“Parasit (griech., ‘Tischgenosse’), bei den alten Griechen Gehilfe eines Beamten, namentlich einer, der mit der Einsammlung der Getreidelieferungen für Tempel beauftragt war; auch einer, welcher auf öffentliche Kosten gespeist wurde; dann in übler Bedeutung s. v. w. Schmarotzer. Das Parasitenwesen im letztern Sinn fand von Griechenland aus in Rom Eingang und erhielt besonders hier die Ausbildung zu einem eignen Gewerbe und Stande.”
(Meyers Konversationslexikon 1885-92, 12. Bd., S. 712)
Das Phänomen, um das es hier im Versuch einer soziologischen Deutung aktueller architektonischer und urbanistischer Debatten geht, ist die Dekonstruktion im übertragenen Sinn: Während die zahlreichen Rekonstruktionen bei der Bevölkerung zumeist auf einhellige Zustimmung stoßen und von ihr in sozialen Bewegungen initiiert werden, gibt es zeitgleich – nicht früher, so dass die Rekonstruktion als Abwehrbewegung der Dekonstruktion zu verstehen wäre oder umgekehrt – eine bemerkenswerte Bauweise der zeitgenössischen Architektur: Dekonstruktion respektive Deformation als prägnante architektonische Entwurfsweise und Gestalt. Längst beschränkt sie sich nicht mehr auf wenige herausgehobene ArchitektInnen. Man sieht es an den Entwürfen aktueller Studentengenerationen, wie resonanzfähig diese Architektur ist – zumindest in der Disziplin. Und ob in Form der Blobs oder der Dekonstruktion im engeren Sinn, der “Ästhetik des von der Lenksäule durchbrochenen Brustkorbs” (Wolf D. Prix) oder der archaisch-wuchtigen Baukörper im “Anti-Gravitations-Kunstgriff” Hadids: Es handelt sich um eine durchgehend anti-orthogonale Architektur. Die Gemeinsamkeit der Entwurfsweise ist es, die dazu berechtigt, von einem übergreifenden dekonstruktiven Bauen zu sprechen: die schrägen Wände, Böden und Stützen, die Ineinanderfaltung der Räume, die Irritation der tektonischen und funktionalen Anschauung. Noch vor der philosophischen “Dekonstruktion” handelt es sich zunächst schlicht um eine De-Konstruktion herkömmlicher Prinzipien der Architektur. Jenseits aller Differenzen ist ihr der Lärm gemeinsam: Es ist eine spektakuläre, laute Architektur. Zumindest im europäischen Kontext erzeugt diese Architektur entsprechend Gegenlärm – Volksentscheide; Körperreaktionen; Subversionen; Debatten, die an die 1920er Jahre erinnern: Der Sichtbeton wird nach wie vor als unmenschlich empfunden; Dächer seien kein skulpturaler Selbstzweck; die Spektakelbauten zerstörten Urbanität.
Architektursoziologisch führt der Konflikt zwischen beiden zeitgenössischen Architekturen, zwischen Dekon und Reko (daneben wäre als dritte Variante noch die Fortführung der Moderne zu berücksichtigen), tief ins Innere der Gegenwartsgesellschaft. Es zeigt sich darin mehr als das spezifisch moderne Phänomen der Avantgarde, zu deren Geschäft es gehört, zu provozieren, das an sich im Übrigen bereits interessant in Hinsicht auf den Charakter der Vergesellschaftung ist. Es zeigt sich auch mehr als die Verfassung des gegenwärtigen Kapitalismus, in der die Architektur als Aufmerksamkeitsgarant der postfordistischen Konsumgesellschaft funktioniert: einer Gesellschaft eines neuen “Erregungszustandes”, in der alles zur Werbung gerinnt, nicht zuletzt die Architektur. Die soziologisch interessante Frage ist noch weiter: warum unsere Gesellschaft gerade auf diese gebaute Gestalt ihrer selbst kommt, denn ob in Form von Blasen oder Falten, sie kommt auf Baukörper wie aus einer anderen Welt. Die Gesellschaften weltweit investieren in gerade diese Gestalt ihrer selbst: in extraterrestrisch daherkommende, wuchtig schwebende Massen, deren befremdendste Formen wohl noch ungebaut sind – man denke an die Entwürfe von Lebbeus Woods.
Architektur als Medium des Sozialen
Man muss sich, um die Frage nach der sozialen Bedeutung dieser Architektur zu beantworten, zunächst klar machen, dass die Architektur eine spezifische Effektivität für das Soziale hat: Als räumliche Gestalt der Gesellschaft schafft sie eher deren soziale Einteilungen, Klassifikationen, Hierarchisierungen und Begehren, statt diese nur noch zu spiegeln oder auszudrücken. Sie gibt ihnen erst eine Form und damit Existenz. Cornelius Castoriadis hat entlang dieser Überlegung darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft stets eine imaginäre Fixierung ist: eine “imaginäre Institution”. Grundlegend hat man es im Sozialen zunächst mit einem ständigen Wandel zu tun, einem Wandel der Einzelnen, ihrer Begehren, Wahrnehmungen, Vorstellungen. Was es gibt, ist das ständige Anders-Werden. Die Gesellschaft nun muss sich diesen Wandel vor sich selbst verleugnen: Sie kann sich nicht vorstellen, je ganz anders gewesen zu sein und je ganz anders zu werden. Jede Gesellschaft schafft sich ein Nacheinander der Einzelnen, eine Geschichte und eine Zukunftsvorstellung. Jede schafft sich eine Zeiteinteilung, eine je spezifische Zeitlichkeit (im Kapitalismus ist es – so Castoriadis – die Vorstellung einer unendlichen, sich akkumulierenden Zeit, während andere Gesellschaften eher zyklisch denken). Jede Gesellschaft schafft sich aber auch ein je spezifisches Nebeneinander der Einzelnen: eine räumliche Gestalt, die keine bloße Hülle ist, sondern die Art, “in der sich das Gesellschaftlich-Geschichtliche selbst entfaltet” (Castoriadis 1984, S. 370). Jede Gesellschaft schöpft sich in dieser Weise, indem sie sich eine zeitliche und räumliche Gestalt gibt, selbst: Die Gesellschaft ist “Selbstschöpfung und sonst nichts”. Jede Gesellschaft setzt sich dabei eine zentrale Bedeutung ihrer selbst, sie gibt sich ein “zentrales Imaginäres”, das entscheidet, welches Selbstverständnis die Einzelnen entfalten, wonach sie streben, zu welchen Subjekten die Einzelnen werden. Dieses Imaginäre ist als Imaginäres auf das Symbolische verwiesen: auf einen sicht- und greifbaren Außenhalt, der es ständig erneut in den Einzelnen konstituiert, ihnen klar macht, in welcher Gesellschaft sie leben, in welcher Position sie sich in ihr befinden, welches Verhältnis zu Natur, Vergangenheit, Öffentlichem gilt.
Eine Form dieses Symbolischen ist die Architektur, die demnach nichts einfach spiegelt. Etwa die leichten, normierten Baukörper der Moderne: In ihnen formiert sich eine kontingenzbewusste, technische Massengesellschaft. In ihrer Architektur wird diese Gesellschaft für jeden Einzelnen sicht- und körperlich erfahrbar. Und dazu bedarf es nicht nur einer bestimmten Form, sondern auch bestimmter Materialien, die nämlich eine homogene Oberfläche und eine neue Leichtigkeit erlauben. Zugleich ist – auf einer mikro-soziologischen Ebene – bedeutsam, in welchen “Gefügen” (Deleuze/Guattari 1992) sich die Architektur mit dem Körper verbindet: wie die Faltungen der Wände, die Treppen und Öffnungen und vor allem auch das Mobiliar mit den je spezifischen Materialien je Bewegungen, Haltungen, Blicke und Affekte evozieren und nahelegen.
Die soziologische Frage an die zeitgenössische Avantgarde-Architektur ist also, welches Imaginäre unsere Gegenwartsgesellschaft hat. In jedem Fall handelt es sich erneut um eine Architektur mit sozialem Anspruch: Auch sie zielt darauf, die Einzelnen zu ihrer Idee der Gesellschaft hinüber zu ziehen (und sei es “latent”, s. Hadid & Schumacher 2003). Bevor man aber diese Frage an die Dekonstruktion stellt, lohnt es sich, sich noch einmal kurz zur Moderne zurückzuwenden: zum Prinzip Konstruktion als historischem Apriori der De-Konstruktion. Ohne Zweifel sind seither andere Entwurfsprinzipien möglich. Aber sie beruhen auf den hier entdeckten Prinzipien einer entbundenen Kreativität mit einem hohen sozialen Anspruch, einer gleichermaßen kreativistischen wie sozialtechnischen Haltung. Soziologische Theorien kennen dann auch den Begriff der Re- und De-Konstruktion nicht. Stets war für die Soziologie das Prinzip der modernen Gesellschaft Konstruktion: das Bewusstsein, dass Gesellschaft machbar ist. Dies ist bereits der Subtext der Vertragsdenker des 17. Jahrhunderts, dieser ersten soziologischen Theoretiker (Beispiele sind Thomas Hobbes und John Locke). Und es ist auch die Überzeugung der modernen Architektur – in ihrem demiurgischen Zug, der entlang jener “Wirklichkeitskonstruktion” der Moderne, die sich aus der Säkularisierung und ihren neuen Wissens- und Möglichkeitsspielräumen erklärt, auf die “Neukonstruktion des sozialen Raumes” zielt (Makropoulos 1997, S. 90f. und 97).
Das Prinzip “Konstruktion”: Kontingenzeinübung der klassischen Moderne
Einerseits ist man hier, in den 1920er Jahren, noch immer empört über die “bauliche Verwilderung” der Gründerzeit (Müller-Wulckow 1928, S. 8). Andererseits gibt es eine soziale Empörung. Unerhört ist die Tatsache, in “soziale[n] unzulänglichkeiten” zu stecken: “Immer noch wohnen millionen menschen in hinterhäusern … immer noch können von solchen vermauerten lebensräumen her stimmen zu uns dringen”, die mahnen, an die “masse mensch zu denken, an den stoff, der zu verarbeiten ist, wenn wir die zukunft vollendeter organisation und geistigkeit gewinnen wollen” (Kállai 1928). Neu ist das Bewusstsein, die soziale Krise nur mit architektonischen Mitteln lösen zu können. Es wird diese Architektur sein, die sich die technisierte Massengesellschaft wählt. Alles kommt auf den Prüfstand: Material, Form, Konstruktion; Produktionsweise; räumliche Anordnungen. Städtebaulich werden Häufungen reduziert und Bewegungen vervielfacht, in der Funktionstrennung mit Spielraum für Grünflächen, Sport und Verkehr. Die “lebensvorgänge” werden auf eine geradezu cartesianische Weise neu verteilt. Man definiert die vertrautesten Dinge neu, um clare et distincte die Bedürfnisse der Zeit zu erkennen.
Worauf es ankommt, ist Durchlässigkeit. Man löst die “masse der wand, woran alles ,außen’ bisher zerbrach” auf, so dass sich ein Fließgleichgewicht zwischen BewohnerInnen und Umwelt herstellt, eine Offenheit der sozialen Beziehungen (Ebeling 1926, S. 8-12 und 19ff.). Wie die Gestalt der Architektur durch Leichtigkeit auffällt, durch dünne Stahlstützen und Wände wie aus Papier, so liegt die Aufmerksamkeit auch auf einer Leichtigkeit im Inneren: auf der Beziehung der Architektur zum Körper, der Frage, welche Bewegungen sie ihm ermöglicht. Dieser Körper (von dem Spinoza sagte, es habe noch niemand festgestellt, “was er vermag”) wird befreit von “großen schweren Massen”. Die Architektur soll derart beschaffen sein, dass sie “keine Reibung zwischen der Organik und Dynamik körperlich-menschlicher Lebensfunktionen” erzeugt, sie soll dem Körper lediglich ein ‘räumliches Bett’ bieten, in dem man liegen, gehen, stehen kann, wie es einem passt (Kallai 2003 [1926], S. 15). Daher sind die Dinge leicht und reduziert. Sicher geht es auch um ökonomische Effizienz: um billiges Bauen. Aber es geht kaum um Einsparung an sich, vielmehr um die Optimierung des Sozialen. Je “ungehemmter” der Einzelne wird, desto höher wird sich auch das “soziale niveau” entfalten (Gropius 1931). Es aktualisiert sich in dieser seriellen Architektur eine Massengesellschaft, die auf Mobilität und Technik setzt: auf die Überwindung der “Erdenträgheit” (Gropius 1925, S. 8). In mehrfacher Hinsicht handelt es sich um die Idee, die Architektur müsse das Leben befreien – vom Ewigkeitswert der Architektur, den damit einhergehenden Gefühlen und Routinen. Die Gestalt, die sich das Gesellschaftliche wählt, ist zunächst gewöhnungsbedürftig, erzeugt Aggression, bevor man sich daran gewöhnt hat – an Einbauküche, große Fenster, ornamentlose Flächen.
In der Tat hat sich wohl die Gesellschaft mit und in dieser Architektur transformiert – in eine Gesellschaft des technischen Zeitalters; in eine Gesellschaft mit einem artifiziellen Natur- und Gesellschaftsverhältnis, deren Prinzipien Risiko, Kontingenz, Mobilität sind. Die nach dem Kontingenzprinzip funktionierende Gesellschaft kann sich in der Tat kaum in einer traditionellen Architektur instituieren. Für sie ist die Geschichte sinnlos geworden. Es aktualisiert sich in der Architektur ein neues Verhältnis der Generationen – einer Architektur, die auf die Lösung von der Geschichte angelegt ist. In den geordneten seriellen Siedlungen rücken soziale Ungleichheiten aus der Anschaulichkeit; für Zeitgenossen ist es bereits Tatsache, dass die Schichten im selben Grad zusammenfinden, in dem die Bauten sich gleichen (o. A. 1929, S. 35). Und es ist schließlich eine Architektur, die den Vorschein des “Weltalters des Ausgleichs” erzeugt (Scheler 1976 [1927]) – für einen kurzen Moment, bevor zunächst das Begehren nach der Volksgemeinschaft, dem baulichen Gesicht des deutschen Hauses einsetzt und danach die Hochphase des Konstruktivismus, nämlich seine weltweite Verbreitung, beginnt.
Das Prinzip “Dekonstruktion”: Parasitäre Architektur der aktuellen Moderne
Was erfindet nun – 50 Jahre später – die Gesellschaft im Lärm des dekonstruktiven Bauens Neues, worin liegt die soziale Produktivität dieser Architektur? In dieser Frage nach dem kollektiven “Imaginären” (Castoriadis), das sich in der aktuellen Architektur aktualisiert, hat man sich zunächst an deren Expressivität zu halten: an die – stets expressive und vornehmlich visuell wahrgenommene – Gestalt der Architektur, das Gesicht, das sich in ihr die jeweilige Gesellschaft schafft. Und es ist nützlich, noch einmal einen Moment zurückzublicken, nun nicht auf das Konstruktionsprinzip als moderne Geisteshaltung, sondern auf den Ursprung dieser spezifisch dekonstruktiven Geste in den 1960er Jahren. Im Kontext der neuen gesellschaftskritischen Bewegungen entstand bereits hier jene Anti-Architektur, welche die Ordnung der Moderne und natürlich auch den Stein- und Ewigkeitsgedanken der Vormoderne auszuhebeln suchte. Entworfen wurden – niemand weiß es besser als die WienerInnen – mobile, leichte und obskure Gebäude aus pneumatischen Hüllen, individuelle Ausflüchte aus der verwalteten Welt. Werkbiografisch ist auch interessant, dass Zaha Hadid 1977 mit einer Arbeit zu Kasimir Malewitsch beginnt: Malewitsch, der mit dem Manifest des Suprematismus die Idee einer schwerelosen Architektur formuliert hat, einer Architektur, die weder oben noch unten, weder hinten noch vorn kennt. Bereits Malewitsch hatte mit dieser dekonstruktiven Idee eine eminent soziale Wirkung beansprucht. Er wollte jede Vorstellung von Macht, von sozialer Ungleichheit aus der Anschauung der Gesellschaft ausschalten, im Wissen darum, dass soziale Unterschiede stets symbolisch erzeugt werden, und zwar zuallererst durch die Architektur. Die ArchitektInnen sind es, die die Unterschiede schaffen, einfach indem sie stets erneut Vorder- und Rückseite und Etagen bauen. Sie sind damit auch diejenigen, die es in der Hand haben, den Einzelnen jede hierarchische Vorstellung auszutreiben (Malewitsch 1962 [1927], S. 61ff.). Es gibt dieses Moment in der Tat erneut im dekonstruktiven Bauen: die gezielte Verwischung von Statusunterschieden; von Differenzen des Öffentlichen vom Privaten; die Erfindung neuer Affekte und Bewegungsweisen, indem herkömmliche Raumdefinitionen ausgesetzt werden und indem im Äußeren alles daran gesetzt wird, die Architektur in Bewegung zu bringen. In ihren durchweg dynamischen Gesten geht es um nichts weniger als die soziale Imagination: Das Soziale soll in Bewegung kommen, sich dynamisieren.
Alle Varianten des deformativen respektive dekonstruktiven Bauens verfolgen neben der Dynamisierung durch schräge Wände und/oder organisch geformte Flächen eine zweite Strategie. Konstruktion, es wurde oben gesagt, ist die ideelle Voraussetzung der De-Konstruktion. Ihr gemeinsames Prinzip ist die Ausreizung des Möglichkeitssinns: Man kann alles konstruieren, alles anders machen. Alles im Sozialen ist kontingent, es ist immer auch anders möglich. Und die spezifische Strategie des dekonstruktiven Bauens in diesem konstruktivistischen Zug der Moderne ist nun wohl: das Parasitentum. Hier lohnt es in der Tat, kurz auf den philosophischen Dekonstruktivismus zu blicken. “Jenseits eines Ortes, an dem eine harmonische Komplementarität gefunden werden kann” verfolgt dieser Dekonstruktivismus eine “parasitäre Lektürestrategie” (Stäheli 2000, S. 19f.). Moderne und Vormoderne werden nämlich so gelesen, dass ihre immanenten Störungen, ihre unausweichlichen Fehlstellen ins Zentrum rücken. Die Dekonstruktion wäre dann jene parasitäre Strategie, die immanenten Brüche der Moderne, die bisher harmonisch überdeckt wurden, zu artikulieren, und zwar als notwendige Brüche angesichts der Unmöglichkeit der Ordnung im Sozialen, dem ständigen Wandel, dem Anderswerden, wie es Castoriadis etwa als den Grund des Sozialen annimmt.
Diese Strategie, die Brüche und damit die neuen Möglichkeiten der aktuellen Vergesellschaftung sichtbar zu machen, steckt vielleicht auch in der dekonstruktiven Architektur. Parasitär ist die dekonstruktive Architektur in jedem Fall: Nur als Singuläre tauchen ihre Baukörper in den Städten auf, nicht in Horden. Sie nistet sich ein in die geordneten Räume der modernen und in die romantischen Winkel der europäischen Stadt, wie es eben die Art des Parasiten ist, der sich einen “angenehmen” Ort sucht, um dort seinen Lärm zu machen, produktiv zu stören, durch Nicht-Ordnung neue Bewegungen herauszufordern (Stäheli 2000, S. 20, Fn. 16). “Der Parasit ist ein Agent infinitesmialer Veränderung … Er ist ein kleiner Unruhestifter”. (Serres 1981, S. 302f.) Der (metaphorische) Parasit stört nicht nur. Er macht nicht nur auf Blindstellen aufmerksam, insbesondere auf die desintegrativen, exkludierenden Effekte eines statischen und hierarchisch segmentierten Gesellschaftsbildes. Er ist vielmehr auch kreativ. In ihm schafft sich die Gesellschaft selbst einen Ort für den Einbruch des Neuen. Sie hält sich in ihrer neuen Architektur offen gegen ihre eigenen Schließungstendenzen, etwa gegen die Gefahr zu einseitiger Rekonstruktionsbewegungen, zu einseitiger Verortungen in der Geschichte, die ausblenden, dass die moderne Gesellschaft eine auf Innovation, auf das Neue setzende Gesellschaft ist, eine kontingenzgewitzte und kontingenznutzende Gesellschaft. “Wenn man uns vorwirft, daß unsere Gebäude Unruhe stiften”, fragt sich Wolf D. Prix, “was man erzielen will – möglicherweise das Gegenteil, nämlich Ruhe und Ordnung” (Prix 2006 [1999], S. 207), während doch allein die Unruhe produktiv ist.
Sicher, man macht sich lustig über den Parasiten; man schlägt ihn. Aber der Parasit, so ungeliebt er ist: Nur er “erfindet etwas Neues”. Der Lärm, den er macht, hat insofern stets einen produktiven Aspekt (Serres 1981, S. 58 und 103). Und so läuft auch im Fall der dekonstruktiven Architektur vielleicht alles in der “Weise ab, als ob es einen Mechanismus gäbe, der die Neutralisierung der Störungselemente und schließlich deren Integration erlaubt in eben dasjenige, wogegen sie sich stellen” (Maffesoli 1979, S. 50). Im Übrigen setzen bereits die gesellschaftlichen Diskurse selbst aktuell am Begriff des Kreativen an, am sich selbst verwirklichenden Subjekt als der Subjektivierungsform der Gegenwart. Dies entspricht in vielem dem aktuellen Postfordismus (vgl. Bröckling 2007). Aber es geht nicht in bloßer Manipulation auf – genauso wenig wie die Architektur. In der Tat könnte also das, was die dekonstruktive Architektur uns zeigt, mit unserem Begehren nach dem Neuen, Unvorhersehbaren zusammenhängen – sofern unsere Gesellschaft von anderen vielleicht am tiefsten darin differiert, dass sie das Neue sucht, sich selbst – als Gesellschaftsprinzip – für Unvorhersehbares offen hält. Sie legt es in ihren dekonstruktiven ArchitektInnen innerhalb einer auf das Neue konditionierten Profession (im Gegensatz zur sozialistischen Moderne und jeder traditionalistischen Gesellschaft) auf die Selbstüberschreitung an. In gesteigert kreativistischer Haltung schafft die dekonstruktive Architektur der Gesellschaft erneut ein nie gekanntes Gesicht, in Verabschiedung aller posthistoire-Thesen. In all dem ist sie zutiefst eingebettet in die Moderne, von ihrem Kontingenzbewusstsein profitierend, das sie radikalisiert und öffnet: Es wird nicht mehr in Reih und Glied gebaut.
All dies passiert zeitgleich und gegenläufig – eine Gesellschaft, die sich einerseits über ihre bürgerlichen Herkunftsorte zurückbeugt und andererseits eine futuristisch wirkende, funktional und statisch irritierende, alles andere als sich einfügende Architektur schafft. Es gibt angesichts dieser konträren architektonischen Bewegungen unserer Gesellschaft offensichtlich kein singuläres Imaginäres, kein allein gültiges kollektives Begehren. Vielmehr gibt es tiefe Konflikte angesichts des aktuellen Anders-Werdens des Gesellschaftlichen. Wissenssoziologisch weist beides – das kontingenzbewusste und das historische Denken – auf die sich gegenseitig anfeuernden Episteme der Moderne: auf ein Gegensatzpaar, das voneinander abhängig ist (Mannheim 1984 [1925]). Kaum hat man es also mit der Opposition von arrivierter Avantgarde (getragen von den BildungsbürgerInnen) und einfachem Geschmack (getragen von den Unterschichten) zu tun. Vielmehr haben beide Lager ihre BildungsbürgerInnen und ihre ArchitektInnen. Beide Architekturen aktualisieren vielmehr kontroverse Gesellschaftsimaginationen – hinsichtlich der Zeitlichkeit, des Politischen, der sozialen Segmentierung.
Zum Schluss noch kurz anthropologisch und nicht soziologisch spekuliert: Warum sind es extraterrestrisch scheinende Gestalten, die sich die Gesellschaft in ihrer Architektur wählt? Abgesehen von dem größtmöglichen Akt der Befremdung, den man mit außerirdischen Gestalten erzielen kann, dem größtmöglichen Störakt, der größtmöglichen Parasitologie – vielleicht bereitet sich hier noch ein Zug der Zeit vor, der den ArchitektInnen selbst ganz unbewusst bleibt, nämlich der Ausflug der Gattung ins All, die Vorbereitung darauf, andere Planeten zu besiedeln. Dies jedenfalls wäre einer Lebensform angemessen, deren élan vital unter allen am größten ist.
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