Der russische Underground-Künstler und Dichter Dimitri Prigow ist am Montag im Alter von 66 Jahren gestorben. Prigow galt als einer der wichtigsten Poeten der spät- und post-sowjetischen Ära. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und mit Live-Auftritten immer wieder Aufsehen erregt. Prigow war einer der wenigen russischen Künstler, die es vor und nach dem Ende der Sowjetunion gab. Kunst und Macht war eines seiner Dauerthemen.
Dimitri Prigow war fast alles: Schriftsteller, Performance-Künstler, Soz-Artist (eine Mixtur aus Sozialistischem Realismus und Pop-Art), Zeichner. Vor allem war der “Patriarch des Moskauer Konzeptualismus” ein Maximalist: Er hat mehr als 25.000 Gedichte geschrieben und etliche Tausend Lesungen absolviert. Der Kulturtheoretiker Boris Groys bezeichnete Prigows maximalistisches Dichtungsprojekt – drei Texte pro Tag – als “wichtigste Unternehmung des romantischen Moskauer Konzeptualismus”.
Zusammen mit Lew Rubenstein galt er als führende Persönlichkeit des so genannten Konzeptualismus, der visuelle Performances als Kunstform in Russland etablierte. Bizarres Ende des Konzeptualisten: Am Vorabend einer Performance, bei der Prigow auf einem Schrank sitzend und seine Texte rezitierend zweiundzwanzig Stockwerke der Moskauer Universität emporgetragen werden sollte, erlitt der Autor einen Herzinfarkt. Seitdem befand er sich in ärztlicher Behandlung.
Worum es in der (sowjetischen) Kunst eigentlich ging, hatte Prigow, der in der Zeit von Chruschtschows Tauwetter, in der “vegetarischen Phase des Kommunismus” (Anna Achmatowa) am Moskauer Stroganow-Instut zum Bildhauer ausgebildet wurde, rasch erfahren: Nur seine allerblödesten Skulpturen durften in Kindergärten oder auf Kinderspielplätzen aufgestellt werden. Die bildhauerische Arbeit am Sozialismus verwandelte sich in den 1970er Jahren in das monumentale Projekt, eine Bestandsaufnahme alles Sowjetischen in Gedichtform zu machen – die besagten 25- bis 26.000 Texte.
Dichter waren damals ohnedies so etwas wie Pop-Stars – und Prigow schrieb über alles: über Küchenschaben, Milizionäre, über Catull und Reagan, russische Mythen wie die Schlacht auf dem Schnepfenfeld, sämtliche Zentralsekretäre der KPDSU, über Hitler, Eva Braun bis zu Arnold Schwarzenegger und Wladimir Putin – über alles, was politisch korrekt und inkorrekt war. 1986, im zweiten Jahr der Perestrojka, wurde Prigow für seine literarisch-aktionistischen “Aufrüfe an die Bürger” in die Psychiatrie gesteckt, nach internationalen Protesten sogleich aber wieder freigelassen. 1993 erhielt er den in Deutschland gestiftenen “Puschkin-Preis”.
Als einer der wenigen Vertreter der russischen literarischen Avantgarde mit Bekanntheit im In- und Ausland ergriff Prigow in den letzten Jahren vermehrt gegen die Umtriebe so genannter Patrioten aus dem Umkreis des Kreml auch öffentlich das Wort. Der sowjetische Umgang mit Kunst – Zuckerbrot und Peitsche, Maulkorb und Privilegien – erlebt heute eine bizarre Wiederkehr: Wird im New Yorker Guggenheim so genannte Undergroundkunst gezeigt, reist natürlich Wladimir Putin zur Eröffnung an.
“Das Problem besteht darin, dass die Macht-Elite – und das ist in Russland zugleich die politische Elite – heute über außerordentlich viel Geld verfügt”, meinte Prigow bei seinem letzten Wien-Besuch anlässlich der Präsentation seines Romans “Moskau-Japan und zurück” (im Original: “Nur mein Japan”) im März dieses Jahres. “Geld ist der einzige Bereich, in dem es Macht und Prestige gibt. Das Geld wird in den Westen verschoben, der Westen kommt auf dieser Ebene zu uns.” All das dient der Errichtung einer Vertikale der Macht – und genau dagegen kämpfte Dimitri Prigow sein Leben lang an.
Gegen die traditionelle Auffassung vom Dichter, der in Russland mehr als ein Dichter sein soll, rezitierte er ekstatische “Asbuki”, “Alphabete”, in deren Verlauf eine ganze Weltgeschichte an Berühmtheiten niedergemetzelt wird. Das Ganze in Begleitung von Jazz-Größen wie Mark Pekarski oder Tarassow. Übrig blieb nur der letzte Buchstabe des russischen Alphabets: JA – Ich. Das war natürlich Prigow.
“In der Literatur gibt es leider noch immer kein gutes Bewertungs-System, das dem in der Musik vergleichbar wäre”, meinte Prigow. “Man braucht verschiedene Kategorien wie ‘Der beste Country-Sänger’, ‘der beste Rocksänger’, ‘der beste Pop’. Es geht ja schließlich darum, der Beste in seiner eigenen Kategorie zu sein und nicht darum, sich mit allen zu streiten, wer der beste Musiker überhaupt ist.”
Von der radikal demokratischen, oder genauer gesagt markt-demokratischen parodistischen Kategorisierung waren nur zwei ausgenommen: Puschkin und natürlich Prigow selbst.
Prigows Prosa ist eine durch apokalyptisches Understatement sich auszeichnende Beschreibung der Welt, in der man eigentlich nicht leben kann. Mit fröhlichem Sarkasmus versuchte Prigow in einer seiner letzten Performances einer Katze das Reden beizubringen. “Skaschi Rossija” – “Sag Russland” – wiederholte er immer wieder, als wäre dadurch Realität zu gewinnen. Die Katze sagte schließlich “miau” und verschwindet.
Ohnedies gab es für den Stachanowec, den Stachanow/Arbeiter der russischen Literatur nur eine Form zu überleben: durch Arbeit. Zuletzt war ein weiterer 600-seitiger Roman erschienen, “Renat und der Drachen”, eine Geschichte der Unschuld und Monstrosen.
In letzter Zeit hatte er sich wieder vermehrt der bildenden Kunst zugewandt. Im Rahmen der Moskauer Kunstbiennale war er in diesem Frühling gleichzeitig an vier Ausstellungen beteiligt. Auf einem der ausgestellten Bilder war Prigow als leidender Christus zu sehen, mit grünem Glibber überschüttet.
Seinen Vorschlag, in der staatlichen Tretjakow-Galerie alle russischen Realisten endgültig zu überhängen, hätte ihm aber wohl ein alter Bekannter nicht erlaubt: der Milizionär; die von Prigow vielfach bedichtete Figur des mythisch überhöhten Ordnungshüters zwischen Himmel und Erde. Und der war und ist in Russland nicht so leicht loszuwerden.
Auf seinem Posten steht der Milizionär
Bis weit nach Wnukowo lässt er die Blicke schweifen
Nach Westen und nach Osten blickt der Milizionär
Dahinter ist es nur noch wüst und leer
Doch auf die Mitte mit dem Milizionär
Eröffnet sich der Blick von allen Seiten
Von allen Seiten blickt man auf den Milizionär
Von Osten blickt man auf den Milizionär
Von Süden blickt man auf den Milizionär
Vom Meer her blickt man auf den Milizionär
Vom Himmel blickt man auf den Milizionär
Und aus der Erde auch… Denn er versteckt sich nicht
Published 18 July 2007
Original in German
First published by Eurozine
© Erich Klein / Eurozine
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