Ab Juli dieses Jahres werden öffentliche Proteste in Spanien zu einer teuren Angelegenheit – durch das Gesetz für Bürgersicherheit, auch “Maulkorbgesetz” genannt, werden Kundgebungen strafbar, die die “öffentliche Infrastruktur stören”. Laut dem letzten Dezember verabschiedeten Gesetz können Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude, Straßenblockaden oder das Belagern eines Platzes mit Geldbußen bis zu mehreren Hunderttausend Euro geahndet werden. Damit will die Regierung einmal mehr die Proteste unterdrücken, die das Land seit 2011 erfasst haben. Angesichts einer Arbeitslosenrate von insgesamt über 25 Prozent und 50 Prozent bei den unter 25-Jährigen gingen zuletzt Hunderttausende BürgerInnen auf die Straße und besetzten Plätze und Universitäten. Angesichts einer durch jahrelange politische Skandale und Korruption unglaubwürdig gewordenen politischen Klasse griffen die Indignados (“die Empörten”) mit der Rückeroberung des öffentlichen Raums auf eine der grundlegendsten Formen politischen Handelns zurück. Weltweit, in Tunesien, Ägypten, Griechenland, Israel und den USA, gab es Proteste mit einer ähnlichen Belagerungsstrategie. Häufig wurde betont, dass neue Technologien wie soziale Netzwerke und Smartphones diese erst ermöglicht hätten, doch der eigentliche Star der Show war der städtische Platz, der so alt ist wie das politische Denken selbst. Als die Regierungspartei, die ironischerweise Volkspartei heißt, ihr drakonisches neues Gesetz verabschiedete, suchten die Protestierenden rasch nach einer Alternative zur eigenen körperlichen Präsenz. Die leeren Straßen wurden – im wörtlichen Sinne – von Geistern, sprich holografischen Bildern heimgesucht, die den Sorgen der an ihrer Anwesenheit gehinderten BürgerInnen Ausdruck verliehen. Die dabei eingesetzten Projektionen waren in einer nahe gelegenen Stadt geprobt und das Equipment (freiwillig) von einem PR-Unternehmen installiert worden. Es handelt sich hier um einen typischer Stellvertreterprotest im Zeitalter der Proxy-Politik.1
Proxy, der englische Begriff für ein Täuschungsmittel oder eine/einen StellvertreterIn, bezeichnet heute zumeist einen Computerserver, der zur Vermittlung von Clientanfragen dient. Ursprünglich auf den lateinischen procurator zurückgehend, der andere vor Gericht vertritt, stehen Proxys mittlerweile für ein politisches Zeitalter der Postrepräsention oder Postdemokratie, das zunehmend von Bot-Milizen, Marionettenstaaten, Ghostwritern und Kommunikationsübertragungen gekennzeichnet ist. Allgemeiner kann Proxy-Politik sowohl als Zeichen der Krise in den gegenwärtigen Strukturen der politischen Repräsentation als auch als Gegenstrategie betrachtet werden, die darauf abzielt, sich kritisch mit bestehenden Sicherheits- und Kontrollmechanismen auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen.
In seinem Buch Post Democracy beschreibt Colin Crouch, wie in der derzeitigen politischen Situation immer mehr Macht an Unternehmenslobbys und Nichtregierungsorganisationen übertragen wird, so dass “wenig Hoffnung besteht für eine aussichtsreiche egalitäre politische Agenda zur Umverteilung von Macht und Wohlstand oder für eine Beschränkung mächtiger Interessen”2. Die Vision eines autonomen, potenten, politischen Subjekts wird durch die wachsende Macht privilegierter Eliten an der Schnittstelle von transnationalen Kooperationen, außergerichtlichen Zonen, infrastrukturellen Behörden und Nichtregierungsorganisationen zunichtegemacht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als das Repräsentantenhaus kürzlich das Ende der Massenüberwachung durch die NSA beschloss,3 wurde klargestellt, dass “die Regierung damit aus dem Datensammeln raus war, ohne jedoch den Zugriff auf die Informationen zu verlieren. Das Sammeln läge nun in den Händen des privaten Sektors – mit größter Sicherheit Telekommunikationsunternehmen wie AT&T, Verizon und Sprint”4. Im Zuge einer scheinbar erfolgreichen Reformmaßnahme wird also deutlich, dass sich die Schalthebel der Macht inzwischen ganz woanders, nämlich zwischen Politik und privatem Sektor, befinden. Man denke nur an die engen Beziehungen zwischen Google Inc. und dem Weißen Haus.
Welche Formen des Widerstands und der Evasion könnten angesichts dieses unklaren technopolitischen Zustands wirksam sein? Wie lässt sich verhindern, dass man zu einer wandelnden, datenindexgenerierenden Sensorplattform wird?
So wie Proxy-Politik der Name eines politischen Regimes ist, das auf Unklarheit, Undurchsichtigkeit und Täuschung basiert, kann sie auch die Möglichkeit einer entsprechenden Gegenoffensive bezeichnen. Idealerweise beinhaltet Proxy-Politik vielerlei Rückzugsmethoden, in technischer wie metaphorischer Hinsicht – dank möglicher Hilfsmittel wie einem VPN, dem 3-D-Scan eines Fingerabdrucks, P2P-Technologie oder Archivbildern –, die stets zu Verheimlichung, Evasion oder einem Täuschungsmanöver führen. Hito Steyerl beschreibt Proxy-Politik als Antwort auf den “Terror des totalen Daseins”5
. Gewiss könnten Strategien wie diese für eine Übergangsphase von Bedeutung sein, in der Unterschiede zwischen realer Virtualität und virtueller Realität, zwischen dem Greifbaren und dem Digitalen immer schwerer zu erkennen sind, während gleichzeitig immer deutlicher wird, wie massiv beide Bereiche eigentlich kontrolliert werden.
Wie Alexander Galloway feststellte, “beobachten wir statt einer Politisierung von Zeit und Raum eine zunehmende Politisierung von Themen rund um Anwesenheit und Abwesenheit wie Unsichtbarkeit, Undurchsichtigkeit und Anonymität oder die Beziehung zwischen Identifizierung und Wahrnehmbarkeit oder die Taktik von Nichtexistenz und Verschwinden, neue Kämpfe im Hinblick auf die Prävention, die Therapeutik des Körpers, Piraterie und Ansteckung, die informationstechnologische Erfassung und Veranschaulichung von Daten (mittels Data Mining)”6.
Das Internet, das eigentlich als entterritorialisierte Technologie galt, wird durch Sicherheitsmechanismen, das TCP/IP-Protokoll und nationale Rechtsprechung reterritorialisiert. So hat die NSA bezeichnenderweise versucht, das Netz mithilfe eines Programms namens Treasure Map zu kartografieren.
Auch die schemenhaften Gestalten einer holografischen Kundgebung verkörpern einen doppelten Prozess der Entteritorialisierung und Reterritorialisierung: Per Online-Crowdsourcing gesammelte Parolen wurden anschließend mit holografischen Bildern synchronisiert, die man in einer nahe gelegenen Stadt unter sorgfältiger Reproduktion der räumlichen Gegebenheiten vor dem Parlament gefilmt hatte. Abschließend wurden einzelne, verstreute Stimmen gemischt, montiert und im öffentlichen Raum neu zusammengestellt. Der bläuliche Ton der holografischen Projektion erinnert an das Material einer Überwachungskamera, als Verweis auf die gängige Darstellung eines dystopischen totalitären Staats. Statt des öffentlichen Raums bevölkern die simulierten DemonstrantInnen ein neues Medium, den Proxy. In diesem Fall handelt es sich um ein Hologramm, ein digitales Objekt, das sich in einem dreidimensionalen Raum manifestiert. Könnten diese Menschen aufgrund der Handlungen ihres holografischen Avatars verurteilt werden? Würden sie oder ihre Doubles durch Gesichtserkennungssoftware kriminalisiert? Das Individuum wird hier als Schnittmenge aus Profilen und Daten wiedergegeben. Nishant Shah stellte kürzlich fest, “dass die Regulierung von Daten eng verbunden ist mit der Regulierung von Körpern, und eine mangelnde Datenkontrolle setzt biologische Körper prekären und gefährlichen Bedingungen aus”7.
Während das Verhältnis von physischen und digitalen Räumen in ständiger Veränderung begriffen ist, gilt das Interesse neuerer Publikationen entweder physischen Infrastrukturen hinter globalen Netzwerken (Keller Easterling8) oder dem erweiterten Verständnis von Netzwerken als “imaginierten Netzwerken” (Wendy Chun), unter Berücksichtigung von “Diskrepanzen zwischen der Erfahrung und der Repräsentation von Netzwerken”. Chun zufolge haben wir durch Netzwerke die Möglichkeit, uns das Unvorstellbare vorzustellen, wie den globalen Klimawandel oder globales Kapital, da sie eine unvorhersehbare Zukunft erschaffen. Innerhalb dieser imaginierten Netzwerke bestehen wir eher aus einer Reihe von “Dus” als aus einem kollektiven “Wir”.9 Diese nicht-gemeinschaftliche Tendenz könnte als einer der Mängel der Proxy-Politik und ihres Apparats gewertet werden. Körperdouble, Scan oder VPN verweisen alle auf die/den einzelnen NutzerIn, nicht auf ein Kollektiv. Doch könnten Proxys auch en masse mobilisieren?
Als die türkische Regierung im März letzten Jahres Twitter verbot, wechselten die NutzerInnen zum öffentlichen DNS von Google, um das Verbot zu umgehen, und gaben die Informationen im echten Leben via Graffiti und online über virale Medien weiter. Ähnlich wie bei der holografischen Kundgebung kam es auch hier für einen Moment zu einer Verschmelzung von öffentlichem Raum und Bildschirm. Der Proxy, ob als Hologramm oder Kommunikationsvermittler, Metapher oder infrastrukturelle Intervention, begünstigt die Möglichkeit politischer Handlungsmacht in einer Zeit, in der die herrschenden Kräfte zunehmend ein Vorrecht auf Undurchsichtigkeit genießen, während die politischen Subjekte immer transparenter gemacht werden. Proxy-Politik ist an den Kampf um Undurchsichtigkeit geknüpft, sie ist neue Machtform und Methode des Widerstands zugleich.
Besonderen Dank an Hito Steyerl und Maximilian Schmötzer, unsere KollegInnen am Research Center for Proxy Politics; http://rcpp.lensbased.net.
Vgl. Hito Steyerl, Proxy Politics: Signal and Noise, in: e-flux journal 60, Dezember 2014; www.e-flux.com/journal/proxy-politics/.
Vgl. Colin Crouch, Post-Democracy. Cambridge 2004, S. 6.
Edward Snowden beschrieb die "Five Eyes" als supranationale Organisation, die sich über die Gesetze der jeweiligen Länder hinwegsetzt. So zeigte die Veröffentlichung der NSA-Dokumente, dass die betreffenden Länder ihre BürgerInnen bewusst gegenseitig ausspionieren sowie Informationen sammeln und untereinander austauschen, um restriktive Gesetze für inländische Spionage zu umgehen.
Vgl. die Radical Philosphy Conference, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, Januar 2015;
www.hkw.de/en/app/mediathek/audio/38263.
Alexander R. Galloway, Black Box, Black Bloc, Vortrag an der New School, New York City, 12. April 2010; cultureandcommunication.org/galloway/pdf/Galloway,%20Black%20Box%20Black%20Bloc,%20New%20School.pdf.
Vgl. Nishant Shah, The Selfie and the Slut: Bodies, Technology and Public Shame, in: Economic & Political Weekly, 25. April 2015.
Vgl. Keller Easterling, Extrastatecraft: The Power of Infrastructure Space. London 2014.
Vgl. Wendy Chun, Imagined Networks, Affective Connections, Marc and Constance Jacobson Lecture 2013, Michigan University; youtube.com/watch?v=KnqZBIv_Zn4.
Published 5 August 2015
Original in English
Translated by
Anja Schulte
First published by Springerin 3/2015 (German version); Research Center for Proxy Politics, 15 July 2015 (English version)
Contributed by Springerin © Boaz Levin, Vera Tollmann / Springerin / Eurozine
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