der Gewalttätigkeit einem Standpunkt zu entspringen scheint, der die Bergpredigt zum Richtmaß der Kritik nimmt. Ich glaube keinen Moment, dass Neoatheisten wie Richard Dawkins in der Bergpredigt eine persönliche Lebensregel erkennen, auch wenn sie ihnen als eine der am wenigsten “anstößigen” Passagen der Schrift gilt. Will sagen, sie sprechen so, als stimmten sie, und alle anderen aufgeklärten Menschen, der Auffassung zu, dass Krieg uneingeschränkt böse sei, in einer Weise, die sich dem klassischen christlichen Pazifismus annähert und die aus dem Prestige, das die Bergpredigt genießt, zusätzliche Überzeugungskraft zieht.
Sie tun dies ohne jegliche rationale Erwägung über die Angemessenheit der jeweiligen Kriegsgründe, ob man diese nun in der Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbarei, im Sturz einer Tyrannei oder in der Verteidigung des Staates gegen beutegierige Invasoren sucht. Schlimmer noch, sie gehen mit sorgloser Gleichgültigkeit gegenüber den Erkenntnissen der Naturwissenschaften ans Werk. Erklärt nicht die Biologie den Überlebenskampf zur empirischen Norm der biologischen wie der sozialen Welt, so dass es an seiner Vorherrschaft in allen Machtdiskursen, seien sie religiöser oder anderer Art, empirisch nichts Überraschendes oder moralisch Empörendes geben kann? Es ist höchst paradox, dass die neuen Atheisten, allen voran Richard Dawkins, die Unvermeidlichkeit des Überlebenskampfes empirisch dokumentieren und verkünden, die Religion bringe unvermeidlich Unheil, gleichzeitig aber diese quasi-natürlichen Phänomene moralisch beklagen, als ob sie an die Willensfreiheit glaubten und nie von Kants Diktum gehört hätten, dass Sollen Können voraussetzt. Man schilt ein Auto nicht unmoralisch, weil es nicht anspringen will.
Das Niveau dieser öffentlichen Debatte sinkt noch weiter, wenn Leuten im Namen der Wissenschaft auftreten, dabei aber die Normen der Sozialwissenschaft ignorieren und es versäumen, angemessene Gründe für Gewalt zu spezifizieren. Im öffentlichen Meinungsstreit lässt man “wissenschaftlichen” Berühmtheiten verbale Gewalttätigkeit durchgehen und ermutigt sie noch, nach Gutdünken jenseits ihrer Kompetenzsphäre zu marodieren. Angesichts dessen möchte ich hier die rhetorischen Schachzüge der Teilnehmer an dieser Debatte freilegen, namentlich der neuen Atheisten, die nur allzu gut zum neuen Kriterium der “Öffentlichkeitswirkung” passen, nach dem die Forschungsergebnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften neuerdings evaluiert werden.
Ich argumentiere, dass diese nicht-positivistischen Wissenschaften Bedeutungsbereiche einschließen, in denen die unverkennbaren Wahrheiten der menschlichen und sozialen Existenz aufscheinen. Diese sind Gegenstand der Wissenschaften, die sich mit der Geschichte, der Kunst und Literatur und den Theologien der großen Weltreligionen befassen. Ich konzentriere mich hier auf jene Art von Wahrheit, die in der moralischen Lehre der Gewaltlosigkeit erscheint, wie sie sich in den Urschriften des Christentums findet, vor allem in der Passionsgeschichte. Dieses Narrativ leitet sich unmittelbar aus der Bergpredigt ab und bietet sich zur Untersuchung an, weil sich die ganz eigene Gewaltproblematik christlicher Gesellschaften am besten im Konnex von Bergpredigt und Passion erschließt.
Dies ist so, eben weil das Neue Testament den Notwendigkeiten des Überlebenskampfes, die von den Sozialwissenschaften wie von der Biologie aufgezeigt werden, zuwiderläuft. Mörderische Kämpfe und die damit verbundenen Kodizes zur Wahrung des Gesichts und der Ehre ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte und geben keine Rätsel auf. Doch die Lehre der Gewaltlosigkeit, wie sie das Christentum verkündet, widerspricht ihnen. Der Kampf kann als selbstverständlich betrachtet werden, Gewaltlosigkeit aber bedarf der Erklärung. Die Gewaltlosigkeit in der Bergpredigt, die in der Passionsgeschichte ihre Fortsetzung findet, ist die schwierigste Herausforderung des Christentums angesichts der offenkundigen Konsequenzen, die ihre Verwirklichung für die Aufrechterhaltung einer zivilisierten und halbwegs friedlichen Existenz, ja des Fortbestands des Christentums selbst hat, in einem Europa, das über ein Jahrtausend lang von feindseligen Invasoren bedroht war.
Es ist nicht im mindesten überraschend, dass das ursprüngliche Christentum Verhandlungs-, Kompromiss- und Assimilationsstrategien entwickelte, sobald es sich in Gesellschaften auszubreiten begann, die von Machtdiskursen und Ehrenkodizes gekennzeichnet waren. Ich konzentriere mich bei der Untersuchung dieses Prozesses auf die Feudalmonarchie und die frühe Moderne. Im Verlauf der Geschichte war es unvermeidlich, dass sich die christliche Kirche jenen Teilen ihres Schriftrepertoires zuwandte, die sich mit den Gesellschaftstypen, in denen sie Macht ausübte, am besten vereinbaren ließen, und sie fand diese am häufigsten im Alten Testament, obwohl sich auch Passagen aus Paulus und den Pastoralbriefen als hilfreich erwiesen. Abgesehen vom Vollzug der Liturgie, die in den Schleier einer klassischen Sprache gehüllt blieb, verlagerte sich bei der Darstellung des Christentums das Gewicht oft zum Alten Testament. Herrscher modellierten ihr Selbstverständnis eher nach dem Bild Salomons, Davids, Hiskijas oder Joschijas als nach der Figur eines gekreuzigten Verbrechers.
Arten der Wahrheit
Einer der wichtigsten Einwände gegen die Religion richtet sich gegen den ausschließlichen Wahrheitsanspruch, der den großen Weltreligionen scheinbar innewohnt, und dessen Folgen für ein friedliches Zusammenleben. Doch die Vorstellung von Wahrheit und Unwahrheit entstand erst in einer sehr späten Phase der Entwicklung des religiösen Bewusstseins und kann nicht der Religion im Allgemeinen zugeschrieben werden. Darüber hinaus ist der Wahrheitsbegriff ein zweischneidiges Schwert, das nicht nur gegen Götzendiener gerichtet werden, sondern das auch dazu eingesetzte werden kann, die Idee zu etablieren, dass es Kriterien gibt. Dieser Aspekt ist wichtig, weil sich diese Kriterien auf Arten der Wahrheit und Unwahrheit beziehen, die sich stark von jenen in den Naturwissenschaften unterscheiden, ungeachtet dessen, dass eine genealogische Verbindung zwischen dem späten Auftauchen der Idee religiöser Wahrheit und dem noch späteren Aufkommen der Idee wissenschaftlicher Wahrheit bestehen mag. Es ist ein Paradox, dass sich die Kritiker der Religion als Vertreter einer unzweideutigen Wahrheit präsentieren, wie sie den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaft eigen ist, unter Ausschluss anderer Arten der Wahrheit. Auch sie ergötzen sich an der Erhebung ausschließlicher Wahrheitsansprüche und an einem Selbstbild als Krieger, Helden und Märtyrer um der Sache der Wahrheit willen. In jüngster Zeit hatten religiöse Menschen unter dem Eifer derjenigen zu leiden, welche die Wahrheit auf den von den Wissenschaften vertretenen Wahrheitstypus beschränken. Das Konzept der Wahrheit ist aber ein zweischneidiges Schwert in jedem Zusammenhang, nicht nur im Kontext religiöser Aussagen.
Gegen die missionarischen Wahrheitskämpfer möchte einwenden, dass es vielfältige Arten von Wahrheit und nicht-naturalistische Folgeketten gibt. Wir begegnen ihr zum Beispiel in der literarischen Erzählung, in der Tragödie und in der Geschichtsschreibung. Die Art der nicht-naturalistischen Wahrheit, die sich im Christentum ebenso wie im Buddhismus und in einem gewissen Maße auch in anderen Religionen der Achsenzeit findet, läuft den Realitäten zuwider, wie sie vor allem die Biologie, aber auch die Sozialwissenschaften beschreiben. Diese Wissenschaften zeigen, dass der Kampf um Vorherrschaft und die mit ihm verbundenen Kodizes der Ehre den Normalzustand der menschlichen Gesellschaft darstellen, durchaus auch als Folge des Imperativs sozialer Solidarität.
Das Christentum entfernt seine Anhänger, besonders jene, die seinen Prinzipien beharrlich folgen, von den empirischen Gegebenheiten “der Welt”, verstanden als ein Reich, das von “den Gewalten und den Mächten” regiert wird, wie es im Neuen Testament heißt. Die chronische Disparität einer Welt, die vorübergehend unter der Herrschaft “Satans” steht, bringt die Vorstellungen der Versuchung und des Bösen hervor – von daher die Bitte: “führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen”. Eigentümlicherweise nimmt in den moralischen Urteilen, die Richard Dawkins gegen die Religion schleudert, diese Vorstellung des Bösen eine zentrale Stellung ein. Die neuen Atheisten haben es aus seiner religiösen Matrix gelöst, ohne dass ihnen seine Herkunft und seine schreiende Unvereinbarkeit mit ihrem eigenen philosophischen Positivismus aufgefallen wären. Zudem haben sie eine Hauptquelle des Bösen gerade in jener prophetischen Tradition ausfindig gemacht, die es durch die Hinwendung zur Transzendenz ursprünglich bloßstellte. Naiv nehmen sie an, dass alles so viel besser wäre, würde das Übel der Religion nur beseitigt und erlaubte man dem natürlichen Guten im Menschen, sich auszudrücken und zu entfalten, obwohl er doch ihren eigenen wissenschaftlichen Prämissen zufolge vom Kampf ums Überleben getrieben ist. Aus dieser Auffassung bezieht die moralische Brandmarkung der Gläubigen ihren Sinn, und aus ihr schöpft auch der Optimismus jener Kampagne, die Busse mit der Botschaft “Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Also mach’ dir keine Sorgen und genieße dein Leben” durch London fahren lässt – ganz im Sinne des von den Neuen Atheisten verkündeten Programms materieller, durch die Macht und technische Dominanz der Wissenschaft gesicherter Erlösung, das einem Auguste Comte zur Ehre gereicht hätte.
Nicht-naturalistische Diskurse stützen sich nicht auf hypostasierten Entitäten, sondern auf den Reichtum von in einen bestimmten historischen und kulturellen Kontext eingebetteten verbalen Zeichen und auf die innere “Logik der Situation”. Ich komme nun auf die Wahrheitsmodi, die diesen Diskursen, einschließlich jenem des Christentums, innewohnen, und wende mich zuerst den auf Religion und Gewalt bezogenen Wahrheiten der Passionsgeschichte zu, die im christlichen Evangelium eine zentrale Stellung einnimmt. Das Christentum verkörpert seine “Wahrheit” in verdichteten Zeichen innerhalb vielschichtiger Erzählungen, zum Beispiel in Form des Kreuzes, verstanden als Zeichen im Zentrum der Leidensgeschichte. Hier geht es um die Art von Wahrheit, wie sie in den kerygmatischen Narrativen eines Glaubens wie dem christlichen erscheint. Eine solche Wahrheit entspricht nicht jenen Arten sich wechselseitig ausschließender Wahrheiten, die auf einem Diskurs über klar umrissene empirische Entitäten und ihre Eigenschaften basieren.
Der christliche Glaube gründet in einem Narrativ (und den mit ihm verbundenen Zeichen), das ein moralisches Gravitationszentrum hat, dem ein organisches Spektrum von Interpretationspotentialen entspringt und das, entsprechend den verschiedenen Situationen und Gesellschaftstypen, mit denen es in Kontakt kommt, kontingente Aneignungen hervorbringt. Der Feudalismus ist ein solcher Gesellschaftstyp, der Industriekapitalismus ein anderer. Die Unterscheidung zwischen organisch und kontingent lässt sich nicht durch abstrakte und rationale Kriterien abgrenzen, sondern nur, indem man die Wege verschiedener sozial-moralischer Logiken und ihre wechselseitigen Beziehungen und Wahlverwandtschaften nachzeichnet. Und was das bedeutet, lässt sich nur klären, indem man konkret die “Logik” der organischen Potentiale nachverfolgt und dann die Logik der kontingenten Aneignungen. Das ist eine schwierige Aufgabe, die sich gänzlich von stipulativen Definitionen, was als reales oder wahres Christentums zu gelten habe, unterscheidet.
Wir haben es hier nicht mit wahr oder falsch in diesem irrelevanten Sinn zu tun, sondern mit sich überlappenden Logiken, von denen einige in enger Beziehung stehen und andere weniger. Sobald man versteht, was mit einem moralischen Gravitationszentrum gemeint ist, erkennt man, dass diese Logiken einen begrenzten Geltungsanspruch erheben und sich in einer Weise überlappen, dass sie sich keineswegs gegenseitig ausschließen. Schon allein diese disjunktive Logik gehört einer ganz anderen Art von Wahrheit an, und das bedeutet, dass es wirklich ausgesprochen simplistisch ist, zu argumentieren, das Feld der “Religion” (womit hier die spezifisch achsenzeitlichen Religionen gemeint sind) wimmle grundsätzlich von unvereinbaren Wahrheitsansprüchen. Alternative Zentren moralischer Schwerkraft, wie sie sich im Islam und im Konfuzianismus finden, unterscheiden sich deutlich voneinander, doch gleichzeitig überlappen sie sich und durchdringen einander.
Innerhalb jedes der verschiedenen moralischen Gravitationszentren gibt es variierende Artikulationen des Raums zwischen zeitlosem Sein und dem Werden, wie es die Menschen unter dem Druck der Zeit erfahren, der sich besonders in der Endlichkeit des Lebens und in den Erwartungen eines eschatologischen Gerichts äußert. Die Haupttraditionen enthalten Elemente von beidem, und den weitesten Abstand zwischen ihnen könnte man vielleicht zwischen einem Christentum erkennen, dessen Sorge um den moralischen Werdegang unter dem Druck der knappen Zeit kreist, und chinesischen Denkweisen, die die Zeit in den Freuden moralischer und ästhetischer Kontemplation arretieren. Die christliche Tradition oszilliert zwischen Antizipationen eines durch die Macht Gottes herbeigeführten Königreichs und seltenen Versuchen, Hierarchie- und Machtstrukturen durch die exemplarische Gewalt einer Revolution zu beseitigen, während die chinesischen Traditionen vermittels eines Konzepts der Harmonie, das Selbstbeherrschung voraussetzt, danach streben, Hierarchie und Gewalt gleichzeitig zu kontrollieren und zu legitimieren. Dies erzeugt innerhalb dieser beiden Traditionen unterschiedliche Balancen zwischen Sein und Werden. In der christlichen gibt es vorübergehende Ruheorte für die Erfahrung und Erkundung des Seins, welche die Form ästhetischer Kontemplation oder von Andachtstechniken in der asketischen Tradition annehmen können. Die Besuche der “lieblichen Berge”, wie Bunyan es nennt, sind keine endgültigen Ruhepunkte, sondern bieten dem Pilger Erfrischung und versichern ihn dessen, was erlangt werden kann, wenn der spirituelle Krieg der irdischen Pilgerschaft an sein endgültiges Ende gelangt. Die Pilgerschaft des Glaubens und der Hoffnung wird tragische Begegnungen mit der Verzweiflung, der Schuld, mit Pathos und Bathos hinsichtlich des Abstandes zwischen dem Erstrebten und dem Erreichten mit sich bringen, woraus ein Drama des Gerichts und der Vergebung und chronische Abstürze in den Abgrund des Nichtseins entspringen. Diese Art des spirituellen Dramas des Werdens ist in der chinesischen Kultur eher selten.
Zwischen Liebesgebot und Ehrenkodex
Die entscheidenden Unterschiede zwischen den moralischen Gravitationszentren treten am klarsten im Hinblick auf die Diskurse von Macht und Gewalt hervor. Diese Diskurse sind tief in die menschliche Gesellschaft eingebettet und werfen ein besonders deutliches Licht auf die hier behandelten Probleme. Wenden wir uns dem moralischen Gravitationszentrum des Christentums, der Passionsgeschichte zu, um die Beziehungen zu erforschen, die es, organisch und kontingent, zu Machtdiskursen erzeugt. Mein besonderes Interesse gilt dabei der Spannung zwischen allem, was die Gewaltlosigkeit der Bergpredigt, die sich in der Leidensgeschichte verwirklicht, impliziert, und dem Ehrenkodex im Herzen des Feudalismus und natürlich vieler anderer Gesellschaftstypen. Das ausdrückliche Verbot eines Ehrenkodex im Christentum lässt sich als sein spezifisches Verständnis der Integrität des gewaltlosen christlichen Subjekts verstehen. Die Integrität und moralische Verantwortung des von Jesus verkörperten gewaltlosen christlichen Subjekts macht die Beziehung des Christentums zu Gesellschaften, in denen “Ehre” einen zentralen Platz einnimmt, besonders spannungsgeladen. Diese Spannung ruft nach Strategien der Verhandlung und vorläufigen Versöhnung.
Damit gehen wir über Max Webers Darstellung der Spannungen zwischen wirtschaftlicher, politischer, ästhetischer und erotischer Sphäre hinaus, um den durch die Kürze der Zeit und das drohend nahe Gericht ausgeübten Druck auf die Selbstformung zu erkunden. Dem Evangelium zufolge “kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann”, doch in der Zwischenzeit arbeiten wir besessen daran, uns Rechenschaft abzulegen, um die “nutzlose traurige Zeit, / Die vorher sich dehnt und danach”, zu erlösen.2 In dem Gedicht “Dreams Before Sleeping” legt Clive James in lapidaren Sätzen Rechenschaft ab über seine Verluste und Missgeschicke, ein “Bett aus Nägeln, das du bereitet hast / und auf dem du nun liegen musst”, und verwandelt so sein Versagen in dauerhafte Dichtung.3 Das ist die ästhetische Lösung, die einige ihr Leben lang verfolgen. Die seidenen Fäden dieser Logik moralischer Konsequenz sind ganz anders beschaffen als die harten materiellen Kausalketten, die sich in der Naturwissenschaft finden.
Kunst und Literatur in christlichen Kulturen beschäftigen sich beharrlich mit der Verderbnis, die sich einstellt, wenn die moralische Verantwortung versagt, und mit den scheinbar trivialen ersten Schritten, die den Christen schließlich in einen moralischen Abgrund stolpern lassen, wo er sich von sich selbst und Gott entfremdet. Pakte werden geschlossen, deren Preis zunächst klein erscheint, die dann aber unversehens ungeheure moralische Schulden auftürmen, die weder zu begleichen noch zu ertragen sind. Zu den klassischen Beispielen gehört Marlowes Doktor Faustus, der verzweifelt ausruft: “Sieh, wie’s da oben wogt von Christi Blut!”, Berlioz’ La damnation de Faust und der Lebensweg Tom Rakewells in Strawinskys The Rake’s Progress. Der chronisch in der Schuld stehende Christ lebt in zwei Welten mit unvereinbaren Bezugsrahmen, die einen Zustand schaffen, den man als moralische Zerrüttung bezeichnen könnte. Genau hier spielen sich die Dramen der Beichte und Erneuerung ab. In vielen modernen Versionen gibt es nur Verderben ohne Erlösung, eine Form der katharsislosen Tragödie, die Shakespeare mit Antonius und Cleopatra und Troilus und Cressida vorweg genommen hat.
Betrachten wir nun einen entscheidenden Wendepunkt der Passionsgeschichte: den Judaskuss. Dieser Cameo-Auftritt ist keine Aussage über die Beziehung zwischen Entitäten, rerum cognoscere causas, sondern eine Begegnung, die wir aus der Logik der Situation heraus verstehen. Soziologisch gesprochen setzt hier die klassische Webersche Methode des Verstehens ein, nur dass Verstehen keine Besonderheit der Soziologie ist. Wir verstehen in genau der gleichen Weise, wenn wir untersuchen, worum es in dramatischen Darstellungen, zum Beispiel bei Shakespeare oder Ibsen, geht und ebenso in religiösen Narrativen. Wir “verstehen”, ob wir nun Daten der Soziologie betrachten, die Schlussszenen von König Lear oder Antonius und Cleopatra, Tizians letztes Gemälde der Pietà oder die letzten Kapitel des Evangeliums. Die Soziologie ist zutiefst mit den Geisteswissenschaften verbunden, einschließlich der Theologie. Manche Soziologen lehnen jede solche Verbindung ab, vielleicht aus der Statusangst heraus, Wesen und Reinheit ihres naturwissenschaftlich verstandenen wissenschaftlichen Strebens zu kompromittieren. Diese Statusangst ist komplementär zum Widerwillen der Naturwissenschaftler, sich auf Probleme und Praktiken der Sozialwissenschaft einzulassen.
Der Judaskuss steht für einen Akt des Verrats, vollzogen durch einen Akt der Liebe. Er leitet die Verhaftung eines wehrlosen Unschuldigen durch die korrupten Kräfte staatlicher Gewalt “mit Schwertern und Knüppeln” ein. Die Gefangennahme Jesu ist ein Wendepunkt in der Erzählung, weil sich dadurch die dem Opfer zur Verfügung stehenden Optionen drastisch verringern. Um seine Integrität zu wahren, muss das gewaltlose christliche Subjekt das Risiko seiner Vernichtung akzeptieren, denn die Ausübung des Willens zur Macht und die Anwendung materieller Gewalt würde seine Integrität in Frage stellen und seine Erlösung vereiteln. Der Imperativ der Gewaltlosigkeit wird in der Bergpredigt verkündet und in der Passionsgeschichte verwirklicht, was bedeutet, dass George Bernard Shaws Unterscheidung zwischen Christentum und Kreuzestum (crosstianity) das innere Band zwischen Wort und Tat übersieht, zwischen der Predigt und dem moralischen und existentiellen Drama der Erlösung.4 Dieses Drama ist ein Abstieg in die Beschränkung, ohne die es keinen Aufstieg zur Herrlichkeit geben kann: ohne Kreuzigung keine Auferstehung. Glaubensbekenntnis und Schrift stimmen überein: “Der hinuntergefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist…” Demut und Glorie sind so eng verbunden wie Predigt und Sühne.
Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Wahrheit ist eng verknüpft mit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Kausalität: Es gibt Beziehungen von Ursache und Wirkung, die dem Reich der physischen Natur angehören, und Beziehungen von Intention und Folge, die zu den moralischen Anliegen gehören, die wir uns zu eigen machen, den Zwecken, die wir verfolgen, und den Mitteln, die wir dazu wählen. Die chronische Verwirrung zwischen dem Diskurs von Ursache und Wirkung und dem Diskurs der Intentionalität geht auf eine noch grundlegendere Verwirrung im Spätmittelalter zurück: zwischen Gott, verstanden als ein Faktor innerhalb des Ganzen der Ursachen, und Gott, verstanden als der transzendente Grund allen Seins – ein Verständnis, dem wir in der Debatte zwischen Richard Dawkins und dem Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, begegnet sind. Die Logik der Kausalität wird im Reich der Intentionalität beständig falsch angewandt, und die daraus folgende Verwirrung hat die Praxis der heutigen Geisteswissenschaften bis zu einem Punkt verzerrt, dass die Verteidigung der Theologie zu einer Verteidigung der Geisteswissenschaften geworden ist und umgekehrt. Das Paradox der Soziologie besteht natürlich darin, dass sie Erstere berücksichtigen und Letztere verstehen muss.
Fünf Schlüsselpassagen der Passionsgeschichte exemplifizieren die Folgerichtigkeit und Reinheit der Zwecke Jesu, der stets der Versuchung ausgesetzt ist, zu Gewalt Zuflucht zu nehmen. Da ist die Ablehnung der zwei Schwerter mit den Worten “Es ist genug”; die Heilung der Wunde, die Petrus dem Diener des Hohepriesters beibringt; der Verzicht auf “mehr denn zwölf Legionen Engel”, um sich der Gefangennahme zu entziehen; das Schweigen Jesu im Gerichtssaal auf Pilatus’ Frage “Was ist Wahrheit?”; und der verzweifelte Ausruf am Kreuz: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”. Der Verzweiflungsschrei repräsentiert die äußerste Grenze der frei gewählten Selbstverleugnung als Preis der Gewaltlosigkeit: Die Lotschnur der Erlösung reicht bis tief hinunter, um die ganze Fülle menschlicher Erfahrung zu umfassen, einschließlich der Abwesenheit Gottes. Die Bedeutung des Schweigens Christi auf die Frage “Was ist Wahrheit?” liegt genau in der Art von Wahrheit, die Jesus repräsentiert, nämlich jener Wahrheit, die den Menschen noch unter größtem Zwang befreit. Sie gehört zur Kategorie der Existenz und Freiheit des Geistes, wie sie der Ausspruch “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben” (Joh 14:6) verdeutlicht, statt in die Kategorie der Kausalität, wo Wahrheit eine Eigenschaft ist, die starren Kausalitätsketten innewohnt.
All unsere Lebensentscheidungen gehören zur Kategorie der Existenz und der Freiheit des Geistes und liegen deshalb jenseits der empirischen Wahrheit, ohne dieser zu widersprechen. Sie fordern Kosten und bringen Nutzen, entsprechend einem moralischen Kalkül, zu dem die Diskurse der Tragödie gehören, ob der historischen, literarischen, psychologischen oder theologischen. Niemand kann diese Diskurse als “abergläubisch” abkanzeln, da Aberglaube ein Resultat missverstandener Kausalität ist, während die Tragödie aus Lebensentscheidungen entspringt, die von Konsequenzen, Dilemmata und Beschränkungen umschrieben werden. Die Soziologie ist ebenso sehr die Analyse von Beschränkungen wie die Theologie. Darüber hinaus werden, unter dem Druck der Kürze der Zeit, existentielle Wahrheiten dringlich und verlangen nach Lösung, was im Evangelium die Form der Eschatologie und des unmittelbar drohenden göttlichen Gerichts annimmt, in der menschlichen Erfahrung jedoch die Form der tödlichen Gefahren der Kontingenz und des ungewissen Intervalls zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und dem Tod.
Dieses verdichtete und paradigmatische Narrativ mit seinen dichten Zeichen, allen voran das Zeichen des entkleideten und gedemütigten Leibes in den Händen der Staatsmacht und einer korrupten Justiz, wurde in Gesellschaften eingeschleust, die von Ehrenkodizes beherrscht waren, wie etwa die Feudalgesellschaft zur Zeit der Kreuzzüge. Das “göttliche Antlitz” traf auf Gesellschaften, denen die Gesichtswahrung durch das Schiedsgericht der Gewalt jeder sozialen Beziehung eingeschrieben war. Das ist der Grund, warum in solchen Gesellschaften Beleidigung gewalttätige Handlungen gegen den Körper auslöst bis hin zu Kastration und dem Herausreißen der Eingeweide des Übeltäters, und warum ein Ehebruch Mord nach sich zieht. Die Spannung zwischen diesen beiden moralischen Systemen erfordert zwangsläufig Strategien der Verhandlung und partiellen Versöhnung.
Das größte Paradox ist wohl jenes, das den Kritikern als wichtiges Beweisstück für das kriegerische Wirken des Christentums dient: Bei den Kreuzzügen ging es darum, gewaltsam heiliges Land zu erobern, im Namen eines Glaubens, dessen paradigmatischer Diskurs sowohl Landeigentum als auch Gewalt ablehnt. Es ist völlig korrekt, dieses Paradox zu konstatieren, aber es ist ein Fehler, seine Bedeutung als Angelpunkt für die Verhandlung zwischen einem gewaltlosen Diskurs und den Erfordernissen des Kriegskodex zu übersehen, zwischen dem Blut, das in einer persönlichen Opferhandlung zur Stiftung einer Bruderschaft des Friedens hingegeben wird, und dem Blut, das von Waffenbrüdern vergossen wird.
Wir können die Verhandlung und Milderung der Spannung zwischen dem Diskurs der Gewaltlosigkeit und dem patriarchalischen Ehrenkodex in den Feudalbeziehungen der Renaissance und der Ritterehre nachverfolgen, wie wir sie in Shakespeares Heinrich V. und anderen frühmodernen Bühnenklassikern finden. In Heinrich V. wird der König als jemand dargestellt, der zwischen unterschiedlichen moralischen Strategien wählt, wobei es entscheidend auf Verhandlungen zwischen feudalen Ehren- und Kriegskodizes und den ganz anderen Imperativen des Christentums sowie den kompatibleren moralischen Modellen des Alten Testaments ankommt. Das Alte Testament wird evoziert, nachdem Heinrich in der Schlacht von Agincourt über die Franzosen triumphiert hat, wenn er dem “Gott der Schlachten” dankt und befiehlt, “Non nobis domine” anzustimmen, womit er den Sieg Gott zuschreibt statt englischer Tapferkeit. An anderer Stelle bietet Heinrich den Bürgern von Harfleur eine berechnende Version des Christentums, indem er ihnen Gnade verspricht, wenn sie sich ergeben, aber unbarmherzige Gewalt, falls sie sich weigern. Heinrichs Verhalten schwankt auch zwischen einer utilitaristischen Ethik, deren Zweck die Beugung unter die englische Herrschaft ist, weil diese Frieden durch Gerechtigkeit und Gnade erstrebt, und einer durch die Angst vor einem französischen Gegenangriff ausgelösten Gewaltorgie gegen Gefangene.
Vielleicht tritt die Spannung zwischen Christentum und frühmodernem Moralcode am krassesten zutage, wo sich Monarchen unterschiedlicher biblischer Bilder bemächtigen und sich Analogien zwischen biblischer Vergangenheit und der eigenen Gegenwart zunutze machen. Es war zum Beispiel recht einfach für Heinrich VIII., sich als Salomon darzustellen, oder für Edward VI., sich bei seinen protestantischen Reformen in der Rolle des biblischen Reformers König Joschija zu sehen, oder – wie es Marvell in seinem Gedicht “The First Anniversary” tat – Oliver Cromwell als Gideon und als Dornbusch zu porträtieren, der einwilligt, König der Bäume zu werden (Richter 9:8-14). Es war jedoch für Monarchen weit weniger leicht, Christus zu imitieren. Ein gewaltloser, von ordentlich eingesetzten Autoritäten verurteilter und hingerichteter Prediger hatte für den Renaissancefürsten von Gottes Gnaden wenig Anziehendes. Richard II. in der Darstellung Shakespeares und Karl I., wie ihn die zeitgenössische Ikonographie darstellt, verbinden sich mit einzelnen Elementen der Passionsgeschichte, nicht aber mit dem Gekreuzigten. Shakespeares Richard II. beklagt in seiner höchsten Not, dass er von mehr Verrätern verfolgt werde als Christus, jeder von ihnen schlimmer als Judas. (Königin Elisabeth erkannte in Shakespeares Darstellung Richards ein Abbild ihrer eigenen prekären Lage und war alles andere als erfreut.) In Eikon Basilike wird Karl I. als Christus in Gethsemane dargestellt, aber dies ist schwerlich eine frei gewählte “Passionsgeschichte”.5 Diese Beispiele bringen die tiefe Unvereinbarkeit zwischen dem gewaltlosen Opfer im Zentrum der Passionsgeschichte und den feudalen und frühmodernen Machtdiskursen zum Vorschein. Der frühmoderne Monarch nutzte Analogien zum Gekreuzigten nur notgedrungen und dann auch nur partiell. Die Stuart-Könige erwarteten und bestanden auf Gewaltlosigkeit gegenüber dem von Gott eingesetzten Monarchen, aber sie erwogen keinen Augenblick, ihrerseits Gewaltlosigkeit gegen Rebellen zu üben. Sie verstanden die Wechselseitigkeit der Gewalt als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, während die Wechselseitigkeit der Gewaltlosigkeit einem Königreich “nicht von dieser Welt” angehört, so Jesus unter der Befragung durch Pontius Pilatus.
Das Narrativ des Evangeliums folgte von der Bergpredigt an der Logik der menschlichen Wechselseitigkeit auf eine Weise, die gegenüber der Logik der Macht gleichgültig war, obwohl es den Herrschenden in “Synagoge und Staat” bedrohlich genug erschien, um das Drama der Passion ins Werk zu setzen. Es triumphiert über die Abhängigkeit von weltlicher Habe, wie sie in der Geschichte des reichen Jünglings dargestellt wird. Die in Christus verkörperte Wechselseitigkeit stellt eine Herausforderung für die in soziale Hierarchien organisierte Gesellschaft dar, indem sie von ihren Jüngern verlangte, “niemanden auf Erden Vater zu nennen”, damit alle eins seien, so wie Christus in der wechselseitigen Liebe eins mit seinem Vater war. Christus stellte die geltende Hierarchie auf den Kopf, als er die Füße der Jünger wusch, um zu zeigen, dass “der Erste unter euch” der “Diener aller sein” sollte. Kirche und Staat übernahmen dies in der Liturgie der Fußwaschung am Gründonnerstag, wenngleich die englische Monarchie den verbliebenen Stachel der Rollenumkehr erfolgreich beseitigte, indem sie die Geste in eine königliche Geldauszahlung umwandelte. George Fox, einer der Gründerväter der Quäker, verstand die Wechselseitigkeit, die vom Evangelium in Missachtung der eingesetzten Mächte verlangt wurde, sehr gut, doch selbst seine Bewegung entging nicht ganz den Imperativen der wirtschaftlichen Macht, wenn wir an die Gründung der Barclays Bank 1690 denken. Gleichwohl blieb die radikale Version des Christentums in die Ikonographie der Macht eingebettet, zum Beispiel in der Pietà, im Jüngsten Gericht des romanischen Tympanons, in der Verehrung Maria Magdalenas und in den kommunitären Bewegungen, die in der Christenheit Zeitbomben deponierten, die auf günstige Momente, Spannungen und soziale Brüche warten mussten, um schließlich – häufig außerhalb der Grenzen der Kirche – ihre Sprengkraft freizusetzen. Freilich erzeugte selbst die radikale Tradition ihre eigenen Pathologien, zum Beispiel in den langfristigen Folgen dessen, was Charles Taylor die “Wende zum Selbst” genannt hat.6
Von Zeit zu Zeit und vielleicht in zunehmendem Maße im Verlauf des 18. Jahrhunderts griff man bei der Aneignung exemplarischer Gestalten der Vergangenheit nicht nur auf die Bibel zurück, sondern bediente sich auch bei der klassischen Mythologie, zuweilen gleichzeitig, wie in Händels Oratorium Hercules oder in der Ikonographie der Decken des Banqueting House in Whitehall und des Klosters Benediktbeuern. Eine bedeutende Veränderung ereignete sich, als die englischen Puritaner sich den antimonarchistischen Zug im Bund zwischen Gott und dem Volk Israel zu eigen machten. Die amerikanischen Revolutionäre übernahmen diese Beziehung unter den Vorzeichen einer gemäßigten, halbchristianisierten Aufklärung, die klassische Modelle nachbildete. Die Kluft zwischen klassischer Tugend und den pragmatischen Notwendigkeiten der Realpolitik ist weit geringer als die zwischen Passionsgeschichte und jeglichem Machtdiskurs. Kein Wunder, dass die Tugend für den Renaissancefürsten und den frühmodernen Monarchen eine so große Anziehungskraft besaß. Sanfte Techniken der Schmeichelei machten es den Herrschern schmackhaft, einem idealisierten Bild der Macht nachzueifern, das weit weniger bedrohlich erschien als die Verkehrungen und die “Umwertung aller Werte”, die sich im Christentum finden.
Die Unvereinbarkeit von Machtdiskursen und Passionshandlung lässt sich an dem altenglischen Gedicht The Dream of the Rood illustrieren, das aus der Zeit stammt, als der Benediktinermönch Beda das angelsächsische England als neues Israel ausmachte. Christus wird als der “tapfere Mann” identifiziert, der den Baum der Erlösung mit dem Heldenmut eines Kriegers erklimmt. Über ein Jahrtausend später zeigte eine evangelische Kirche in Guildford in der englischen Grafschaft Surrey zur Zeit der Olympischen Spiele 2012 ein Bild Christi als “Weltmeister”: ein muskelstrotzender olympischer Ringturner mit ausgebreiteten Armen im sogenannten Kreuzhang – ein direkter Anklang an The Dream of the Rood. Ähnliche Darstellungen erscheinen in der gesamten europäischen Geschichte, aber auch in anderen Kulturen, und dienen der Versinnbildlichung nationaler Befreiung und kollektiver Erlösung. Denken wir an die Darstellung von Mazzini und Garibaldi, ja aller jungen Männer, die im Risorgimento kämpften, als Christusfiguren, bereit, sich selbst für die Nation und ihre Kameraden zu opfern,7 oder an die Darstellungen von so unterschiedlichen Gestalten wie dem faschistischen Diktator Mussolini, dem gesetzlosen Helden Che Guevara und dem Heroen der Gewaltlosigkeit Mahatma Gandhi.
Solche Figuren illustrieren die Rolle nicht-empirischer und nicht-rationaler Kategorien wie Charisma und Gründervätertum in Religion, Nationalismus und revolutionärer Ideologie gleichermaßen. “Säkulare” Diskurse und “religiöse” Diskurse rekurrieren beide auf nicht-empirische Kategorien. Gleichzeitig heben die Vergleiche späterer historischer Gestalten mit Christus eher den Aspekt des Selbstopfers hervor statt die zentrale Botschaft der gewaltlosen Erlösung durch die Preisgabe aller Besitztümer zugunsten des Gewinns der Liebe. Die Aneignung dieses Narrativs und/oder der radikalen Kritik von Besitz und Hierarchie im Evangelium bleiben in der “sektiererischen” Tradition voluntaristischen Gruppen wie den Lollarden und Mennoniten überlassen. In jüngerer Zeit, im Gefolge des Ersten und Zweiten Weltkriegs, findet man in der Gedenk-Ikonographie den Rekurs auf die Bibelzeile “Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde”, der sich hier freilich eindeutig auf die Waffenbrüderschaft und nicht auf die friedfertigen Bruderschaften des Frühchristentums bezieht.
Rivalisierende Narrative
Warum aber, so frage ich nun, konzentrieren wir uns so sehr auf die Religion in ihrer Beziehung zu Krieg und Gewalt? Der Grund dafür ist, dass ein bestimmtes Narrativ der französischen Aufklärung die Religion als irrationale Glaubensform identifiziert und behauptet, dass, erstens, die Irrationalität der Religion systematisch mit schändlichen Praktiken und rückschrittlichen politischen und moralischen Herrschaftsformen einhergehe und dass, zweitens, diese Formen in ganz besonderer Weise in Gewalt verstrickt seien. Dieses Narrativ hat Vorläufer in Montaigne und seinen – aus der Erfahrung der französischen Religionskriege genährten – Kommentaren zur Beziehung zwischen religiösem Glauben und Konfliktneigung.
Womit wir es hier also zu tun haben, ist eine banale und unproduktive Wahrheit, die nirgendwohin führt außer zu einem neuen, negativen Dogmatismus über eine hypostasierte Entität: die der Religion “im Allgemeinen” und “zu allen Zeiten”. Die Behauptung, dass die Religion ihrem Wesen nach irrational sei, wird dann um das Dogma erweitert, dass es eine innere Verbindung zwischen irrationalen Überzeugungen und bösem Handeln gebe, und damit auch zwischen dem Wahren und dem Guten. Eine dogmatische Behauptung dieser Art, die des hypothetischen Charakters beraubt ist, welcher die Wissenschaft auszeichnet, erinnert an analoge Aussagen in bestimmten christlichen Diskursen, zum Beispiel der katholischen Auffassung aus dem 12. Jahrhundert, dass die Katharer gar nicht anders als moralisch fehlgeleitet und pervers sein konnten, weil sie einer dualistischen theologischen Lehre anhingen.
Wir müssen uns fragen, welche historischen Erfahrungen, Interessen und Perspektiven Intellektuelle in Frankreich dafür anfällig machten, sich ein Narrativ zu eigen zu machen, das besonders die Religion – und nicht andere, ebenso offensichtliche Faktoren – für kriegerisches Verhalten verantwortlich macht. Das Gleiche gilt für ein in der angloamerikanischen Aufklärung konstruiertes Narrativ, das der Religion einen weitaus positiveren Wert beimisst. Für Thomas Paine hing viel davon ab, die natürliche Religion von spezifischen Offenbarungsansprüchen zu befreien und, nach dem Modell der voluntaristischen Religion, die Paines eigenen Hintergrund bildete und in den USA ungehinderten Ausdruck fand, alle Religionen aus ihrer Verwicklung in staatliche Macht zu lösen.8 Das protestantische Denken schob einen Großteil der negativen Bilanz des Christentums auf den Katholizismus und den Klerus, und Herbert Spencer identifizierte im 19. Jahrhundert den Protestantismus mit einem liberalen Handelspazifismus.
Es gibt auch eine katholische Meistererzählung, die kriegerische und imperialistische Tendenzen in der Verbindung von Protestantismus und Kapitalismus lokalisiert. Zeitgenössische agnostische oder atheistische Ineinssetzungen von Religion und Krieg verschmelzen das französische Aufklärungsnarrativ mit dem protestantischen und katholischen und ergänzen diese durch ein wiederbelebtes Narrativ aus dem 19. Jahrhundert, das Religion mit einer Fundamentalopposition zur Wissenschaft, insbesondere der Evolutionsbiologie identifiziert. Dies wird verstärkt durch die Konstruktion der Kategorie eines spezifisch religiösen Terrorismus, die den antireligiösen Terrorismus, zum Beispiel des Anarchismus, ignoriert.
Gestützt wird diese Darstellung durch Gedankenexperimente, welche möglichen Folgen es haben kann, erstens, empirisch nicht zu beweisende Glaubensüberzeugungen zu akzeptieren, und, zweitens, Überzeugungen von höherer Autorität zu empfangen: Gott hat mir befohlen, gewaltsam zu handeln und mir dafür ewigen Lohn verheißen. Hier könnte man fragen, warum sich denn “ungelehrte und einfache Leute” unter der Führung des Geistes nicht ermächtigt fühlen sollten zu äußern, was sie auf dem Herzen haben, nicht anders als dies professionelle Intellektuelle tun. Wie dem auch sei, die meisten unserer Lebensentscheidungen und Überzeugungen, seien sie religiöser oder anderer Natur, sind unbeweisbar, einschließlich des Atheismus, des Szientismus, des Menschenrechtsdiskurses und aller politischen Ideologien. Es gibt ein weites Feld nicht-rationaler, nicht-empirischer Merkmale, die Politik und Religion miteinander teilen.
Drei Beobachtungen möchte ich am Schluss festhalten: Erstens basieren die meisten Entscheidungen in unserem Leben nicht auf Beweisen. Zweitens ist es der Normalfall, auf Autorität gründende Meinungen zu übernehmen und nach ihnen zu handeln, etwa sich an der öffentlichen Meinung oder dem Zeitgeist zu orientieren oder politischen Ideen nachzueifern. Drittens sind Gewaltakte nicht notwendigerweise irrational und illegitim – sie können der Gerechtigkeit dienen. Dietrich Bonhoeffer schloss sich trotz religiöser Skrupel den Attentätern des 20. Juli an. Wir können nicht behaupten, islamistischer Terror entspringe dem reinen Bösen. Es gibt Situationen der Unterdrückung, angesichts deren wir religiösen (oder nichtreligiösen) Terrorismus als legitime Kriegshandlung anerkennen müssen. Zumindest sollten wir bereit sein einzuräumen, dass Gewalt gegen säkulare westliche Mächte legitim sein kann, die korrupten Regimen in den Sattel geholfen haben, weil sie ihren imperialistischen Zielsetzungen dienten. Ein anderes Beispiel ist Polen unter der säkularistischen Sowjetherrschaft: Die Religion spielte hier eine wesentliche Rolle im Kampf um demokratische und nationale Selbstbestimmung. Vielleicht ist kultureller und wirtschaftlicher Imperialismus, sei es der Großbritanniens, Frankreichs oder der Sowjetunion sei es jener des kaiserlichen oder des roten China, eine geopolitische Semikonstante, die sich je nach Machtkonstellation verschieden auswirkt, gleich ob religiös artikuliert oder nicht. Vielleicht sind Krieg, irrationales Eifertum und Unterwerfung unter Autoritäten auch Semikonstanten, die wir lieber der Religion zuschreiben, als die empirischen Umstände zu untersuchen.
Wir im Westen weichen solchen Untersuchungen eher aus, weil unsere Auffassung von einer geordneten Gesellschaft auf einer säkularen Meistererzählung beruht, die der Idee des Fortschritts verpflichtet ist und Umstände und Entwicklungen übergeht, die ihr widersprechen. Dasselbe gilt für unsere Vorstellung von der Geschichte und insbesondere der Aufklärung, deren emanzipatorische Leistung niemand bestreitet, der wir ihre Beihilfe zu Rassismus, Autokratie und Expansionismus ebenso wie ihre Forderung nach Unterwerfung unter ihre Normen aber gern nachsehen.
Der "Wahrheitskämpfer" (Mr. Valiant-for-Truth) ist ein tapferer Pilger aus John Bunyans Pilgerreise zur seligen Ewigkeit (The Pilgrim's Progress), A.d.Ü.
T.S. Eliot, "Burnt Norton", in: Vier Quartette, übers. v. Nora Wydenbruch, Wien 1953, S. 21.
Clive James, "Dreams Before Sleeping", in: Ders., Nefertiti in the Flak Tower. Collected Verse 2008-2011, London 2012, S. 46f.
George Bernhard Shaw, Major Barbara, mit der Vorrede des Autors, Frankfurt a.M. 1990, Vorrede.
Vgl. Jessica Martin und Alec Ryrie (Hg.), Private and Domestic Devotion in Early Modern England, Aldershot 2012, insbesondere Kapitel 3: Erica Longfellow, "'My now solitary prayers'. Eikon Basilike and Changing Attitudes to Religious Solitude". Ich danke Jessica Martin, die mich auf viele Beispiele aus dem frühmodernen England aufmerksam gemacht hat.
Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996.
Vgl. Lucy Riall, Garibaldi. Invention of a hero, London 2009.
Vgl. John Keane, Tom Paine. A political life, London 1995.
Published 23 April 2013
Original in English
Translated by
Andreas Simon dos Santos
First published by Transit 43/2013 (German version)
Contributed by Transit © David Martin / Transit / Eurozine
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