Polen als Brücke zwischen Ost und West?

Nach der Erweiterung der Europäischen Union ist Polen durch seine direkte Nachbarschaft mit der Ukraine, Belarus und dem Kaliningrader Bezirk zur EU-Außengrenze geworden. Infolge der Systemtransformation haben sich die Grundlagen und Prioritäten der polnischen Außenpolitik, vor allem der Ostpolitik, seit 1989 grundlegend verändert. Man kann diesen Prozess als Übergang von einer künstlichen, formellen, offiziellen und gleichzeitig ideologischen Politik der Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung zwischen Polen und der Sowjetunion zur Politik der Gestaltung von bilateralen Beziehungen mit den neu entstandenen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion beschreiben.

Bereits im Juni 2001 verabschiedete die polnische Regierung ein Dokument, in dem die Visionen Warschaus bezüglich der zukünftigen Ostpolitik der erweiterten Europäischen Union dargestellt wurden.1 Im Jahr 2003 setzten sich polnische Politiker, Publizisten und Wissenschaftler besonders intensiv mit der neuen Nachbarschaftspolitik auseinander und unterstützten die Europäische Kommission bei der Ausarbeitung des Strategiepapiers “Größeres Europa – Nachbarschaft”. Das Warschauer Zentrum für Oststudien (Osrodek Studiow Wschodnich) hat in Zusammenarbeit mit seinen Partnerinstituten in Bratislava, Budapest und Prag eine Studie über die Ostpolitik aus der Perspektive der Visegrad Länder vorbereitet. In ihr werden sowohl die Entwicklung der Beziehungen mit Belarus, Russland, und der Ukraine von 1990 bis 2002 als auch Vorstellungen für die zukünftige Politik bezüglich dieser Länder dargestellt.2

Belarus und die Ukraine haben die besondere Rolle Polens bei der Entwicklung der Kooperation der erweiterten EU mit den östlichen Nachbarländern erkannt. Sie sehen Polen als einen Mittler, der beim Ausbau der Beziehungen zur EU helfen kann. Uladzimir Ulachovic begründet diese polnische Kompetenz mit der langjährigen Erfahrung, die das Land auf dem Gebiet der Nachbarschaft mit östlichen Nachbarn hat. Bereits vor dem Zerfall der UdSSR arbeitete Polen, obwohl unter strenger Kontrolle, mit den benachbarten Sowjetrepubliken zusammen. Nach der politischen Wende erkannte Polen als erster Staat die Unabhängigkeit von Belarus und der Ukraine an.3 Der ukrainische Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko hebt die Rolle Polens auf dem Weg zur euroatlantischen Integration hervor. Er begrüßt die polnische Unterstützung bei der Ausarbeitung einer Nachbarschaftspolitik zwischen der EU und der Ukraine.4

Interessenunterschiede

Bei der Konzeption einer gemeinsamen Nachbarschaftspolitik sind unterschiedliche Interessen festzustellen, die durch die EU auf der einen Seite und durch Polen auf der anderen Seite vertreten werden. Die Politik der Europäischen Union zielt auf die Intensivierung der Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn, ohne dass Beitrittszusagen gemacht werden. Die Europäische Kommission und ihr Präsident stellen zwar eine spätere EU-Mitgliedschaft einiger Nachbarstaaten in Aussicht, dies soll jedoch nicht die Priorität der neuen Nachbarschaftspolitik sein.5

Im Gegensatz zur EU und speziell auch zu Deutschland will Polen der Ukraine eine Beitrittsperspektive anbieten. In seinen im Januar dem Parlament vorgestellten Thesen zur Gestaltung der polnischen Außenpolitik im Jahr 2004 äußerte sich Wlodzimierz Cimoszewicz auch zur Ostpolitik Polens. Während in den Beziehungen mit Russland vor allem die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Ziel werden sollte, ist Polen in Bezug auf die Ukraine bestrebt, dem Nachbarn einen baldigen EU-Beitritt in Aussicht zu stellen. Diese Politik wird von den meisten polnischen Parteien unterstützt, und Polen hält sich nicht nur für den Anwalt der Ukraine, sondern ist auch von seiner besonderen Rolle bei der Gestaltung der gesamten Ostpolitik der EU überzeugt.6

Im Juni 2004 wandten sich verschiedene Organisationen und Bürgerinitiativen, die sich seit Jahren für die Zusammenarbeit mit östlichen Nachbarn engagieren, mit einem Appell an den polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski. In ihm forderten sie, dass Polen gemeinsam mit anderen Visegrad-Ländern die Europäische Union zur Übernahme einer politischen Deklaration in Angelegenheiten der Ukraine bewege. Dieses Dokument solle “Unterstützung der EU für europäische Aspirationen der Ukraine durch Skizzierung eines realen Weges zur Mitgliedschaft” beinhalten. Außerdem sollen Perspektiven der Zusammenarbeit und Integration in den Bereichen genannt werden, die für die Ukraine wichtig sind.7

Die grenzüberschreitende Regionalpolitik und die Ostpolitik Polens

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Regionen spielt eine wichtige Rolle für die Europäische Integration. Nach der Europäischen Karte der Grenzregionen, die durch den Europarat am 20. November 1981 verabschiedet und am 1. Dezember 1995 ergänzt wurde, sollen durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit die negativen Folgen von Grenzen beseitigt werden. Seitdem initiiert der Europarat immer mehr Projekte zur Erforschung und anschließenden Verbesserung der Entwicklung in den Grenzregionen.8 Auch die Europäische Union unterstützt in ihrer zwischenstaatlichen und regionalen Politik die Gesellschaften in den Grenzregionen. Sie leistet großzügige finanzielle Hilfe für die Entwicklung der Zusammenarbeit an den EU-Außengrenzen, vor allem im Rahmen der INTERREG-Mittel.9

Die grenznahen Räume bilden eine Art Laboratorium im mühsamen Prozess der Einigung Europas. In ihnen wird die direkte Nachbarschaft zwischen Angehörigen von mindestens zwei verschiedenen Nationalitäten gelebt. In den Grenzregionen kommt es regelmäßig zum Gegenspiel der gesellschaftlichen Kontakte zwischen Vertretern der aneinander grenzenden Länder. Dieser Prozess wird oft, obwohl nicht immer, von der gegenseitigen Durchdringung der Kulturen beiderseits der Grenze begleitet.

Die Außenpolitik kann als eine Verbindungskette zwischen komplexen Strukturen und regionalen Elementen, auf die sie einen direkten Einfluss hat, gesehen werden. Eine neue Situation, die in einigen Fällen bereits die Machtkonstellation auf der politischen Szene in der Makroskala verändert hat, wirkt sich direkt auf die Mikroskala aus, zu der auch Grenzregionen gehören. In den Grenzregionen kann die Außenpolitik auch am schnellsten auf die Probe gestellt werden, weil die regionalen und lokalen Regierungen auf eine unerwartete Situation oft schnell reagieren müssen. Als Beispiel kann die Überschwemmung dienen, die vor einigen Jahren Grenzregionen Deutschlands, Polens und Tschechiens heimsuchte.

Laut der Doktrin der polnischen Außenpolitik wird die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit als ein wichtiges Instrument der Gestaltung von neuen Außenbeziehungen Polens gesehen. Durch die Intensivierung der Zusammenarbeit in den grenznahen Gebieten können gutnachbarliche Beziehungen auf der internationalen Ebene erreicht werden. Nach den durch Polen ratifizierten europäischen Konventionen und bilateralen Regierungsabkommen dient die Zusammenarbeit in den Grenzregionen der Entwicklung der zwischenmenschlichen Kontakte, der Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen und der Unterstützung der lokalen Demokratie. Damit gehört die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit mit den Nachbarländern zu den Prioritäten der polnischen Außenpolitik. Wladyslaw Bartoszewski betonte in seiner im Juni 2001 im polnischen Parlament gehaltenen Rede, dass Polen ein wertvoller und aktiver Partner in den regionalen Strukturen sei.10 In der bereits erwähnten Studie des Warschauer Zentrums für Oststudien und seiner Partnerinstitute wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ebenfalls als wichtiger Bestandteil der Ostpolitik der erweiterten EU genannt.11

Von einer hermetischen Grenzzone bis zu drei Grenzregionen im Osten

Die Ostgrenze der EU misst nach dem Beitritt Polens zur europäischen Gemeinschaft insgesamt 1143 Kilometer und ist der längste Abschnitt der EU-Außengrenze. Wegen zahlreicher dort existierender Probleme verdient sie eine besondere Aufmerksamkeit. Für die Ostgrenze Polens lässt sich gut die Theorie von Oskar Martinez anwenden, der folgende fünf Stadien der Grenzfunktion unterscheidet: 1. Feindschaft, 2. Koexistenz, 3. Koexistenz mit Elementen der Zusammenarbeit, 4. Zusammenarbeit, 5. unsichtbare Grenze.12 Während in der deutsch-polnischen und tschechisch-polnischen Grenzregion bereits das vierte Stadium erreicht ist, befindet sich die Ostgrenze Polens im dritten Stadium.

Die in der östlichen Grenzregion Polens gegenwärtig in Erscheinung tretenden Phänomene kann man schwer nachvollziehen, wenn man den historischen Hintergrund dieser Region nicht vor Augen behält. Die polnische Ostgrenze ist das Produkt der Teheraner Konferenz von 1943 und des polnisch-sowjetischen Grenzvertrags vom 16. August 1945. Ähnlich wie in zahlreichen anderen mittel- und ostmitteleuropäischen Grenzregionen kam es auch im polnisch-sowjetischen Grenzgebiet nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Massenaussiedlungen. Millionen von Polen, Juden, Ukrainer, Weißrussen, Litauern und Lemken wurden gezwungen, ihren Heimatort zu verlassen. Noch im Frühjahr 1947 wurden die verbliebenen 140.000 Ukrainer und Lemken im Rahmen der Aktion Weichsel aus ihren Wohnorten im Osten in die neuen Nord- und Westgebiete Polens vertrieben und danach einer Zwangsassimilierung unterworfen.13

Die polnisch-sowjetische Grenze wurde gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hermetisch abgeriegelt und streng bewacht. Von 1945 bis 1985 änderte sich an diesem Grenzregime nur wenig. Besonders stark war die Überwachung der Grenze zwischen Polen und Sowjetrussland im sogenannten Königsberger Bezirk, der zu einer Militärbasis wurde. Das war die undurchlässigste Grenze Polens, an der bis 1955 kein Grenzübergang vorhanden war.14 In der gesamten östlichen Grenzregion Polens bestand zehn Jahre lang kaum Kontakt zwischen der Bevölkerung beider Seiten. Die Einwohner dieser Gebiete protestierten gegen die strenge Abriegelung, weil sie die Grenze zum Zweck der Arbeit auf ihren ehemaligen Gütern passieren mussten. Ähnlich wie in anderen ostmitteleuropäischen Regionen führte auch hier die künstliche Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg zur Teilung der Städte, Dörfer, Grundstücke und Waldgebiete. Während jedoch in anderen Grenzregionen, wie zum Beispiel in der polnisch-tschechoslowakischen oder sogar der deutsch-polnischen, der kleine Grenzverkehr überwiegend zur Arbeit auf der anderen Seite der Grenze eingeführt wurde, blieb die gesamte polnisch-sowjetische Grenze die ersten zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hermetisch geschlossen.15

Das Ende der stalinistischen Ära, der Polnische Oktober und der Ungarnaufstand 1956 brachten eine langsame Entspannung auch an der polnisch-sowjetischen Grenze. Die Zusammenarbeit zwischen den grenznahen Ortschaften wurde jedoch ausschließlich auf der Parteiebene entwickelt, während der Grenzübertritt für die einfachen Einwohner der Grenzregion nach wie vor unmöglich war. Der Austausch erfolgte im Rahmen von Schul- und Universitätsdelegationen sowie zwischen Vertretern verschiedener Kultur- und Sportverbände.16 In den siebziger Jahren wurden vor allem zwischen dem Bezirk Kaliningrad und der Woiwodschaft Olsztyn die so genannten “Busse der Freundschaft” eingeführt, dank denen der Besuch des Nachbarlandes möglich wurde. Für polnische Bürger bildeten diese offiziellen Exkursionen auch eine Möglichkeit zum Einkauf von Artikeln, die es entweder in Polen nicht gab, oder die einfach teurer waren. Nicht selten wurden diese “Freundschaftsreisen” zu Verdienstzwecken genutzt, indem bestimmte Waren in der Sowjetunion gekauft und in Polen verkauft wurden.17

Insgesamt kann man sagen, dass die polnische Ostgrenze seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis Mitte der achtziger Jahre eine geschlossene Grenzzone war, in der grenzüberschreitende Kontakte nur unter strenger Kontrolle möglich waren. In den siebziger Jahren waren Reisen in westliche Länder dank der Einführung einer liberalen Passpolitik weniger kompliziert als der Übertritt der polnisch-sowjetischen Grenze. Ab Mitte der achtziger Jahre erfolgte an den Grenzen der Sowjetunion eine Liberalisierung der Grenzvorschriften, was mit der von Michail Gorbatschow initiierten Reformpolitik der “Perestrojka” zusammenhing. Anfang 1987 wurde zwischen der UdSSR und der VR Polen ein Abkommen über den vereinfachten Grenzübertritt für Einwohner der Grenzregion unterzeichnet. Der kleine Grenzverkehr, der bereits im Dezember 1979 eingeführt, aber damals nach nur zehn Monaten wieder abgeschafft wurde, war daraufhin wieder voll wirksam.18

Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat Polen vier neue Nachbarn im Osten: Litauen, Russland, die Ukraine und Belarus. Die polnische Ostpolitik nach 1989 sah ihre Aufgabe in der Öffnung der Grenzen und der Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.19 Seit Mai 2004 kommt es in der polnisch-russischen (Bezirk Kaliningrad), der polnisch-ukrainischen und der polnisch-belarussischen Grenzregion zu direktem Kontakt zwischen der erweiterten Europäischen Union und den Nachbarländern.

Die polnisch-ukrainische Grenzregion: offizielle Politik versus Alltag an der Grenze

Die polnisch-ukrainische Grenze, die 526 Kilometer lang ist, bildet den längsten Abschnitt der Ostgrenze Polens. Das Gebiet wird von über 8 Millionen Menschen bewohnt, wovon 4.361.700 Einwohner der polnischen und 3.769.400 Einwohner der ukrainischen Seite leben.20

Die polnisch-ukrainischen Beziehungen auf der Staatsebene gelten als vorbildlich und werden von vielen polnischen Politikern als Muster für die Nachbarschaftspolitik im Osten dargestellt. Im Mai 1992 schloss Polen mit der Ukraine als erstem östlichen Nachbarland einen Vertrag über gegenseitige Zusammenarbeit auf der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ebene. Beide Seiten erkannten die neue polnisch-ukrainische Grenze an und stellten fest, dass sie keine territorialen Forderungen haben. Seitdem werden polnisch-ukrainische Kontakte vor allem auf der politischen Ebene intensiv entwickelt. Sie spiegeln sich zum Beispiel in relativ häufigen Treffen der Präsidenten beider Staaten wider.21 Man spricht inzwischen von einer “strategischen Partnerschaft” Polens und der Ukraine, und man versucht das Modell, das für die deutsch-polnische Annäherung genutzt wurde, auf die polnisch-ukrainischen Beziehungen zu übertragen. Tadeusz Mazowiecki, der polnische Premier in den Jahren 1989-1990, stellte in einem im Februar 2004 im Präsidentenpalast gehaltenen Vortrag fest, dass die polnisch-ukrainische Versöhnung der letzten Jahre viel zum friedlichen Europa beigetragen habe.22 Während eines Arbeitstreffens zwischen Aleksander Kwasniewski und Leonid Kutschma im Juni 2003 in Odessa betonte der polnische Präsident, dass die Ukraine auch nach der EU-Osterweiterung ein strategischer Partner Polens bleibe. Im Rahmen dieses Treffens wurde außerdem angekündigt, dass das Jahr 2004 das Jahr Polens in der Ukraine und das Jahr 2005 das Jahr der Ukraine in Polen sei.23

Die offizielle Zusammenarbeit auf der staatlichen Ebene wurde erfolgreich auf die regionale Ebene übertragen. In der polnisch-ukrainischen Grenzregion wurden zahlreiche bilaterale Initiativen in den Bereichen Bildung, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft ergriffen. Besonders gut entwickelt sind Kontakte zwischen polnischen und ukrainischen Schulen, Kulturinstitutionen, Museen, aber auch mittleren und kleinen Unternehmen in der Region Przemysl und Mosciska. Das Kulturzentrum in Przemysl unterhält lebendige Beziehungen zur Philharmonie, zum Orchester und zum Theater in Lemberg.24 Die meisten dieser Initiativen werden im Rahmen der Euroregionen ins Leben gerufen, die in den neunziger Jahren auch an der Ostgrenze Polens wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

Diese offizielle Zusammenarbeit auf der staatlichen und regionalen Ebene hat sich auf die Qualität und Intensität der Kontakte in der Grenzregion sowie die Überwindung der gegenseitigen Vorurteile und Animositäten nur begrenzt ausgewirkt. Die Begegnung zwischen den Einwohnern von beiden Seiten der Grenze erfolgt überwiegend im Zusammenhang mit Handel und Schmuggel. In vielen grenznahen Ortschaften sind diese Tätigkeiten die wichtigste Einkommensquelle für deren Bewohner. So leben zum Beispiel 40 Prozent der Einwohner von Tomaszow Lubelski vom grenznahen Handel, und auf den drei Grenzmärkten in Chelm sind ungefähr 800 Personen beschäftigt. Der Einkauf bildet für Ukrainer wie Polen den Hauptgrund für den Grenzübertritt.25 Doch auch diese fast einzige Form der Begegnung in der polnisch-ukrainischen Grenzregion wurde durch die Einführung der Visumvorschriften am 1. Oktober 2003 stark eingeschränkt. Obwohl das Visum für die Ukrainer kostenlos ist (Polen brauchen nach wie vor kein Visum für die Ukraine), ist die Zahl der Grenzübertritte aus der Ukraine nach Polen deutlich zurück gegangen. Die Erklärung dafür sind formelle Schwierigkeiten und lange Wartezeiten vor dem polnischen Konsulat in Lemberg. Die Einwohner der ukrainischen Seite der Grenzregion empfanden die neuen Vorschriften als eine Benachteiligung, und in den ersten Tagen der Visumpflicht wollten sie aus Protest polnische Händler am Grenzübertritt hindern.26 Trotz der Versicherung des polnischen Präsidenten Kwasniewski, dass die Einführung der Visumpflicht keine negativen Auswirkungen auf die polnisch-ukrainische Zusammenarbeit haben werde, wurde die Begegnung zwischen Polen und Ukrainern im Alltag im großen Maße erschwert.27

Während also die offizielle Zusammenarbeit zwischen Polen und der Ukraine sowohl auf der staatlichen als auch der regionalen Ebene als gut entwickelt gilt, befinden sich die alltäglichen Kontakte in der Anfangsphase, ja sie wurden sogar durch die neuen Visumbestimmungen zusätzlich eingeschränkt. Genauso wird das auch in Polen wahrgenommen. Eine im Dezember 2002 vom Polnischen Institut für Meinungsforschung (CBOS) durchgeführte repräsentative Umfrage ergab, dass die Mehrheit der Polen die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine unterstützte, sich aber gleichzeitig für die Einführung der Visumpflicht für die Ukrainer aussprach. Vierzig Prozent der befragten Polen wollten sogar, dass die Vorschriften für das Erhalten des Visums möglichst streng seien, damit sich Polen von der Ukraine “effektiv abgrenzt”.28 Das Bild der Ukraine ist in Polen sehr negativ, und die Ukrainer werden von vielen verächtlich “Ruski” genannt. Anders sieht es in der Ukraine aus, wo 89 Prozent der befragten Personen positive, beziehungsweise neutrale und nur 11 Prozent negative Vorstellungen von Polen und dessen Bewohnern haben. Wenn man alle polnischen Grenzen vergleicht, fällt die Wahrnehmung des Nachbarn in der polnisch-ukrainischen Grenzregion am schlechtesten aus.29

Die polnisch-belarussische Grenzregion: Kontakte unter Vorbehalt

Die bereits dreizehn Jahre lang dauernden Beziehungen zwischen Polen und Belarus können als eine schwierige Nachbarschaft bezeichnet werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden zwischen Polen und Belarus auf der offiziellen Ebene Kontakte aufgenommen. Im Juni 1992 haben beide Länder einen Nachbarschaftsvertrag abgeschlossen, einen Monat nachdem ein ähnlicher Vertrag mit der Ukraine unterzeichnet worden war. Danach wurden bis 1994 noch zahlreiche polnisch-belarussische Partnerschaftsabkommen ausgehandelt, die jedoch nie richtig in die Praxis umgesetzt wurden. Seit Lukaschenkos Amtsantritt sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht nur passiver, sondern auch angespannter geworden. Lukaschenko betrachtete Polen als ein Belarus unfreundlich gesonnenes Land und schloss es zunehmend in seine Kritik am Westen ein. Politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen beiden Nachbarländern sind gegenwärtig praktisch inexistent. Gut entwickelt sind dagegen Kontakte von polnischen Politikern und Wissenschaftlern zu Vertretern der belarussischen Opposition. Diese Vorgehensweise, also die Stärkung von direkten Einflussmöglichkeiten auf Belarus auf der Ebene von Nichtregierungsorganisationen, vertritt Polen im Konzept der Ostpolitik der erweiterten EU.30 Bekannte polnische Persönlichkeiten, wie Wladyslaw Bartoszewski, Andrzej Wajda, Janusz Onyszkiewicz oder Henryk Samsonowicz veröffentlichten in einer der führenden polnischen Zeitungen Gazeta Wyborcza einen Aufruf zur Unterstützung Weißrusslands:

Wir, die Polen, sollten Weißrussland helfen, sich von den Fesseln des Totalitarismus zu befreien und den Weg der Demokratie zu beschreiten. Nur ein souveränes, demokratisches und europäisches Weißrussland wird ein sicherer Nachbar und guter Partner für Polen sein.

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Von Seiten der belarussischen Opposition sind diese Kontakte erwünscht, und man hofft, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Warschau und dem offiziellen Minsk nicht intensiviert. Viele Vertreter der Nichtregierungsorganisationen würden gern sehen, dass Polen in Europa den Anwalt von Belarus spielt.32

Erfolgreicher als auf der Regierungsebene gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Belarus und Polen direkt in der Grenzregion. Insbesondere im Wirtschaftsbereich wurden in den letzten zehn Jahren zahlreiche Kontakte entwickelt. In Bialystok werden regelmäßig Handelsmessen und Ausstellungen veranstaltet, die der Promotion des lokalen Geschäfts dienen und immer mehr Unternehmen zu Investitionen auf der anderen Seite der Grenze ermuntern. Als gelungen gilt die seit November 1994 existierende Zusammenarbeit zwischen den Industrie- und Handelskammern in Bialystok und Grodno.33

Die vorhandene Basis für die Entwicklung der polnisch-belarussischen Zusammenarbeit in der Grenzregion ist jedoch nicht sehr gut. Eine große Schwierigkeit für die Aufnahme von neuen und die Intensivierung von alten Kontakten bildet die geringe Anzahl der Grenzübergänge. Die meisten von ihnen sind für Fußgänger schwer erreichbar. Die polnisch-belarussische Grenzregion wurde von den seit dem 1. Oktober 2003 geltenden Visumvorschriften noch härter getroffen als das polnisch-ukrainische Grenzgebiet. Sowohl Polen als auch Belarussen müssen für ein einmaliges Visum zehn Euro und für ein mehrfaches Visum fünfzig Euro bezahlen. Kein Wunder, dass die Zahl der Übertritte der polnisch-belarussischen Grenze schon in den ersten Tagen nach den neuen Vorschriften um 90 Prozent zurückging.34

Das Bild, das die Polen von den Belarussen haben, ist nicht so negativ wie im Fall der Russen und vor allem der Ukrainer. In der Grenzregion ist die Einstellung sogar positiver als in anderen, weiter von Belarus entfernten Regionen.35 Trotz der Pathologie der Grenze in Gestalt von Schmuggel, Prostitution und anderen negativen Phänomenen überwiegt das durch die territoriale Nähe erzeugte Verständnis für die schwierige Lage des Nachbarn. Im großen Teil ist das der Verdienst der belarussischen und der polnischen Minderheiten, die in dieser Grenzregion stark vertreten sind und eine Brückenfunktion zwischen den Gesellschaften beider Seiten der Grenze erfüllen.36

Polen und Belarus sollten für die Zusammenarbeit auf der offiziellen Ebene das bereits auf der unteren Ebene vorhandene Potential nutzen. Die Kontakte in der Grenzregion sollten ausgebaut und für die Stärkung der Demokratie in den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kreisen genutzt werden. Das alles kann durch Austausch erfolgreicher als durch die Stärkung des Grenzregimes und die damit verursachte Abgrenzung erreicht werden.

Die polnisch-russische Grenzregion: Grenzhandel bedeutet Überleben

Die polnisch-russische Grenze, die nur 209 Kilometer lang ist, hat große politische und wirtschaftliche Bedeutung. Das Kaliningrader Gebiet wurde von der polnischen Außenpolitik in erster Linie aus dem Blickwinkel der polnisch-russischen Beziehungen, der Zusammenarbeit im Ostseeraum, der NATO-Mitgliedschaft und der EU-Integration betrachtet. Andererseits jedoch wurde bei der Verwirklichung der Prioritäten der polnischen Außenpolitik im Allgemeinen, zu der vor allem der EU-Beitritt gehörte, der Koordination mit der Ostpolitik viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die Grenzregion zwischen Polen und dem Kaliningrader Bezirk ist von dieser negativen Entwicklung in besonders hohem Maße betroffen.37

Die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zwischen Polen und Russland auf der regionalen Ebene wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von den Präsidenten Boris Jelzin und Lech Walesa erkannt. Im Mai 1992 wurde auf der zwischenstaatlichen Ebene ein Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen den nordöstlichen Woiwodschaften Polens und dem Kaliningrader Bezirk unterzeichnet. Man stellte sich als Aufgabe, die gegenseitigen Beziehungen in den Bereichen Bildung, Kultur und Wirtschaft zu verbessern und zu intensivieren.38

Die polnisch-russische Grenzregion befindet sich heute in jenem am wenigsten fortgeschrittenen Stadium der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, das man als “Koexistenz” bezeichnen kann. Dieser Zustand ist an erste Stelle auf den physischen Charakter der Grenze zurückzuführen. Auf der polnischen Seite beträgt die Entfernung von dem nächstliegenden Ort Bezledy bis zur Grenze sechs Kilometer. Auf der russischen Seite liegt Bagratjonovsk, von wo aus es noch 39 Kilometer bis nach Kaliningrad sind. Eine zusätzliche Barriere bildet die Tatsache, dass Fußgänger die Grenze nicht überschreiten dürfen. Hinzu kommen zahlreiche informelle Schwierigkeiten. Eine von ihnen bildet die sogenannte “Pfanne”, eine Autobahnstrecke, an der man für die Grenzabfertigung stundenlang warten muss, es sei denn, man besticht die Grenzbeamten. Die Anfahrt zur polnisch-russischen Grenze, der Grenzübertritt, die Weiterfahrt (für Polen ist das Ziel meistens Kaliningrad und für die Russen Bartoszyce) und schließlich die Rückkehr nach Hause sind mit viel Aufwand, Zeit und Ausgaben verbunden.39

Trotz dieser Schwierigkeiten passierten in den neunziger Jahren immer mehr Menschen die polnisch-russische Grenze. Der größte Zuwachs war in der Anfangsphase des visafreien Grenzverkehrs festzustellen. Während im Jahr 1980 ungefähr 5.000 Personen die Grenze überquerten, waren es im Jahr 1991 über 232.000 Personen. Im Jahr 1993, nach der Eröffnung des Grenzübergangs in Bezledy und der Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs über Braniewo, überstieg die Zahl der Reisenden 1,1 Millionen und im Jahr 1996 zählte man gar 4,2 Millionen Menschen.40

Die Hauptgründe für den Übertritt der polnisch-russischen Grenze bilden der grenznahe Handel und der Schmuggel. Die Region ist in hohem Maße von grenzüberschreitendem Handel abhängig. Nicht nur Bewohner der russischen Seite überschreiten die Grenze, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch für Einwohner der nordöstlichen Regionen Polens, die die höchste Arbeitslosenquote haben, bilden die Grenzmärkte eine Überlebensbasis. Mehrere Tausend Menschen beiderseits der polnisch-russischen Grenze leben von kleinen Geschäften, Kramläden und Verkaufsständen auf den Märkten. Außer den eigentlichen Händlern an den Ständen gibt es in der polnisch-russischen Grenzregion die sogenannten “Ameisen”, Menschen, die die Waren in kleinen, legalen Mengen über die Grenze tragen. Geschmuggelt werden vor allem Alkohol, Zigaretten, Benzin, Gold, elektronische Geräte, Kleider und Lebensmittel.41

In dieser Grenzregion gibt es neben denen, die mit dem grenznahen Handel zusammenhängen, kaum andere Kontakte. Die einzige Migration, die in dieser Region zustande kommt, kann man als “Arbeitsmigration der Arbeitslosen zu illegalen Handelszwecken” bezeichnen. Die Einwohner beider Seiten der Grenze fühlen sich durch eine besondere Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Die sowohl für Polen als auch Russen aus dem Grenzhandel entstehenden Vorteile haben zur Ausprägung einer besonderen Gemeinschaft geführt, die auf der Ähnlichkeit der aktuellen gesellschaftlichen Lage basiert.

Wohin führt die Brücke?

Bei der Ausarbeitung einer neuen Ostpolitik berufen sich polnische Politiker und Wissenschaftler auf die direkte Nachbarschaft mit der Ukraine, Belarus und Russland sowie die damit zusammenhängende grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die grenznahen Gebiete könnten eine Brückenfunktion zwischen der erweiterten EU und den östlichen Nachbarn übernehmen. Damit jedoch die Brücke eine verbindende Funktion erfüllt, muss auf der Basis der territorialen auch die ideologische Nähe, also die Politik der regionalen Nachbarschaft, entwickelt werden. Dazu ist eine grundlegende Reform der Regionalpolitik notwendig. Das Ziel dieser Reform darf nicht die Stärkung der Grenzfunktion zwecks Unterbindung von Schmuggel und der Kriminalität sein. Es ist nämlich zu bezweifeln, dass durch verordnete Initiativen von oben die “graue Zone” in den Grenzregionen effektiv bekämpft werden kann. Viel wichtiger ist die Unterstützung der drei östlichen Grenzregionen Polens durch Initiativen in den Bereichen Kultur und Wirtschaft. Die Zusammenarbeit erfüllt ihren Zweck besser, wenn sich die beteiligten Seiten auf ähnlichem Entwicklungsniveau befinden und zwischen ihnen kein Verhältnis der Abhängigkeit entsteht. Deshalb muss besonderer Wert darauf gelegt werden, dass die grenzüberschreitenden Initiativen gemeinsam verwirklicht und nicht nur von einer Seite entwickelt und dem Nachbarn aufgezwungen werden.

Die größte Herausforderung an der gesamten Ostgrenze Polens bleibt die Verbesserung der Kommunikation. Darunter ist einerseits die infrastrukturelle Entwicklung durch den Weiterausbau der Autobahnen und Grenzübergänge zu verstehen. Noch wichtiger ist jedoch die Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen auf der polnischen Seite der Grenze, damit hier nicht allein Polnisch lingua franca ist, sondern auch die polnischen Einwohner der Grenzregionen wenigstens einige Worte in den Sprachen ihrer östlichen Nachbarn beherrschen. Solange der Osten noch nicht entdeckt worden ist, kann Polen seiner Brückenfunktion zwischen Ost und West nicht wirklich gerecht werden.42

Zum Dokument der polnischen Regierung siehe: "Polityka Wschodnia Unii Europejskiej w perspektywie jej rozszerzenia o panstwa Europy srodkowo-wschodniej - polski punkt widzenia", in: http://msz.gov.pl

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Siehe dazu: Eckart D. Stratenschulte: "Das Brüsseler Illusionstheater - zu Gast in Osteuropa", in: Osteuropa, 6/2003, S. 764-776, hier S. 769; Iris Kempe/Wim van Meurs: "Neues Denken für ein Großes Europa", in: Osteuropa, 8/2003, S. 1149-1157, hier S. 1154.

"W wielkiej grze", in: Gazeta Wyborcza, 02.01.2004; "Rzeczpospolita silna jak nigdy", in: Gazeta Wyborcza, 22.01.2004.

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Marek Proniewski: "Wspolpraca transgraniczna wojewodztwa podlaskiego z Bialorusia i Litwa", in: Polski Instytut Spraw Miedzynarodowych (Hg.): Polskie pogranicza a polityka zagraniczna u progu XXI wieku [Fn. 10], S. 299-321, hier S. 314.

"Ruch na przejsciach granicznych mniejszy niz zwykle", in: PAP, 2.10.2003; "Po wprowadzeniu wiz ruch zmniejszyl sie od 70 do 90 proc.", in: PAP, 4.10.2003.

Zagorski: "Stosunek do sasiednich narodow i Integracji Europejskiej na pograniczu i w pozostalych regionach kraju" [Fn. 29], S. 170.

Andrzej Sadowski: "Nationale Minderheiten als Brücke? Ethnische und konfessionelle Strukturen an der polnischen Ostgrenze", in: Schultz (Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung [Fn. 13], S. 217-236.

Zukowski: "Pogranicze polnocno-wschodnie Polski a polska polityka zagraniczna" [Fn. 16], S. 329.

Wojnowski: "Granica polsko-kaliningradzka 1944-1997" [Fn. 17], S. 260-262.

Zofia Kawczynska-Butrym: "Handel na pograniczu z Obwodem Kaliningradzkim. Wartosc czy zagrozenie - opinie mlodziezy", in: Lubuskie Towarzystwo Naukowe (Hg.): Transgranicznosc w perspektywie socjologicznej [Fn. 24], S. 341-355, hier S. 344.

Sakson: "Pogranicze polsko-rosyjskie w swiadomosci spolecznej" [Fn. 14], S. 34.

Sakson: "Pogranicze polsko-rosyjskie w swiadomosci spolecznej" [Fn. 14], S. 39.

Siehe dazu: Katarzyna Stoklosa: "Laboratorien der Einigung. Grenzregionen am EU-East-End", in: Osteuropa, 5-6/2004, S. 496-506.

Published 17 January 2005
Original in German

© Katarzyna Stoklosa Eurozine

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