Vom säkularen Geist der Politik

Das Kreuz der Gegenwart. Wer Hegels Wort, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfaßt, als Aktualitätsgebot versteht, der muß sich jederzeit zu allem äußern, um den Nachweis zu erbringen, daß er sich auf der Höhe seiner Zeit befindet. Hegel aber ging es um das bewegende Moment des Geistes im Augenblick seiner Wirksamkeit. Ihm lag daran, “die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen”.

Man muß kein Theologe und kein Rosenkreuzer sein, um das Bild zu schätzen. Das “Kreuz” kann als Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft verstanden werden, und die Rose bleibt in ihrer dornenbewehrten Schönheit ein organisches Produkt der Natur. Und so galt denn Hegel das Gegenwärtige weder als kontingentes Geschehen noch als numinoses Ereignis, sondern als das, was in der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung wohlvorbereitet aufspringt wie eine Blüte und darin mit anschaulich gegebenen Gründen auf bestimmte Folgen verweist.

Hegel hatte, um es nüchtern zu sagen, eine aus dem Selbstverständnis des Menschen folgende Prämisse, die es ihm erlaubte, auf das Wesentliche zu sehen und nicht alles gleichermaßen wichtig zu nehmen. Das Wichtige aber tritt im Ziel hervor, in dem das handlungsleitende Erkennen einen sachlich bestimmten Abschluß finden kann. Der umfassendste Ausdruck für das bewußt vergegenwärtigte Ziel ist der “Sinn”, der dem “Geist” entspricht, aber den Vorzug hat, auch dessen sinnlichen Anteil evident zu machen. Der Sinn umfaßt Empfindung und Gefühl und bezieht damit auch den Glauben ein.

Wird aber der an das Selbstbewußtsein gebundene Geist gestrichen und durch die Ökonomie der Bedürfnisse, die Techniken der Kultur, die Regeln des Diskurses, die Semantik der Bilder oder die Observanz der Medien ersetzt, führt der Aktualitätsanspruch nur zur Multiplikation der Stimmen, die zwar die Pluralität der Meinungen belegt, aber den Rang der Erkenntnis schon wegen des Mangels an Distanz verfehlt. Denn Distanz ist, wenn sie nicht einfach räumlichen Abstand bedeuten soll, nicht ohne Selbstbewußtsein zu haben, das in seinem Bezug auf die Welt eben “Geist” bedeutet. Wem “Geist” verdächtig klingt, der kann ihn sich der Einfachheit halber mit “mind” übersetzen.

Polemische Bemerkung zur politischen Lage. Wohin der Verzicht auf ein gehaltvolles Welt- und Selbstverhältnis führt, hat sich im jähen Interesse an der Religion gezeigt, das nach dem 11. September vor allem die Gebildeten unter ihren Verächtern ergriffen hat. Die antitotalitäre Erosionskraft des Glaubens, dessen weltgeschichtliche Folgen im Zusammenbruch der sozialistischen Systeme für jeden sichtbar geworden sind, hat die religionskritischen Gemüter leider kaum beschäftigt. Aber die auf Sensation berechnete monströse Gewalttat von 2001, deren Urheber neben allem anderen auch noch die Schamlosigkeit besaßen, sich auf religiöse Motive zu berufen, ließ sich schon als Medienereignis nicht übergehen. Und so hat uns die reklamierte Märtyrerschaft islamistisch firmierender Terroristen über Nacht eine Reihe von religionsphilosophischen Experten beschert, die bis dato der Ansicht angehangen hatten, die Opiate des Volksglaubens würden in Kürze auch in den unteren Schichten ihre Wirkung verlieren – zumindest solange es Arbeit gibt, die Renten sicher sind und eine a priori systemkritische Theorie für die Deutung zur Verfügung steht.

Die gute Absicht hinter der spontan erworbenen religionsphilosophischen Kompetenz ist offenkundig: Wenn gutwillige Muslime in ihrer Enttäuschung über die brutale Realität des Kapitalismus genötigt werden, zu terroristischen Mitteln zu greifen, dann muß man mit ihnen vornehmlich über ihre “Motive” sprechen. Da sie, ungeachtet ihres sozialistischen Bildungshintergrundes, nun einmal religiöse Gründe für sich in Anspruch nehmen, muß man ihnen auch hier entgegenkommen, um sie in dem von ihnen selbst ins Feld geführten Glauben richtig zu verstehen.

Wenn das aber überzeugend ausfallen soll, darf man die Religion der eigenen Kultur nicht länger als antiquiert oder regressiv disqualifizieren. Die Regeln des Diskurses verlangen die Gleichheit der Positionen. Daraus folgt für den zeitgeistbewußten Europäer, daß er sich wenigstens zeitweilig zu seiner christlichen Herkunft bekennen muß, wenn er einem Muslim auf gleicher Augenhöhe begegnen können will.

Um nicht zum Satiriker zu werden, versage ich es mir, die absurde Konstellation eines religionsphilosophischen Dialogs unter dem Druck des Terrors zu beschreiben.1 In meinen Augen ist es bereits eine Beleidigung des Islam, die blutrünstige Kraftmeierei in den Verlautbarungen der Terroristen als religiöse Äußerung anzusehen. Die ruhmredigen Pamphlete sollen wie Sprengstoff sein; sie sollen Angst und Schrecken verbreiten. Das ist alles – zumal die Berufung auf den Koran wesentlich auf die Volksmassen in den arabischen Staaten berechnet ist. Vor ihnen haben sich die korrumpierten Machthaber in jenen Ländern am meisten zu fürchten. Ein Argumentationsaufgebot oder gar ein Gesprächsangebot an den Westen liegt darin nicht. Zwar ist offenkundig, daß die Terroristen, ähnlich wie auch ein Teil der politisierten muslimischen Geistlichkeit, die zivilisatorischen Errungenschaften der westlichen Kultur verteufeln. Aber sie tun dies unter derart starker Inanspruchnahme von Leistungen der verfemten Kultur, daß von einem in eindeutigen Fronten verlaufenden Kampf der Kulturen nicht die Rede sein kann – es sei denn, wir wären so dumm, ihn unsererseits zu betreiben.

Kurzer Versuch einer Erläuterung. Wenn das, was wir derzeit erleben, kein Kampf der Kulturen und erst recht kein Krieg der Religionen ist: Worum handelt es sich dann? Um die “forcierte Wiederkehr der Religionen in den öffentlichen Raum”, sagt Friedrich Wilhelm Graf.2 Auf die Themen bezogen, ist das richtig, vor allem, wenn man “force” mit “Gewalt” übersetzt. Dahinter aber steht ein anderer Vorgang, in dem das Religiöse nur ein Mittel unter anderen ist: Der Terrorismus und die organisierte Massenhysterie vor westlichen Botschaften sind Anzeichen eines postkolonialen Nachbebens der weltanschaulichen Ideologien des 19. und des 20. Jahrhunderts. Die verhängnisvollen Irrtümer des Kommunismus und die todbringenden Lehren des Rassismus vergiften noch immer die Gemüter und finden nach wie vor im Nationalismus ihre handlungsfähige Form, die sich unter dem Anspruch staatlicher Selbstbestimmung jederzeit rechtsfähig machen kann. Nur eine durchgängig auf die Rechte des Individuums gegründete Politik, die den menschenrechtlichen Konstitutionalismus endlich auch auf das internationale Handeln überträgt, kann dagegen etwas ausrichten.

Deshalb stimme ich Graf in seinem Lob der “individuellen Freiheit” als des “höchsten innerweltlichen Gutes” ausdrücklich zu, bin aber der Ansicht, daß die Freiheit von denen, die von ihr überzeugt sind, entschieden und machtvoll gegen ihre Widersacher verteidigt werden muß. Diese Chance wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, gegenüber Saddam Hussein wesentlich dadurch vertan, daß die Weltgemeinschaft gegenüber dem Diktator nicht einig blieb. Obgleich nach dem Überfall auf Kuwait die Rechtslage eindeutig war, jedermann wußte, daß der Gewalttäter, der seine Minister noch am Kabinettstisch erschoß, den Terror gegen die eigene Bevölkerung verstärkte und die Sanktionen, wo immer er konnte, unterlief, trieb man illegalen Handel mit ihm und vergrößerte seinen Reichtum, während das Volk in Blut und Elend versank.

Daß angesichts dieser offensichtlichen Lage ein Streit darüber entbrennen konnte, was zu tun sei, ein Streit, in dem sich eine “Achse Paris-Berlin-Moskau” gegen jene Allianz bilden konnte, die Europa von Hitler befreit und am Ende auch vor dem Kommunismus bewahrt hat, begreife ich als die bislang schwerste Niederlage der freien Welt.3 In sie stößt nun der Terror nach, und er hat Erfolg damit.

Gegen ihn können sich die Adressaten und die Opfer nur in einer für alle verbindlichen Rechtsordnung behaupten. Sie hat, wie wir nunmehr genauer sehen, eine verbindliche Konstitution der Staatengemeinschaft zur Voraussetzung. Die Grundlagen dafür sind in der verfassungsrechtlichen Positivierung des Menschenrechts in den einzelnen Staaten gelegt. Das paradigmatische Geschehen einer modernen Verfassungsgebung für die Vereinigten Staaten von Amerika und für die Französische Republik haben das seit der Antike beratene Natur- und Vernunftrecht zum integralen Bestandteil des politischen Systems gemacht. Die Bürger brauchen nicht länger allein auf das Wohlwollen der Regierenden oder auf die spontane Mobilisierung ihrer Macht zu vertrauen, sondern haben das garantierte Recht, ihre legitimen Ansprüche mit Hilfe der Sanktionskraft des Staates durchzusetzen.

Das ist ein unerhörter Vorgang, über den viel zu sagen wäre. Ich belasse es bei der Bemerkung, daß sich dadurch auch das Verhältnis von politischer Idee und politischer Realität verändert hat. Über das in der Konstitution positiv gesicherte Recht, das mit der Freiheit und der Würde der Person die höchsten Ideale der Menschheit zum Gegenstand hat, ist der Geist in seiner avanciertesten Form ins Zentrum politischer Macht eingerückt. Die Politik, die schon immer eng mit dem Recht verbunden war, überläßt sich in allen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Selbststeuerung durch das Recht.

Zur Konstitution der Weltrechtsordnung. Der inzwischen weit fortgeschrittene Ausbau des internationalen Rechts hat sich an der rechtlichen Selbstfundierung des Staates orientiert. Schon die ersten Konferenzen zur Beilegung der interkonfessionellen Kriege in Europa, der Aufbau einer eigenen Regeln folgenden Diplomatie sowie die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sprunghaft ansteigende Regelungsdichte des Handels- und des Völkerrechts folgten der Sachlogik des zunehmenden Weltverkehrs. Mit den Haager Konferenzen waren auch die Grundrechte maßgeblich an der Ausweitung des Weltrechts beteiligt.

Die immer enger werdende globale Vernetzung, die strukturelle Angleichung der nationalen und der internationalen Märkte sowie der Zwang zu einer intensiver werdenden wissenschaftlichen Kooperation nötigten und nötigen weiterhin zur Anerkennung einheitlicher technischer, sozialer und medizinischer Normen, die selbst wiederum eine juridische Absicherung erfordern. Für sie ist ihrerseits eine politische Garantie zu geben, die nicht anders als nach dem Modell der Konstitution mit einer wohldefinierten Teilung der Gewalten erfolgen kann.

Wer immer also seinen Lebensstandard halten oder gar verbessern will, der hat für größere Rechtssicherheit zu kämpfen, die nur in geordneten Verfahren mit allgemeiner Nachprüfbarkeit und öffentlichen Kontrollen zu haben ist. Sie verlangt überdies nach einer Garantie der Grundfreiheiten. Wer Öl verkaufen, über militärische Hochtechnologien verfügen, in die Erdbebenvorwarnung einbezogen und auch sonst in den Weltverkehr eingebunden sein möchte, wer gar den Anspruch erhebt, andere davon überzeugen zu können, er wolle die Kernkraft nur friedlich nutzen, der hat sich definitiv für eine gemeinsame Weltrechtsordnung zu entscheiden.

Für diese Ordnung haben wir mit größtem Nachdruck einzutreten, weil die Zukunft aller daran hängt – auch die Zukunft jener, die das jetzt noch nicht erkennen. Es ist nicht zu leugnen, daß die aus der Dynamik des eigenen Lebens hervorgehende neue Ordnung tiefgreifende Veränderungen in den Lebensweisen mit sich bringt. Das haben die Europäer als erste erfahren, und der Wandel, dem sich ihre politischen, moralischen und religiösen Institutionen unterziehen mußten, war und ist unabsehbar. Doch eine Alternative gibt es nicht. Kulturen sind Lebensformen, die der Evolution um so stärker unterworfen sind, je mehr sie miteinander in Verbindung stehen.

Daher muß man jenen, die selbst noch unter den Konditionen eines unbegrenzten Weltverkehrs vom Vorrecht ihrer eigenen Kultur überzeugt sind, vor Augen führen, daß sich alle kulturellen Differenzierungen nur innerhalb der Ordnung bewegen können, die für alle zu gelten hat. Das ist schon deshalb kein Schaden, weil es nur in ihr die garantierte Freiheit geben kann, die eigene Überlieferung zu pflegen und nach dem eigenen Glauben zu leben. Das aber setzt die generelle Anerkennung der übergreifenden rechtlichen und politischen Koordinaten voraus. Spätestens in ihnen findet die These von der Relativität der Kulturen ihre Grenze. Für die gleichzeitige Geltung einander ausschließender Rechtsordnungen ist die Erde entweder zu klein oder zu voll – ganz wie man es nimmt.

Rückständige Widerstände. Anstatt entschieden für das Ziel einer globalen Rechtsordnung einzutreten und die Konstitution einer internationalen Föderation zu betreiben, fallen sogar die in Europa vereinigten und in der westlichen Allianz verbündeten Staaten bei geringfügigen Interessenkollisionen in ihre nationalen Egoismen zurück. Selbst angesichts der offenkundigen Bedrohung ihrer Existenz durch den Terror, durch die atomare Rüstung, durch regellose Migration und nachfolgende kulturelle Isolation, durch den Zerfall ihrer sozialen Sicherungssysteme oder durch das Versiegen der natürlichen Ressourcen schaffen sie es nicht, die Prinzipien produktiv zu machen, aus denen ihre eigene Ordnung besteht.

Leider kann man nicht sagen, daß die Bürger sich klüger verhalten als ihre Staaten: Sie geben der politischen Erpressung durch den Terror willfährig nach,4 nehmen die Globalisierung als Kunden und Urlauber wie selbstverständlich hin, möchten aber als Arbeitnehmer oder als Rentner nicht von ihr betroffen sein. Das ist menschlich, aber eben nicht weniger provinziell als die Annahme, man könne Wirtschaftswachstum, Kernspaltung oder Kernfusion und elektronische Kommunikation unter den Rechtsbedingungen einer Stammeskultur sichern. Überdies haben die Bürger in den westlichen Ländern einzusehen, daß sich ihr Wohlstand zu einem nicht geringen Teil einem kolonialen Ungleichgewicht verdankt, das längst ihren eigenen Prinzipien von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen widerspricht.

Nachdem alles Werben für die sogenannte Dritte Welt politisch nicht geholfen hat, darf man den größeren Erfolg darin sehen, daß sich die Länder Asiens ihren Platz auf dem Weltmarkt aus eigener Kraft erobern. Nicht nur im Einsatz von Technik und Wissenschaft, sondern auch im Verfolg der liberalen, auf selbstbewußte Individualität gegründeten ökonomischen Regeln übernehmen sie die in Europa großgewordene Ordnung. Sie sind, wie Hans Magnus Enzensberger schon vor vielen Jahren bemerkte, die besseren “Eurozentristen”.

Kein neuer Humanismus in Sicht. Blickt man als Bürger auf jene Bürger, die sich als Intellektuelle verstehen, gewinnt man leider nicht den Eindruck, daß sie ihre geistige Beweglichkeit für eine bessere politische Einsicht nutzen, obgleich sie erstmals Grund und Aussicht auf den weltweit gültigen Titel der “Humanisten” hätten. Im selbstverständlichen Anspruch auf die auf Grundrechten basierende Öffentlichkeit stellen sie nicht selten eben das in Frage, was die Öffentlichkeit trägt: Sie treten als Individuen auf und widerstreiten der Individualität, bestehen auf ihren Freiheitsrechten und leugnen die Freiheit; verdanken alles, was sie wissen, der Aufklärung und der Vernunft, tun sich aber mit einer “Dialektik der Aufklärung” wichtig, als ob es erst einer “Kritischen Theorie” bedürfte, um zu entdecken, daß jedes Licht auch Schatten wirft.

Besonders schmerzlich ist die defizitäre Selbsterkenntnis des wissenschaftlich arbeitenden modernen Menschen. Die verbreitete Hilflosigkeit angesichts der Gen- und Nanotechnologien könnte den Eindruck entstehen lassen, der kausalanalytische Reduktionismus sei eine Neuerung des 21. Jahrhunderts. Tatsache aber ist, daß schon Platon die atomistischen und sophistischen Reduktionismen seiner Zeitgenossen abzuwehren hatte. Dieser Abwehr verdanken wir den wissenschaftlichen Auftritt von Philosophie und Theologie, die beide über zwei Jahrtausende hinweg die Einheit von Natur, Mensch und Welt beschrieben haben.

Gewiß, die Antworten fallen nicht nur voraussetzungsvoll, sondern auch höchst unterschiedlich aus. Aber sollten sie angesichts der neuen biologischen und neurologischen Erkenntnisse nicht mehr erbringen, als daß “Natur” und “Freiheit” zwei “Perspektiven” sind? Und selbst wenn der Perspektivismus die ultimative Auskunft wäre: Die Frage, wem er wodurch in welcher Hinsicht nützen könnte, gäbe immer noch genügend Anlaß zur sachlichen Auszeichnung humaner Leistungen.

Das gilt schon für den Sinn der Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit: Was bedeutet sie für ein Wesen, das sich in allem, was es empfindet, fühlt, versteht und glaubt, auf die Einheit seines Sinns zu gründen hat? Der Mensch ist gerade auch in seinen intellektuellen Leistungen auf organanaloge Ganzheiten aus, die ihm in den Funktionen seiner Sinne und seines Sinns tatsächlich gegeben sind. Er erkennt sich nach dem Modell seiner eigenen physiologischen Organisation, die Natur aber erkennt er nach dem Modell seiner eigenen Selbsterkenntnis.

Damit erweisen sich nicht nur die idealistischen, sondern auch die reduktionistischen Theorieansätze als von vornherein verkürzt. Wenn wir hinzunehmen, daß sich das Modell der menschlichen Selbstwahrnehmung nicht auf die Grenzen seiner gegebenen physiologischen Einheit beschränken läßt, sondern daß alles hinzugehört, was sich der Mensch als seinen sozialen und technischen Handlungsrahmen schafft, tritt die Unzulänglichkeit der monokausalen Erklärungsmuster noch deutlicher hervor. In der inneren Verbindung mit der durch eigene Leistungen gestalteten Umwelt ist der Mensch die Kondition seiner eigenen Erkenntnis – auch die der mechanischen Naturerklärung und der instrumentellen Technik. Daher ist die von Marx visionär geforderte “Humanisierung der Natur” kein romantisches Projekt, das in die Zukunft verweist, sondern es ist ein Faktum, das bereits in der Natur- und Selbsterkenntnis des Menschen zum Tragen kommt.

Die Andeutung zur Verflechtung von Mensch, Natur, Technik und sozialer Organisation reicht hoffentlich aus, um die Enttäuschung über die Rolle der Intelligenz in der modernen Zivilisation verständlich zu machen. Die größte Aufmerksamkeit erreichen jene, die vor der angeblichen Instrumentalisierung und Mechanisierung warnen und mit der unsinnigen Opposition zwischen “System” und “Lebenswelt” den Menschen von sich selbst entfremden. Oder jene, die in spektakulärer Weise vom Menschen Abschied nehmen: Da wird der Humanismus als eine Reihe belangloser Briefe deklariert, die man im Menschenpark vermutlich vor den Besuchern verstecken muß. Die Politik wird, in Mißachtung von Technik und Kultur, zum Mechanismus der Ausgrenzung des “nackten Lebens”, mit der Konsequenz, daß die Demokratie nur eine liberal verbrämte Form des Gulag und des Konzentrationslagers sein kann. Die Medien schließlich sind entweder die allgegenwärtige Realität des Bösen oder die alles umfassende Erlösung von der Realität.

In allen diesen Fällen kommt der Mensch eigentlich nur noch als Opfer vor. Daß er aber ein aus sich heraus tätiges, dabei sich und seine Natur veränderndes, ein eben dabei sich und seine Welt notwendig in Mitleidenschaft ziehendes Wesen ist, das nicht zuletzt deshalb seinen für Erleben und Handeln benötigten Sinn auf das übertragen muß, worin es lebt und womit es nicht nur faktisch verbunden ist, sondern womit es aus eigenem Anspruch als dem Ganzen seines Daseins verbunden sein muß, um überhaupt seinen eigenen Sinn zu haben – dieser für jeden mit offenen Sinnen lebenden Menschen offenbare Sachverhalt wird vergessen.

Die drei Zeitalter der Politik. Im Rückblick auf etwa fünf- bis sechstausend Jahre, in denen die Menschheit über politische Organisationen verfügt, kann man drei Zeitalter unterscheiden, die, trotz zahlloser Rückschläge, durchaus konsequent aufeinander folgen: Das erste ist die Epoche der Institutionalisierung, in der sich die Völker im geographischen Halbmond zwischen dem Niltal, den Höhen Palästinas und den Ebenen an Euphrat und Tigris (und wenig später wohl auch an Ganges und Hwangho) erste rechtsförmige Einrichtungen schaffen, in denen sie die bereits technisch elaborierte gesellschaftliche Kooperation in eine politische Herrschaftsordnung überführen. Sie errichten Städte, verbinden sich zu Schutzgemeinschaften unter monarchischer Leitung und erzwingen Reiche, die nach dem Modell autoritativer Selbstverfügung des Einzelnen über sich und seine Gruppe angelegt sind. Grundlegend ist das Paradigma der einzelnen Person, die im Staat ins Große gerechnet wird. Und bestimmend ist das (immer schon technisch ausgerichtete) Verfahren des Rechts, das dem Politischen von Anfang an rationale, auf allgemeine Verständigung und Nachvollzug angelegte Koordinaten einzuziehen sucht.

Die zweite Phase beginnt, soweit wir wissen, mit der durch Solons Reformen auf den Weg gebrachten Demokratisierung Athens, der mit nur geringer zeitlicher Verzögerung Roms Übergang von der Königsherrschaft zur Republik nachfolgt. Hier werden die ersten Schritte zur Verselbständigung, zur Autonomie oder Souveränität der Politik getan. Sie erfolgen unter den Bedingungen einer beratenden und prüfenden, teils auch schon wählenden Öffentlichkeit und werden von der Entstehung einer kritischen Geschichtswissenschaft, der Ausbildung erster Theorien des Rechts und der Gerechtigkeit sowie einer Lehre von der Rhetorik als der neuen Herrschaftstechnik im öffentlichen Raum begleitet. Die Autonomisierung der Politik wird, wie schon die Institutionalisierung, von der Entfaltung der technischen Fertigkeiten des Menschen vorangetrieben. Wesentlich ist ihr aber die Parallele mit der wissenschaftlichen Beobachtung und Bewertung ihrer Prozesse, die es ermöglichen, daß sich die Verselbständigung auch nach dem Ende der antiken Institutionen nahezu ungebrochen fortsetzen kann. Das Mittelalter führt, obgleich der Herrschaftsanspruch zeitweilig auf die cäsaristisch organisierte Kirche übergeht, zu keinem Ende der Entwicklung, die ihren unerhört beschleunigten Abschluß aber erst mit der neuzeitlichen Entstehung des Staates findet. Alle Impulse, die diesen Vorgang dynamisieren, beruhen von Machiavelli über Bodin, Hobbes, Locke und Montesquieu bis zu Rousseau und Kant auf einer verstärkten Reflexion der antiken Grundlagen politisch-republikanischer Organisation. Auch das Menschenrecht, das im Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert Konturen gewinnt, ist nicht eigentlich neu. Es wird aus den stoischen Natur- und Vernunftrechtslehren entwickelt, aber in genauer Kenntnis der weiträumig entwickelten Ökonomie sowie im Bewußtsein der kolonial geweiteten Handlungsräume in paradox erscheinender Verschärfung auf das schon in Athen und Rom ausschlaggebende Individuum zugespitzt.

Das für die Sicherung und Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums als essentiell erkannte Recht des Individuums hat den Schub für das dritte Zeitalter des Politischen freigesetzt: für die Epoche der Konstitution. Deren Besonderheit wurde bereits benannt: Im Akt der ausdrücklichen Konstitutionalisierung unterstellt sich der Staat den handlungsleitenden Prinzipien des menschlichen Selbstbegriffs. Die Autonomie der Institution steigert sich, indem sie sich allein der Herrschaft ihrer eigenen Instanzen unterstellt. Die Politik hat den letzten Schritt zur Selbststeuerung durch das Recht getan und gerade damit ihren Bürgern die bislang größte geschichtliche Aufgabe gestellt: die Schaffung einer Rechtsordnung für die ganze menschliche Welt.

Die Eigenlogik der Politik. Ein Vorzug des skizzierten Epochenmodells liegt darin, daß die von Hegel so anschaulich ausgezeichnete Gegenwart nicht am Ende der politischen Geschichte, sondern am Anfang ihres dritten Aktes steht. Vielleicht hat es die Menschheit in der Hand, noch weitere folgen zu lassen. Darüber wissen wir nichts. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den engen praktischen und theoretischen Konnex zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu wahren. Wenn überhaupt, kann sich die Zukunft nur im Bewußtsein dieser Verbindung erschließen, die angesichts der Schrecken von Vergangenheit und Gegenwart das beste Palliativ gegen die Angst darstellt. Im übrigen haben wir auf unsere Kräfte zu vertrauen, was wohl am ehesten gelingt, wenn wir wissen, daß wir sie uns nicht allein verdanken.

Deshalb ist die Aussicht, die das Modell bietet, auf die vor uns liegenden Probleme des Ausbaus einer Weltrechtsordnung bezogen. So wie es in der historischen Rekonstruktion auf dem empirischen Gang der Ereignisse basiert, so geht es auch mit Blick auf die Zukunft von der bestehenden Staatenvielfalt aus, nimmt die schon weit vorangetriebene völkerrechtliche Ordnung auf und erlaubt, die bereits etablierten supranationalen Organisationen zu erweitern und zu stärken. Es ist nicht auf die Gründung eines Weltstaats verpflichtet, sondern begünstigt eine föderale Kooperation mit starken subsidiären Elementen, die sich am besten in kontinentaler Nachbarschaft entwickeln können. Deshalb favorisiert es den stärkeren Zusammenschluß der europäischen Staaten und ist von der Hoffnung getragen, daß sich Europa, das an der historischen Entwicklung des Politischen gewiß den größten Anteil hat, zumindest noch eine Weile als Laboratorium der Weltpolitik bewährt.

Ein weiterer Vorzug des Modells liegt darin, daß es der Politik eine säkulare Perspektive gibt. Die Politik ist, wie wir alle wissen, das Projektionsfeld weltanschaulicher Interessen. Religiöse Erwartungen haben in ihr von Anfang an eine eminente Rolle gespielt; und wer behauptet, damit werde es demnächst sein Bewenden haben, weiß offenbar nicht, wovon er spricht. Solange die Politik auf die Erhaltung und Entfaltung gemeinschaftlicher Lebensformen ausgerichtet ist, solange sie auf die existentiellen Fragen der von ihr betroffenen Menschen bezogen ist, so lange wird sich ihre enge Verbindung zur Religion nicht verlieren.

Und dennoch stammt die spezifische Rationalität des Politischen aus dem Pathos der berechenbaren Bewältigung bestehender Lebensprobleme, bei denen religiöse Erwartungen und Interessen lediglich ein Mittel, niemals aber ein Erfüllungsziel des politischen Handelns sind. Bekanntlich behauptet die Politische Theologie das Gegenteil, wenn sie die säkulare Politik als eine abkünftige Form priesterlicher Herrschaft darzustellen sucht. Historisch sind die politischen Theologen in einer günstigen Lage, weil es nicht nur in den frühen Entwicklungsphasen der Politik starke Formen religiöser Organisation gegeben hat, die gelegentlich sogar mit der politischen Herrschaft identisch waren. Aber die Geschichte ist nicht stehengeblieben. “Ursprünglich standen alle Staaten unter der Kirche, und sie befreiten sich später von ihr.” Mit dieser lapidaren Bemerkung hat Schleiermacher die Politische Theologie erledigt, noch bevor sie entstanden ist.

Doch selbst für die frühen Zeiten weitgehender Identität von priesterlicher und königlicher Herrschaft läßt sich zeigen, daß die juridisch-politische Lenkung einer Gesellschaft unter weltlichen Erfolgserwartungen steht, die das Religiöse zu Hilfe nehmen, es aber auch neutralisieren oder eliminieren können.5

Die drei Stufen der politischen Entwicklung von der frühen Institutionalisierung über die wachsende nationalstaatliche Autonomie bis hin zur Selbstkonstitution unter dem Anspruch eines kodifizierten Menschenrechts demonstrieren die wachsende Eigenlogik politischer Prozesse. Wer sie bestreitet, der vertritt genaugenommen keine andere Auffassung über die Natur der Politik, sondern der möchte eine andere, nicht länger durch das Interesse der Individuen begründete Politik betreiben.

Bei Carl Schmitt ist das offenkundig. Es gilt aber auch für seine Weggenossen und Schüler bis in die jüngste Gegenwart.6 Ein Nachhall dieses Mißverständnisses ist die oft zitierte Behauptung, die Demokratie beruhe auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht sichern könne. Der Vorgang der Konstitution beweist das Gegenteil, obgleich man natürlich für die Politik, wie für alle anderen Lebensvorgänge auch, zu betonen hat, daß der Mensch nur einen kleinen Teil seiner Existenzbedingungen kennt und über einen weitaus kleineren technisch-praktisch verfügt. Gleichwohl kann er einiges tun, um den Risiken vorzubeugen. Der Politik, die sich in ihrer Geschichte fortwährend selbst gefährdet hat, ist mit der positiv-rechtlichen Kodifizierung ihrer Grundprinzipien sogar ein ungewöhnlich weitreichender Schritt zur Sicherung ihrer Konditionen gelungen.

Das Glück der Säkularisierung. Die Politik, das ist die Konsequenz der historischen Rekonstruktion ihrer Logik, ist von ihrer eigenen juridisch-technischen Dynamik auf Säkularisierung angelegt. Sie ist und bleibt an die organischen Naturvorgänge gebunden, die sich jedoch im Übergang von der Gattung in Gesellschaft zu selbstgesteuerten Prozessen der Kooperation und Koordination steigern. Ihr Grundvorgang ist die hier und jetzt erfolgende Partizipation an den Institutionen, die sie errichtet, um die komplexer werdenden Vorgänge einer an einheitlichen Vorstellungen orientierten politischen Lenkung zu unterwerfen.

Mit und in der Institution erhält die bereits in den epistemischen, sozialen und technischen Leistungen des Menschen essentielle Repräsentation die Form ausdrücklicher Organisation, wobei es wichtig ist zu wissen, daß Repräsentation sich nicht auf die amtsförmige Stellvertretung eines Menschen durch seinesgleichen beschränkt. Es ist vielmehr so, daß die Institution selbst, einschließlich ihrer Verfahren und Ordnungen, auf der Repräsentation eines vorgestellten Ganzen der Gesellschaft durch das eben auch nur vorgestellte Ganze der Institution beruht. Das wiederum ist nur möglich, wenn sich jeder Bürger selbst schon als Repräsentant seiner politischen Gemeinschaft versteht. Hier wiederholt sich, was schon die Stellung des Menschen zu Gott ausmacht. Denn auch ihm tritt er als einzelnes Wesen gegenüber, obgleich er ihm als dem Repräsentanten des Ganzen als Repräsentant sterblicher Menschen in einem ihn selbst und alles andere umfassenden Sinn zugehört.

Alles das sind Verhältnisse und Vorgänge, die auf die Bedürftigkeit, Empfindlichkeit, Verletzbarkeit und Endlichkeit der handelnden Individuen gegründet sind. Es geht um Individuen, die von ihrer kooperativen Einbindung in den gesellschaftlichen Prozeß wie auch von ihrer generativen Bindung an die Erhaltungsregeln ihrer Gattung wissen. Politik ist immer darauf berechnet, daß auf die jetzthandelnden Menschen andere Menschen folgen. Sie geht in ihrer institutionellen Perspektive scheinbar ungerührt über den Tod des Einzelnen hinweg und setzt auf die jetzt Lebenden, die ihrerseits darauf setzen, daß sie leibhaftige Nachfolger finden. Alle rechtlichen Regeln sind darauf berechnet, daß die nach dem Vorbild von Individuen gebildeten, für Individuen eingerichteten und von Individuen gelenkten Institutionen den Tod der Individuen überdauern. Während der Einzelne letztlich nur für sich selbst auf eine überzeitliche Dauer hoffen kann, muß die Institution auf zeitliche Dauer setzen, in der sie die Lebenszeiten der sie tragenden Personen unablässig überschreitet.

Politische Institutionen berechnen ihre Handlungsperspektive im Vertrauen auf den Wechsel der Generationen. Sie sind, im strikten Sinn des Wortes, “säkular” verfaßt. Deshalb muß man den historischen Vorgang der “Säkularisierung”, ganz unabhängig davon, was ihn in Athen und Rom vorbereitet und im neuzeitlichen Europa durchgesetzt hat, als genuin politisch begreifen. Er folgt aus dem sachhaltigen Zwang zur Sicherung der Macht, die auch in einer Willkürherrschaft auf Dauer nur durch das Versprechen weltlicher Problembewältigung gesichert werden kann.

Die Säkularisierung ist den europäischen Kirchen nicht erspart geblieben, und niemand kann sie den anderen Glaubensgemeinschaften vorenthalten. Daß sie sich weltweit ereignet, beruht nicht auf dem missionarischen Mutwillen der Europäer oder der Amerikaner. Dagegen ließen sich Kriege führen! Es ist aber so, daß sich die Menschen weltweit selbstzur Teilnahme an den globalen Prozessen entscheiden. Deshalb müssen sie den Weg der säkularen Ernüchterung gehen und Politik nach den Regeln machen, die sich im Prozeß einer mehrtausendjährigen Entwicklung von der Institution zu deren Autonomie und Konstitution entwickelt haben.

Säkularisierung: eine Chance für den Glauben. Die Tour de force durch ein neues weltpolitisches Epochenmodell enthält die Zumutung des Neuen. Eine existentielle Zumutung für den Gläubigen aber dürfte in der Frage liegen, ob die den Gläubigen durch die Dynamik ihres eigenen Lebenswillens abgerungene Säkularisierung nicht auch einen Glücksfall für den Glauben darstellt?

Natürlich bedeutet sie für die Kirchen einen empfindlichen Machtverlust. Viele Chancen der äußeren Einflußnahme auf die Erziehung und das Verhalten ihrer Gemeindeglieder entfallen. Aber gesetzt, den Gläubigen ist es mit ihrem Glauben ernst, dann werden sie zusammen mit ihresgleichen auch für die Erziehung ihrer Kinder sorgen wollen, dann sollten sie die Festtage des Kirchenjahres, die Rituale der Lebensführung, des Lebensabschieds und des Totengedenkens, die großen Zeugnisse der religiösen Kunst und vielleicht auch das Gemeindeleben zu schätzen wissen. Wenn sie ernsthaft glauben, muß ihr Ehrgeiz darin bestehen, Zeugnis für diesen Glauben abzulegen. Dann werden sie den sozialstaatlich belohnten Glauben als Fremdbestimmung erleben, von der sie sich nur durch ein individuelles Bekenntnis befreien können. Daß diese Erwartungen nicht abwegig sind, führt uns das lebendige Christentum in jenen Ländern vor, in denen es keine Staatsreligion ist.

Das Christentum hat den unerhörten Vorzug, von Anfang an auf die Freiheit des Einzelnen gegründet zu sein. Denken wir nur an jene Stelle im Matthäus-Evangelium (8, 21), an der Jesus einen Menschen zur Nachfolge auffordert. Der ist bereit dazu, möchte aber vorher seinen gerade gestorbenen Vater bestatten und sagt: “Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.” Ihm aber antwortet Jesus: “Folge du mir, und laß die Toten ihre Toten begraben.” Wenn Jesus Christus von seinen Jüngern die individuelle Nachfolge verlangt und kompromißlos fordert, weder auf die politische noch auf die priesterliche Herrschaft Rücksicht zu nehmen, ja wenn er sogar den Bruch mit der überlieferten Sittlichkeit verlangt, dann kann der Christ die Säkularisierung nur als einen Glücksfall für seinen Glauben verstehen.

Das hätte wohl auch Friedrich Schleiermacher so gesehen. Um das zu belegen, genügt die Ergänzung des bereit herangezogenen Zitats aus Varnhagens Nachschrift der Vorlesung über die Politik. Es ist deshalb so bemerkenswert, weil es die Koexistenz einer Pluralität von Religionen zur expliziten Voraussetzung sowohl für die Autonomie des Politischen wie auch für die Souveränität des Glaubens macht: “Ursprünglich standen alle Staaten unter der Kirche, und sie befreiten sich später von ihr. Erhalten fremde Religionen Duldung im Staat und behalten sie Einfluss auf das bürgerliche Recht; so würde die volksthümliche Kirche gegen jene freyen (Religionen) seyn, wenn sie nicht neben dem Staate steht. Diese Stellung gebührt ihr.” Es ist keineswegs bloß die politische Freiheit, die zur politischen Unabhängigkeit der Religionen führt, sondern es ist die Freiheit des Glaubens, die sie nötig macht.

Dazu ist jüngst Treffendes gesagt worden: Richard Rorty / Gianni Vattimo, Die Zukunft der Religion. Frankfurt: Suhrkamp 2006.

Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze. München: Beck 2005.

Ich unterlasse es an dieser Stelle, den Ursachen der Zerrüttung des Westens nachzugehen. Offenbar haben die Amerikaner ihre Partner durch einseitige Schritte im Vorfeld verprellt; dadurch fühlten sich die Regierungen Frankreichs und Deutschlands nicht mehr an das gegebene Wort gebunden. Wie immer dem auch gewesen sein mag: Im Interesse von Recht und Freiheit hätte es dazu nicht kommen dürfen. Das hat meine abweichende Haltung im Irakkonflikt begründet. Siehe dazu meine Beiträge im Merkur (Nr. 651, Juli 2003; Nr. 656, Dezember 2003; Nr. 667, November 2004).

Ich erinnere an den Wahlausgang in Spanien nach den Anschlägen in Madrid und an die Timidität nach dem Karikaturenstreit. Die Leiter der Kulturämter und der Museen verzichten inzwischen darauf, schon die Andeutung einer kritischen Anspielung auf den Islam erkennen zu lassen.

Vgl. Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. München: Siemens Stiftung 1995.

Es ließe sich auf Giorgio Agamben verweisen, dem die Lektüre Carl Schmitts dazu verholfen hat, sich von dessen Postmetaphysik des Raumes abzuwenden und zum postpolitischen Nachruf auf die Demokratie überzugehen.

Published 3 July 2006
Original in German
First published by Merkur 7/2006

Contributed by Merkur © Volker Gerhardt / Merkur / Eurozine

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