Nordamerikanischer Ostblock
Lesen Sie, warum der montréaler Bürgermeister den Weihnachtsbaum in “Festivitätenbaum” umbenennen möchte und wie Lothar Baier daraus eine Parallele zu DDR Sprachregelungen zieht. Baier sticht ein Ostblockluft in die Nase, den er durch die amerikanischen Kriegstreiber und deren Gefolge verbreitet sieht.
Seit Anfang 2002 wird die kanadische Großstadt Montréal von dem neu gewählten Bürgermeister Gérald Tremblay regiert. Tremblay ist ein sehr fortschrittlicher Mann, so wie auch die ihn tragende Lokalpartei “Union des citoyens de Montréal” eine außerordentlich progressive politische Formation ist. Im Dezember 2002 gelangte man in diesen Kreisen zu der Erkenntnis, dass der auch in städtischen Verlautbarungen verwendete Ausdruck “Sapin de Noël” – deutsch Weihnachtsbaum – in einer multiethnischen Stadt ganz fehl am Platze sei. Er könne die religiös-ethnische Sensibilität all der muslimischen, buddhistischen, jüdischen, animistischen, dem Voodoo-Kult etc. ergebenen Bürgerinnen und Bürger verletzen. Also wurde beschlossen, den Weihnachtsbaum in den religiös neutralen “Arbre des Festivités” umzutaufen, “Festivitätenbaum”.
Als ich diese Episode meinem Berliner Kollegen Detlev Lücke mitteilte, der bis 1990 Redakteur der DDR-Kulturwochenzeitung Sonntag war, erhielt ich etwa die Antwort: Das ist ja DDR pur! In der SED dort kam man eines Tages auf die Idee, den im Erzgebirge hergestellten, bei der Bevölkerung beliebten kerzengeschmückten Weihnachtsengel in die weltanschaulich unverfängliche “Jahresendfigur” umzutaufen. Kam jedoch bei der ideologisch verstockten DDR-Bevölkerung offenbar nicht recht an. Trotz allseits und bis heute im Osten beliebter “Jugendweihe” wollte man seinen Weihnachtsengel behalten.
Derzeit in einem Innenstadthochhaus hausend, das größtenteils von jener dem Bürgermeister Tremblay so teuren multiethnischen Bevölkerung bewohnt wird, habe ich versucht, im Aufzug und im Hauseingang eine kleine Umfrage zu veranstalten: Der “Weihnachtsbaum” -, stört oder verletzt Sie das? Niemanden interessierte die Frage. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass bei diesen Agnostikern, Muslimen, Buddhisten etc. der unwiderstehliche Drang vorhanden ist, in dieser ehemals total katholischen Stadt von Kirchtürmen, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden die Kreuze herunterzureißen. Woraus ich für mich den Schluss ziehe, dass Bürgermeister Tremblay mit seiner “Union des citoyens de Montréal” von gewissen gesellschaftlichen Realitäten ebenso weit entfernt ist, wie es seinerzeit das ZK der SED in der DDR gewesen war. Die Strafe kam 1989.
Ein sehr eigenartiger Ostblockduft würzt diesen nordamerikanischen Winter. Ein mir seit langen Jahren gut bekannter Buchhändler, im marokkanischen Fez geborener Sepharde, erzählte mir vor kurzem empört folgende Episode. Mit zwei ebenfalls sephardischen Freunden, darunter einem orthodoxen, wollte er mit dem Auto nach New York fahren. An der US-Grenze wurden die drei herausgepickt und von der US-Polizei lange Stunden in einem Raum festgehalten. Alle drei in Marokko geboren, also auf arabischer Erde, Al-Quaida-verseucht, wer weiß! Als man sie schließlich laufen ließ, war es für die Verabredung, die der Orthodoxe mit seinem New Yorker Rabbiner hatte, längst zu spät. Frustriert kehrten die drei nach Kanada zurück. Am Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin konnte einem Westmenschen zu Zeiten Ähnliches passieren.
In dem 1988 gedrehten Spielfilm “Le déclin de l’empire américain” lässt der Montréaler Regisseur und Drehbuchautor Denys Arcand eine der in einem Landhaus nahe der US-Grenze tafelnden Figuren sagen: “Passt auf, wir hier haben das Glück, am Rand des Imperiums zu leben. Die Erschütterungen sind weniger heftig.” Seit ich selber sechzig Kilometer nördlich der Grenze zum Bundesstaat New York in Montréal lebe, verstehe ich immer besser, was der Satz meint. US-amerikanische Freunde über die konstante Verschlechterung des innenpolitischen Klimas bei ihnen klagen hörend, komme ich mir hier vor wie ein Pole zu Sowjetzeiten. Jedermann räumte damals ein, dass es sich im vergleichsweise liberalen Warschau angenehmer lebte als in Moskau. Da und dort wurden jedoch auch die Polen von Moskau aus daran erinnert, wer im Imperium das Sagen hat.
Auch Kanada wird in Abständen aus dem Süden daran erinnert, dass seine Souveränität nicht unbegrenzt ist. Während der heißen Phase des Kalten Krieges in den Fünfzigerjahren widersetzte sich die kanadische Bundesregierung dem Ansinnen der USA, auf kanadischem Territorium Militärbasen und gegen die Sowjetunion ausgerichtete Frühwarnstationen zu installieren. Okay, ließ Washington verlauten, macht weiter so – dann aber riskiert ihr einen Handelskrieg, der euer Ländchen total ruiniert. Ottawa verstand und gab klein bei. Ein kanadischer Ökonom kam nach dem vergleichenden Studium von Wirtschaftsdaten zu dem Resultat, dass die Sowjetrepublik Aserbaidschan ökonomisch weniger von Moskau abhängig gewesen war als das 85 Prozent seines Exports in die USA liefernde Kanada immer noch von Washington ist. Als die US-Militärs zu Beginn des Vietnamkrieges die kanadische Atlantikprovinz New Brunswick als Testgelände für das Entlaubungsgift agent orange ausersehen hatten, da sie der Meinung waren, dass US-amerikanische Wälder zu schade seien für solche riskanten Experimente, wagte die kanadische Regierung schon keinen Einspruch mehr. Ihren Dissens drückte sie dadurch aus, dass sie später die Aufnahme amerikanischer Vietnam-Deserteure gestattete. Jetzt, Anfang 2003, ist die kanadische Bevölkerung laut Umfragen mehrheitlich gegen einen Krieg gegen den Irak und hält George W. Bush für ebenso gefährlich wie Saddam Hussein. Doch der Verteidigungsminister McCallum, Chef einer eher lächerlichen 60.000-Mann-und-Frau-Streitmacht, erklärte auf einen Wink aus Washington hin die unbedingte, auch UNO-freie Solidarität Kanadas mit Bushs kriegsgeilen USA.
Unterdessen erreichen mich aus Deutschland sehr merkwürdige Liebeserklärungen an diese USA. Ein weiteres Mal wird irgendein “Antiamerikanismus” zum schlimmsten Feind erklärt. Da verstehe ich die Welt nicht mehr. In Montréal wohnend und zustimmend den dort herrschenden American Way of Life teilend, frage ich mich, ob diese Amerika-verhimmelnden ex-linken deutschen Damen und Herren irgendetwas aus dem Desaster gelernt haben, das die einstigen fellow-travellers Moskaus erlebt hatten. Es waren nur wenige, André Gide etwa und der kroatische Romancier Miroslav Krleza, die damals, Mitte der Dreißigerjahre, mit ihrer Kritik an Stalins Sowjetunion die Ehre der westeuropäischen Intelligenz retteten. Soll das nun wieder verspielt werden mit dem Kotau vor der Weltmacht?
Published 1 April 2003
Original in German
Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine
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