In- und ausländische Öffentlichkeit
Podiumsstatement zum 14. Europäischen Zeitschriftentreffen in Wien und Bratislava; Samstag, 11. November 2000
Seit Sommer 1998 lebt die ungarische politische und kulturelle Elite in einem kalten Krieg. Es findet eine zunehmende Polarisierung der Standpunkte statt; die Reizworte “links” und “rechts” dominieren in der Publizistik wie niemals zuvor, und obwohl weder die eine noch die andere Strömung einheitlich ist, werden Übergänge oder Zwischentöne von keiner der Seiten toleriert. Gleichzeitig herrscht eine allgemeine Aggressivität der Sprache, der Diskurs wird äußerst persönlich geführt, Verletzung der Ehre und Würde des jeweiligen Kontrahenten gehört zum Alltag und immer häufiger werden die Debatten vor dem Kadi weitergeführt.
Wie jede gesellschaftliche Neurose, erfasst auch diese alle Beteiligten. Trotzdem wage ich die Behauptung, dass die Verantwortung für das hysterische Ausmaß der Auseinandersetzung hauptsächlich bei der stärksten Regierungspartei liegt. Diese versucht den Wahlsieg im Frühjahr 2002 und damit die Machterhaltung zumindest für weitere vier Jahre bereits jetzt abzusichern. In dieser Bestrebung reißt sie alle ihr zugänglichen Medien an sich und schreckt nicht davor zurück, von der “kritischen Solidarität” rechtsradikaler und offen rassistischer Parteien und Zeitungen zu profitieren. Selbst wenn die Regierung ansonsten erfolgreich funktioniert und die Wählergunst behalten oder gar verstärken wird, hat sie der jungen Demokratie durch diese Politik bleibenden Schaden zugefügt.
Meine Damen und Herren, ich warne Sie davor, den obigen Gedanken Glauben zu schenken. Allein die Tatsache, dass sie in deutscher Sprache und vor einem nicht-ungarischen Publikum geäußert wurden, bestimmt ihren Charakter als Nestbeschmutzung. Hier will einer seine demokratisch legitimierte Regierung, gewissermaßen also seine eigene Nation, in den Augen des Auslands diffamieren, um womöglich internationalen Druck auf letztere, wenn nicht gerade einen EU-Boykott zu erwirken. Dies tut er in einer Lage, da die Republik direkt vor den Toren der Europäischen Union steht und Steuergelder in Milliardenhöhe in ein Zentrum für die Pflege des nationalen Images investiert.
Damit sind wir bereits beim Kern des Problems gelandet. Eine der schwersten Anklagen gegenüber Repräsentanten der linksliberalen Intelligenz bestand und besteht bis heute darin, dass diese die innenpolitischen Kämpfe nach außen tragen, entweder durch direkt für die internationale Öffentlichkeit bestimmte Aufsätze und Interviews oder über die sogenannte “Einflüsterung”, indem sie unter Missbrauch ihrer Sprachkenntnisse und Westkontakte dafür sorgten, die missliebige Regierung – letzten Endes jedoch das eigene Land – in Verruf zu bringen. Es ist eine Sache, hieß und heißt die diesbezügliche Argumentation, den verbalen Krieg in heimischen Gefilden zu führen, und wieder eine andere, der FAZoder, um Gottes Willen, der NZZ, kompromittierende Informationen zuzuspielen.
Nichts wäre leichter, als die Wurzel derartiger Vorwürfe beim seligen kommunistischen Regime zu entdecken. Jedesmal, wenn die demokratische Opposition der siebziger und achtziger Jahre die Verletzung der Menschenrechte im eigenen Lande via Sender Freies Europazu Wort brachte, wurde diese Vorgangsweise von offizieller Seite nicht einfach als eine antisozialistische, sondern auch als eine höchst unpatriotische Haltung verurteilt. Noch früher, in den goldenen fünfziger Jahren, galt es für ungarische KP-Mitglieder als Hauptverbrechen, die Diskussionen innerhalb der Partei, insofern solche überhaupt stattfanden, “auf die Straße”, das heißt unter die parteilose Masse zu bringen. Ein Genosse – so war es im Statut verankert – darf seine Kritik auf der Parteiversammlung offen äußern, dennoch muss er die gemeinsam gefassten Mehrheitsbeschlüsse unter Umständen auch gegen die eigene Überzeugung öffentlich vertreten können. Die Quelle der heutigen Kampagne gegen die “Nestbeschmutzung”, könnten wir behaupten, sei also in dem ruhmreichen “demokratischen Zentralismus” zu suchen.
Solch historische Bezugnahmen fegt man in Ungarn heutzutage unter dem Hinweis auf die völlig veränderte Konstellation weg. Damals gab es doch weder eine frei gewählte Nationalversammlung, noch eine ebenso freie heimische Öffentlichkeit. Hingegen kann heutzutage jeder Kritiker einen seinen Ansichten entsprechenden Rahmen zu Hause finden und in diesem seiner Wut beliebig freien Lauf lassen. Wozu also die Hinwendung zu fremden Blättern, Mikrofonen und Kameras? Warum braucht man diesen anstrengenden Umweg, wenn nicht aus der bewussten Angst heraus, als Prophet im eigenen Lande scheitern zu können?
Ich muss zugeben, dass ich über keine hundertprozentige Immunität gegenüber solchen Fragen verfüge. Selbstverständlich ist mir klar, dass die Chancen des freien Wortes unter einer offen antiliberalen Regierung selbst bei pluralistischen Strukturen schwindend gering sind. Auf der einen Seite stehen Hunderte von mehr oder weniger geschriebenen Aufsätzen, auf der anderen eine Tat: sagen wir, der von der Regierung geförderte Verkauf einer ehemals soliden Zeitung und die Verbreitung dieser zu Dumpingpreisen.Gleichzeitig merke ich bei mir mit zunehmender Beklemmung eine Art moralischer Ritterlichkeit. Irgendwie bin ich gehemmt, diese Schlacht nicht mit offenem Visier aufzunehmen. Die ungarischen Heuchler gehören nicht in Europa, sondern in Ungarn als Heuchler entlarvt, sage ich mir, während ich mich allmählich als meinen eigenen Psychologen betrachte.
Wer war nämlich, fragt der Psychologe, für die Entlarvung von Helmut Kohl seinerzeit zuständig? Hat etwa die deutsche Gesellschaft versucht, ein bisschen ungarische Hilfe bei der Klärung der Spendenaffäre – wie damals bei der Grenzöffnung – in Ungarn zu ergattern? (Übrigens hätte sie diesmal wenig Erfolg mit ihrem Vorhaben gehabt: der Altkanzler erhielt, sozusagen am Höhepunkt seines Untergangs, einen ungarischen Staatsorden.) Verdammt noch mal, so beschönige ich meine Ohnmacht, ich bin nur ein Schriftsteller.
Trotzdem oder eben deshalb, weil ich keine politischen Ambitionen habe, bitte ich, ernst genommen zu werden. Die Argumentation der demokratisch legitimierten Herrschenden und ihrer teilweise missbrauchten, teilweise sie missbrauchenden faschistischen Verbündeten aus der Partei “Ungarische Gerechtigkeit und Leben” leiden an einem Denkfehler. Seit 1989 gibt es keine getrennte ungarische und internationale Öffentlichkeit. Ich, der ich meine literarische Karriere rein technisch einer Schreibmaschine der Marke Erika made in GDR zu verdanken habe, weiß, dass jeder, der im Internet den Namen “Csurka” sucht, allerdings mit Hilfe eines ungarischen Dolmetschers, in zehn Minuten alles Wichtige über das heutige Ungarn erfährt.
Das Übrige hängt von dem seinerzeit Erfolg versprechenden Projekt der Herren Voltaire, Rousseau, Diderot und anderen ab.
Published 15 November 2000
Original in German
First published by Eurozine
© György Dalos / Eurozine
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