Österreich oder ein Abgrund von Demokratieverrat

Das hat auch die von Skandalen allzu oft heimgesuchte Alpenrepublik noch nicht erlebt: Nach Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt, im Finanzministerium und in der ÖVP-Zentrale erklärte Bundeskanzler Sebastian Kurz am 9. Oktober seinen Rücktritt. Es war und ist allerdings kein richtiger Rücktritt, sondern ein bloß zeitweiliger Rückzug – nämlich aus dem Bundeskanzleramt ins Parlament. Dort wird Kurz als Fraktionschef und ÖVP-Vorsitzender alle Fäden weiter in der Hand behalten. Es ist dies, wie aus der Partei verkündet wird, lediglich ein „Schritt zur Seite“.

Dieser Schritt zur Seite soll dazu führen, dass die massiven Vorwürfe an ihm vorbeirauschen. Im Rücken hat Kurz dabei die Österreichische Volkspartei, die er so kurz und klein bekommen hat, dass sie – bis auf die einsame Ausnahme einer tapferen Tiroler Landesrätin – in blindem Gehorsam hinter ihm steht. Tirols Landeshauptmann Günther Platter, langjähriger Chef der Landes-ÖVP, sagt: „Alle ÖVP-Landeshauptleute, die Landesparteiobleute, stehen einhundertprozentig hinter Sebastian Kurz.“ Kadavergehorsam nennt man so etwas. Wenn die Vorwürfe, wie Kurz hofft, eines Tages vorbeigerauscht sind, will er bei der nächsten Wahl ein triumphales Comeback inszenieren. Das steht zwar nicht in seiner Rücktrittsrede, aber das gehört zum Spielplan. Ein kleiner, ein ganz kleiner Hauch von Reue gehört auch dazu.

Dieser Hauch hat aber den Mundgeruch von Heuchelei, denn er bezieht sich nicht auf die Taten, die die Ermittler zahlreich und säuberlich auflisten und die sich auch aus einem beschlagnahmten umfangreichen Mail- und SMS-Verkehr ergeben. Wegen dieser Taten werfen sie Kurz und seinem Team Korruption und Missbrauch von Befugnissen vor. Die kurze Reue bezieht sich nicht darauf, sondern nur auf den Ton der Kurznachrichten, auf die Fäkalsprache und die Beleidigungen, die es da gibt: Da fliegt der „Oasch“ und der „Arsch“ – bezogen auf Kurzens politische Vorgänger – hin und her. Darauf versucht Kurz nun seine Unanständigkeit zu reduzieren: Das seien „Nachrichten, die ich so definitiv nicht noch einmal formulieren würde, aber ich bin auch nur ein Mensch mit Emotionen und auch mit Fehlern“. Dass es ihm zum Beispiel auch darum ging, „ein Bundesland aufzuhetzen“, um die Regierung zu sprengen, soll auf diese Weise unter den Tisch fallen.

Aus gegebenem Anlass hat es Sinn, sich noch einmal die Wahlkampagne von Sebastian Kurz bei dessen Angriff auf das Kanzleramt anzuschauen: Da lächelt ein junger, etwas pomadiger Mann von den Plakaten und verspricht einen neuen Stil: „Kurz 2017“, steht da, die „0“ ist angekreuzt, als Aufforderung, es auf dem Wahlzettel auch so zu halten. Darunter steht der dicke Slogan: „Ein neuer Stil. Es ist Zeit.“ Sebastian Kurz war da 31 Jahre alt, er hatte versucht, Jurist zu werden, war aber ohne Abschluss geblieben; er hatte, wie es in seiner Biographie heißt, die Politik dem Studium vorgezogen und war schon seit vier Jahren ein sehr netzwerkstarker, ein sehr umtriebiger und sehr machtbewusster Außenminister.

Mit diesem neuen „Stil“ gelang es Kurz, Reinhold Mitterlehner als Vorsitzenden der Österreichischen Volkspartei ÖVP abzulösen und nach Hause zu schicken. „Parteiobmann“ wird dieses Amt in Österreich genannt. Der frischgewählte Parteiobmann Kurz hatte aber mit der alten Partei nicht so viel im Sinn, für ihn war sie das „Team Kurz“. Er setzte also die ÖVP in Klammern, trat unter dem Namen „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei (ÖVP)“ und mit einer raffinierten Kampagne zur Nationalratswahl an. Daraus ging seine „Liste Sebastian Kurz“ als stimmenstärkste Partei hervor.

Kurz wurde Bundeskanzler der Republik Österreich und begann mit der Rechtsaußenpartei FPÖ zu regieren. Das war, nur so zum Vergleich, als ob in Deutschland die AfD die Macht mitübernommen hätte. Was seitdem an Seltsamkeiten bekannt wurde, geht, wie man so sagt, auf keine Kuhhaut.

„Ein neuer Stil. Es ist Zeit“: Dieser neue Stil war und er ist bis heute ein sehr befremdlicher Stil. Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption hält ihn für schwer kriminell. Sie wirft dem Team Kurz, auch Sebastian Kurz persönlich, schwere Straftaten vor – Straftaten, die nach dem österreichischen Strafgesetzbuch als Verbrechen bestraft werden. Sie hat deswegen Razzien im Kanzleramt, im Finanzministerium und in der Parteizentrale der ÖVP durchgeführt. Es geht um schwere Untreue zu Lasten der Republik Österreich, es geht um Bestechlichkeit, es geht um Falschaussagen. Was die Staatsanwaltschaft auf ihren insgesamt 104 Seiten an Fakten auflistet, ist nicht nur erschreckend, es ist ungeheuerlich.

Man blickt in einen Abgrund von Demokratieverrat. Dieser Abgrund wird von den Ermittlern sauber ausgeleuchtet und penibel kartiert. Aus dem von der Staatsanwaltschaft sichergestellten Fundus von einigen hunderttausend Chatnachrichten wird offenbar und offensichtlich, dass das Team Kurz manipulierte Meinungsumfragen gekauft hat; diese Manipulationen werden aufgelistet. Aus diesen manipulierten Meinungsumfragen wurden dann gekaufte Serien von Kurz nützlichen Texten gestrickt; diese werden von der Staatsanwaltschaft auch aufgelistet. Diese Fake-Stücke wurden im reichweitenstarken Boulevardkosmos des Verlegers Wolfgang Fellner publiziert, zu dem ein Fernsehsender gehört und das Massenblatt „Österreich“. Bezahlt wurde das alles: mit Steuergeldern, aus dem Haushalt des Finanzministeriums.

Auf diese Weise wurde Reinhold Mitterlehner als ÖVP-Parteiobmann niedergeschrieben und niedergesendet; auf diese Weise wurde Sebastian Kurz zu seinem Nachfolger hochgeschrieben und hochgesendet. Wenn manche einwenden, dazu habe es damals wegen Mitterlehners Unbeliebtheit gar nicht solcher Tricksereien bedurft, macht es die Sache nicht besser. Auf diese Weise wurde der Wahlkampf von Kurz, der ihn ins Kanzleramt am Ballhausplatz führte, höchst wohlwollend und manipulativ begleitet. „Projekt Ballhausplatz“ heißt das in den Unterlagen des Teams Kurz, die die Staatsanwaltschaft sichergestellt hat. Von korruptiver Verstrickung der politischen Akteure, also des Teams Kurz, mit einem Medienherausgeber spricht daher die Staatsanwaltschaft.

Ein dreifacher GAU

Wenn das stimmt – und die von der Staatsanwaltschaft aufgelisteten Fakten sprechen eine klare Sprache –, handelt es sich um einen dreifachen GAU: erstens für die Demokratie, zweitens für den Rechtsstaat und drittens für die Pressefreiheit.

Die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft legen nämlich nahe, dass sich ein Verleger zum Mietling des Teams Kurz hat machen lassen: Frisierte und verfälschte Inhalte wurden zur Manipulation der öffentlichen Meinung verwendet – bezahlt mit Steuergeldern, aus dem Haushalt des Finanzministeriums. Strafrechtlich firmiert ein solches Vorgehen als Verbrechen der Untreue in einem besonders schweren Fall nach Paragraph 153 des österreichischen Strafgesetzbuchs. Das ist, so steht es im Absatz 3, „mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen“. Wegen solcher Straftaten wurden einem früher „die bürgerlichen Ehrenrechte“, also das Wahlrecht und die Wählbarkeit, entzogen.

Die neuen Vorwürfe, wegen denen Kurz jetzt auf Druck seines grünen Regierungspartners zurückgetreten ist, kommen zu den alten hinzu: Am 6. Mai 2021 informierte die Korruptionsstaatsanwaltschaft den Kanzler Kurz davon, dass er im Zusammenhang mit der Ibiza-Affäre als Beschuldigter gilt. Diese war von der „Süddeutschen Zeitung“ und vom „Spiegel“ aufgedeckt worden: Heinz-Christian Strache, bis zur Affäre FPÖ-Vizekanzler in der Regierung Kurz, und Johann Gudenus, bis dahin Nationalratsabgeordneter und geschäftsführender FPÖ-Klubobmann, hatten sich mit einer angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen in einer Villa auf der spanischen Insel Ibiza getroffen. Dabei hatten sie in stundenlangen Gesprächen und Verhandlungen ihre Bereitschaft zur Korruption und zur Umgehung der Parteifinanzierungs-Gesetze erklärt – und dabei auch von der Übernahme der Kontrolle über parteiunabhängige Medien schwadroniert.

Kanzler Kurz werden in diesem Zusammenhang von der Staatsanwaltschaft Falschaussagen vorgeworfen. Die weiteren Ermittlungen weisen nun darauf hin, dass er womöglich nicht nur falsch ausgesagt hat; sondern dass er das, worüber Strache und Gudenus schwadroniert haben, selber praktiziert hat – wenn die Vorwürfe zutreffen. Man wünscht sich, im Interesse von Demokratie, Rechtsstaat und Pressefreiheit, dass sie nicht zutreffen. Angesichts der Dichte der Fakten gibt es da aber wenig Anlass zur Hoffnung.

Wie ein Stück von Karl Kraus

Der Nicht-mehr-Kanzler Kurz argumentiert nun damit, dass er nicht selbst an den strafbaren Taten beteiligt gewesen sei. Im Fernsehinterview der Nachrichtensendung „Zeit im Bild 2“ gab er vor, nicht zu wissen, welche Mitarbeiter da irgendwo und irgendwie tätig geworden sind. Er tat so, als habe er mit alledem nicht so richtig was zu tun, als würde sich das alles ohnehin irgendwann in Luft auflösen. Das wird nicht so sein – schon aus strafrechtlichen Gründen. Denn in Österreich gilt das Prinzip der Einheitstäterschaft. Das heißt: Nicht nur der unmittelbare Täter begeht die strafbare Handlung, „sondern auch jeder, der einen anderen dazu bestimmt, sie auszuführen, oder der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt“. Als Täter wird also auch jemand bezeichnet, der einen anderen zu seiner Straftat bestimmt, also anstiftet; er ist ein „Bestimmungstäter“. Als Täter wird auch jemand bezeichnet, der ihm nur geholfen und zur Tat beigetragen hat; er ist ein Beitragstäter. Das könnte dem Politiker Kurz noch das Genick brechen. Seine Versuche, das alles zu verharmlosen, sind verständlich; sie sind aber, wie das die Juristen nennen, eine „Protestatio facto contraria“. Das heißt: Der Versuch der Verharmlosung steht im Widerspruch zu den Fakten.

Kurz jammerte noch am Abend seines Rücktritts, man könne sich vorstellen, dass er persönlich dankbar wäre, „wenn die Unschuldsvermutung tatsächlich für alle Menschen gelten würde“. Doch dies sind Krokodilstränen. Natürlich gilt für Kurz und Co. die Unschuldsvermutung. Ob und wie und wie streng die Taten zu ahnden sind – das muss erst noch geklärt werden; dafür gibt es die juristischen Verfahren. Aber eine politische Bewertung der Dinge darf und muss jetzt und nicht erst in Monaten getroffen werden; die Fakten liegen ja alle auf dem Tisch. Diese Fakten kriegen Kurz und sein Team nicht dadurch vom Tisch, dass sie die Ermittler als „linke Zellen“ zu denunzieren versuchen, die die „Familie“ angreifen. Familie? Solches Reden klingt nach Mafia.

Im Team Kurz wurde darüber nachgedacht, wie man es inszenieren könne, der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft medial zu schaden. In solchen medialen Inszenierungen, die ja auch Teil der Ermittlungen sind, hat das Team Kurz Erfahrung. Ein mittlerweile suspendierter Sektionschef für Strafrecht im Justizministerium wird beschuldigt, Informationen über bevorstehende Hausdurchsuchungen an die davon Betroffenen weitergegeben zu haben. Eine zentrale Figur des Teams Kurz soll daraufhin noch versucht haben, die Daten auf ihrem Mobiltelefon zu löschen, bevor es die Ermittler beschlagnahmen konnten. Dieses Telefon ist für die Ermittler der Schlüssel zur Aufklärung. Die Hausdurchsuchungen haben schon jetzt zu der politischen Erkenntnis geführt, dass die Kanzlerschaft Kurz eine Heimsuchung war für die Demokratie. Umso bemerkenswerter ist es, wie Kurz alles an sich abperlen lässt – der einst so pomadig Frisierte geriert sich, als sei er in Gänze eingeölt, so dass Vorwürfe nicht an ihm hängenbleiben können. Und wenn das nicht mehr gut funktioniert, dann tritt man eben vorübergehend einen Schritt zur Seite.

Wenn Kurz nun sein Kanzleramt kurzzeitig an seinen bisherigen Außenminister Alexander Schallenberg als Statthalter übergibt, dann klingt das wie der Plot in einem Stück von Karl Kraus. Sebastian Kurz hat sich nämlich seinerzeit, als er ÖVP-Vorsitzender wurde, umfangreiche Rechte zusichern lassen. Er sitzt daher auch als Nichtkanzler auf einem Thron von Befugnissen: Er hat als Vorsitzender umfassende Durchgriffs- und Vetorechte, er hat das Sagen bei der Aufstellung von ÖVP-Kandidaten für den Nationalrat und sonstige herausragende Posten. Kurzum: Er bestimmt weiter die Richtlinien der ÖVP-Politik.

Kraus, der große österreichische Publizist, Schriftsteller, Satiriker und Dramatiker, würde sein Schlüsseldrama „Die Unüberwindlichen“ heute vermutlich mit den Figuren aus dem Team Kurz bestücken. Es stammt aus den Jahren 1927/28 und handelt – schon damals – von journalistischer und politischer Korruption. Karl Kraus hat sich übrigens furchtbar darüber erbost, mit welcher Wurstigkeit Österreicher auf Günstlings- und Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit, Schmiererei und auf sonstige Verkommenheiten reagieren. „Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen“, so schrieb er bitter, „gähnt die Bevölkerung.“ Der Satz ist allerdings schon sehr alt. Er stammt aus der ersten Ausgabe von Karl Kraus‘ „Fackel“, also aus dem Jahr 1899. Womöglich hat sich da in über 120 Jahren doch etwas geändert.

Wie hatte Kurz so schön zum Abschied erklärt: „Mein Land ist mir wichtiger als meine Person. […] Was es jetzt braucht, sind stabile Verhältnisse. Ich möchte daher, um die Pattsituation aufzulösen, Platz machen, um Chaos zu verhindern und Stabilität zu gewährleisten.“ Das war, das ist eine öffentliche Verhöhnung der eigenen Bevölkerung. Die Stabilität, für die Kurz steht, ist die Stabilität der Demokratieverachtung. Wird Österreich es wieder nur mit einem Achselzucken und einem Gähnen zur Kenntnis nehmen, wenn eines wahrscheinlich gar nicht so fernen Tages ein dann natürlich völlig geläuterter Sebastian Kurz erneut nach der Macht im Kanzleramt greift?

Karl Kraus wird immer wieder ein Zitat zugeschrieben, das dazu passen würde: „Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird.“ Es ist dies aber ein Falschzitat; von Kraus stammt es jedenfalls nicht. Und, zu guter Letzt: Es stimmt hoffentlich auch inhaltlich nicht.

Published 29 October 2021
Original in German
First published by Blätter 11/2021

Contributed by Blätter © Heribert Prantl / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine

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