Nachbarschaft als Gewaltressource
Menschen, die friedlich und nachbarschaftlich nebeneinander gewohnt haben, gehen plötzlich aufeinander los. Nachbarn definieren sich plötzlich nicht mehr als Anwohner derselben Straße, sondern als Angehörige unterschiedlicher Volksgruppen, Rassen, politischer Lager. Nachbarn werden zu Feinden, zuweilen zu Todfeinden. Wie kann das sein? Manchmal erfahren wir von solchen, die die Geschichte eines Konfliktes analysiert haben, daß die Konflikte, die wir meinten vor unseren Augen entstehen zu sehen, alt sind. Die friedliche Nachbarschaft habe sie nur überdeckt. Aber wird dadurch das Problem so ganz anders? Wieso hat der Status des friedlichen Nebeneinanderwohnens den Konflikt und seine Parteien nicht pazifiziert? Oder wenn denn der Friede die reine Camouflage gewesen ist, wie kann denn Frieden eine jahre-, vielleicht jahrzehntelange Camouflage eines tatsächlichen Kriegszustands sein?
Wer immer sich mit Phänomenen der Gewalt beschäftigt, wird irgendwann von solchen und ähnlichen Fragen eingeholt und manchmal in den Bann gezogen. Meistens führt die Beschäftigung mit ihnen zu keinem Ergebnis. Der Mensch ist eben manchmal ein rätselhaftes Wesen. Selten kommt man auf die Idee, daß die Frage selbst den Irrtum in der Sache enthält und, solange sie beantwortet werden soll, dafür gesorgt ist, daß das Denken an einem Ort haltmacht, an dem es nicht weitergeht. – Wie kann jemand, der ein gütiger Familienvater ist, für die Ermordung von Frauen und Kindern sorgen? Steckt hinter der Frage die Annahme, jemand sei entweder ein Massenmörder, und zwar dieses dauernd, jede wache Stunde, und jedem potentiellen Opfer gegenüber im Grunde mordbereit – oder er sei es nicht, gar nicht, nie und nimmer? Erstens wissen wir, daß es anders ist, wir wissen, daß Menschen sehr unterschiedliche Dinge in ihr Leben integrieren können. Das ist unser historisch-anthropologisches Wissen, und dahinter sollten wir nicht zurückfallen, indem wir uns naiv stellen. Zweitens leidet die Vorstellung derjenigen, die einem Massenmörder bescheinigen, ein guter Familienvater zu sein, oft durch den Kontrast eine Deformation. Wie die israelischen Psychiater, die Eichmann bescheinigten, ein guter Vater zu sein, angesichts dessen, was wir über ihn in dieser Beziehung wissen, auf diese Idee kommen konnten, ist eine viel beunruhigendere Frage.
Kommen wir zurück auf die Nachbarn. Wieso können friedliche Nachbarn…? – nein, diese Frage fällt hinter das zurück, was wir aus unserer Alltagserfahrung über Nachbarschaften wissen: Nachbarschaft ist extrem konfliktträchtig, Nachbarschaft ist eine Gewaltressource erster Ordnung.Zu fragen ist:Was zähmt Nachbarschaften in Normalsituationen, und wie werden Nachbarschaften bürgerkriegsähnlich organisiert? Zunächst aber:1
Was ist “Nachbarschaft”? Zwei Territorien, eine Grenze, die Bewohner diesseits der Grenze betrachten beim Betreten ihres Hauses das andere Territorium mit Argwohn.
Das ist ein Bild aus einer der vielen Geschichten, die Carl Barks für die Walt Disney Comics gezeichnet hat, und die sich um den Streit zwischen Nachbarn drehen. Diese Geschichten enthalten, weil sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, und weil sie in überzeichneter Form beim Leser das Genau-so-isses-Gefühl auslösen sollen, Hinweise auf strukturelle Muster von Nachbarschaftskonflikten. Auslöser und immer wieder Eskalationen beförderndes Moment ist die Grenzverletzung an sich, was nicht so selbstverständlich ist, wie es klingt. Menschen können aus allen möglichen Gründen Ärger miteinander haben, aber Nachbarn haben Grenzärger. Das ist für uns so selbstverständlich, daß wir das sowieso unterstellen. Wodurch sind Nachbarn schließlich definiert? Dadurch, daß sie dieselbe Grenze haben.2
Zwei Nachbarn vertragen sich: Sie vertragen sich über die Grenze hinweg. Es wird nicht gutgehen. In der Geschichte ist es der Zufall eines fehlgehenden Balles, der das Unglück in Gang bringt.3
Der Ball überquert die Grenze und verletzt eine weitere: Er zertrümmert einFenster und dringt in das nachbarliche Haus ein.4
Noch ist alles in Ordnung.5
Dann geschieht ein weiteres Unglück mit leicht gesteigerten Konsequenzen:6
Noch soll alles gut ausgehen – aber der Nachbar handelt gefährlich: Er setzt sich über die Grenze7
hinweg, buchstäblich.8
Und ist nun, ob er will, oder nicht, auf feindlichem Terrain. Er interpretiert darum nun jedes Vorkommnis als feindlichen Akt:9
Nun geht es zunächst absichtlich weiter, wobei erstens die trennende Grenze zum Frontverlauf wird und zweitens die zweite Grenze, die des Hauses, zum Ziel:10
Schließlich11
eskaliert der Konflikt zu einer Art Star Wars, denn die Kontrahenten haben ihre Bälle mit Sprengstoff gefüllt. Das ganze Unternehmen gipfelt in dem12
Versuch, das beschädigte Haus des anderen unter Wasser zu setzen und unbewohnbar zu machen. Das gelingt.
In einer anderen Geschichte geht es um den Versuch, Kommunikation aufzunehmen; dieser wird als Grenzverletzung interpretiert:13
Weitere Grenzverletzungen werden abgewehrt bzw. enden desaströs, indem es schließlich zu manifesten Zerstörungen kommt:14
Kurz,15
dies bleibt der Normalzustand der Nachbarschaft.
Um zu verstehen, wie es dahin kommt, müssen wir verstehen, um was für eine Art Grenze es sich bei der Grenze handelt, die Nachbarn voneinander trennt. Länder- oder Staatsgrenzen sind vielerlei Art: von der gedachten Linie im Wüstensand, die niemand sieht und die nichts bedeutet, bis zur befestigten und bewachten Mauer, die mitten in einer Stadt eine Straße durchtrennt – von der nur für die Kartographie sowie behördliche Zuständigkeiten, nicht aber für die Verkehrsformen der Menschen untereinander relevanten Grenze bis zum überwachten Landstrich, der für beide Seiten ein militärisches Aufmarschgebiet sein könnte – und alles mögliche dazwischen: Küsten, Fischereizonen, Luftraum und so weiter. Grob sortierend könnte man wohl von zwei Grundtypen von Grenzen ausgehen, dem Gebirge und dem Fluß. Das Gebirge (die Wüste, der Sumpf) ist ein Gebiet, das zwischen zwei Gebieten liegt, in denen die Anspruchsverhältnisse klar sind. Auf das Gebiet dazwischen erhebt niemand Anspruch, es behindert zudem das Reisen. Es ist eine Grenze, weil niemand in dieses Gebiet hineinwill, allenfalls hindurch, ins andere Land eben. Der Fluß ist sozusagen das Gegenteil. Er ist keine natürliche Grenze, insofern er nicht primär Menschen voneinander trennt, sondern sie verbindet. Zwar behindert er die Überquerung, aber er befördert den Verkehr, und dort, wo eine Furt ist oder eine Brücke gebaut werden kann, entstehenVerkehrsknotenpunkte, Handelszentren,um die herum sich interessiertes Hinterland bildet. Flüsse (oder eben bestimmte Flußabschnitte) sind Interessengebiete, die Länder zusammenbringen. Auf der anderen Seite eignen sich Flüsse als Verteidigungslinien. Also soll möglichst beides gelten: “Wacht am Rhein” und “Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze”. Als dritten Typ gibt es die Waffenstillstandslinie, die durch Zeit zur ordinären Grenze wird. Alle konkreten Ausgestaltungen dieser Typen sind historisch kontingent und ebenfalls die mit möglichen Grenztangierungen verbundenen Problemlagen.
Ähnelt die Grenze zwischen Nachbarn einem dieser Typen? Nein, auch nicht der Waffenstillstandslinie, denn Nachbarschaftsbeziehungen werden nicht ausgekämpft, am Ende des Konflikts stehen in der Regel keine Grenzverschiebungen. Die Nachbarschaftsgrenze ist also von eigener Art. Sie ist die Grenze, die darum so schwierig zu beschreiben ist, weil sie diejenige ist, bei der ihr So-Sein als Grenze die entscheidende Rolle spielt: also daß, nicht was sie begrenzt. Einwand: auch bei Länderkonflikten können lächerliche Grenzverletzungen symbolisch zu Kriegsgründen aufgewertet werden. Das stimmt, aber solche symbolischen Ereignisvergrößerungen tragen immer den Appell in sich: “Stell dir vor, wir lassen das geschehen, was wird dann sein?”, kurz: man sieht die Stiefel, die, des Grenzsteins nicht achtetend, bereits die Heimaterde zertrampeln. Das war die Lektion, die Romulus gab, der seinen Bruder erschlug. Ohne solche Emotionalisierung durch Hochrechnung gibt es keine Sensibilität von Ländergrenzen. Die Grenze zwischen Nachbarn ist an sich berührungssensibel.
Carl Barks hat das auf seine Weise deutlich gemacht. Der Grenzzaun hat ein Loch.16
Es gibt bei Ländergrenzen einen Brauch – und man achtet auch bei streng bewachten Waffenstillstandslinien darauf, ihn einzuhalten – auf möglichst beiden Seiten der Grenze einen ungenutzten Streifen Land freizuhalten. Dieser Landstreifen dient als Sicherheitsterrain: Ungewollte Grenzverletzungen können so verhindert werden. Dieser Sicherheitsstreifen hat aber noch einen besonderen Sinn. Er verhindert, daß das, was in größter Nähe der Grenze geschieht, bereits unmittelbar an der Grenze geschieht. Als Zaun hat eine Grenze zwar zwei Seiten, meine und deine, aber als Grenze hat der Zaun nur eine: Wenn ich die Grenze meines Terrains berühre, berühre ich die Grenze deines Terrains. Der Hegelsche Gedanke, daß die Thematisierung einer Grenze schon ihre Überschreitung sei, findet hier eine kuriose Realitätsentsprechung: Wenn ich in meinem Terrain “bis an die Grenze” gehe, bin ich schon über sie hinausgegangen.17
Die Verletzung einer Landesgrenze kann den Vorwand für einen Eroberungskrieg liefern, aber aus sich heraus fordert sie keine reziproke Grenzüberschreitung. Es reicht, wenn die Feinde über die Grenze zurückgeworfen sind und von denen niemals mehr einer wagen wird, seinen Fuß auf unseren heiligen Boden zu setzen. Es gibt aber eine andere Grenzüberschreitung, die in den durch sie ausgelösten Emotionen und möglichen Reaktionen der nachbarschaftlichen Grenzverletzung weit näher steht als diese der Verletzung einer Landesgrenze – der Übergriff auf den Körper. Wer auf die Körperoberfläche eines anderen Menschen zugreift ohne dies zu dürfen, greift auf die gesamte Person über. Er macht den anderen zum Objekt seiner Willkür – und sei es für einen Moment – und zwingt den anderen, will der in dieser Lage nicht verharren, etwas zu seiner Restitution zu tun. Das ist klassischerweise das “Wie du mir, so ich dir”. Indem ich den anderen zum Objekt meiner Willkür mache, versichere ich mich meiner Subjektivität und gewinne sie wieder. Das Gebot, die andere Wange hinzuhalten, setzt hier ein: Ein Kreislauf soll durchbrochen werden. Die Ethik der Nicht-Vergeltung versucht, einen anderen Weg zu finden, Subjektivität zu behaupten: Sie verspricht Teilhabe an einer höheren Moral. So will sich ein Beleidigter mit einem Angehörigen der Unterklasse nicht duellieren, weil das dessen Status als potentiell gleichwertiges Subjekt voraussetzt; der wird darum für nicht satisfaktionsfähig erklärt und die Beleidigung für nicht existent, sozusagen ein Schmutzspritzer von einem vorüberfahrenden Wagen.
Wie wäre nun über die Analogie hinaus zu belegen, daß die Verletzung der nachbarschaftlichen Grenze von ähnlichem Schlage sei wie die Verletzung der Körpergrenze? Damit, daß diese selbst dehnbar ist, nicht auf die physische Körperoberfläche beschränkt. Wir kennen die Geste des Am-Revers-Packens, sie löst körperliche Abwehr und Wut aus. Wir wissen, in welcher Weise Menschen aggressiv wirken, die gewohnheitsmäßig den (kulturell fixierten) Abstand, den Menschen, die sich unterhalten und frei im Raume miteinander stehen, einzuhalten pflegen, unterschreiten. Menschen haben um sich herum Sicherheitszonen, auf deren Nichtverletztwerden sie großen Wert legen: Körperoberfläche, Kleidung, Abstand, Wohnung. Auch hier ist der Bezug zum Körper mehr als ein analogischer. Die Wohnung ist nicht nur – my home is my castle – in der Lage, mich faktisch zu schützen, sie wird körperähnlich wahrgenommen, wie jeder weiß, bei dem einmal eingebrochen worden ist. Die Reaktionen auf Einbrüche sind stets dieselben: Verstörtheit, Hilflosigkeit, Scham, Ekel bis hin zum Bedürfnis, zuallererst den Körper zu waschen. All diese Bereiche – Kleidung, Abstand, Wohnung – sind Körperrepräsentanzen, und das Grundstück ist es zumeist auch.18
Darum schlägt eine Grenzverletzung in diesem Bereich sofort durch, wird scheinbar irrational beantwortet.
Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, daß es noch weitere Körperrepräsentanzen gibt: das Auto und den Hund. Übergriffe auf beide werden als Angriffe auf die eigene Person empfunden und ausgesprochen aggressiv beantwortet. Das nämliche gilt von Autos und Hunden anderer. Wird deren Präsenz als durch besondere Lizenz zur Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet empfunden, so hat diese Empfindung etwas von einem Bedrohtsein durch Einengung von körperlichem Entfaltungsraum (das Auto versperrt, der Hund beschmutzt, beide dringen in den beanspruchten Schallschutz ein wie der Rasenmäher des Nachbarn während der Mittagsruhe).
Von solchen Besetzungen der Außenwelt ist niemand frei, aber es ist unterschiedlich, eine wie große Rolle sie im jeweiligen Seelenhaushalt19
spielen. “Neurotisch” (wenn denn dieses Wort ins Spiel kommen soll) ist nicht eine diesbezügliche Empfindlichkeit, wäre es aber, wenn sie andere Regungen dominierte. Aber darum geht es hier nicht, sondern allein darum, daß Nachbar zu sein eine Quelle permanenten psychischen Stresses ist. Wand an Wand, getrennt durch dieselbe Grenze, stets ist das Agieren auf der anderen Seite ein möglicher Übergriff.
Und doch geht es meistens gut. Das liegt an diversen sozialen Bewältigungsstrategien. Die erste ist die “gute Nachbarschaft”, die zweite die Drohung der sozialen Ächtung, die dritte der Rechtsweg.
Vorausgeschickt muß werden,20
daß Nachbarschaftskonflikte, die über ein bestimmtes Maß hinausgehen, nicht erwünscht sind.
Sie können, wovon die Barks-Comics wissend handeln, große Destruktionsenergien entbinden, denn, wie bei allen Konflikten, differieren das Auslösethema und das sich dem Beobachter schließlich präsentierende Konfliktprofil, aber, was die Sache eben besonders schwierig macht, bei Nachbarschaftskonflikten gibt es immer eine unüberbrückbare Differenz zwischen Auslösethema und emotionellem Einsatz seitens der Beteiligten. Der Nachbarschaftskonflikt kann also nie “gelöst”, sondern nur in seiner jeweils aktuellen Austragungsform gelähmt werden. Der daraus resultierende Vorteil ist, daß Nachbarschaftskonflikte kein Boden für Parteienbildung sind – und sollten sie es doch sein, weil das Auslösethema sich dazu eignet, ändert sich der Konflikt und läßt mindestens einen der ursprünglich Beteiligten frustriert zurück. Der streitlustige Nachbar wird für seine Partei, die sein Anliegen der zu beantwortenden Grenzverletzung regionalpolitisch interpretiert, ein Problem, weil er, notgedrungen unzureichend vertreten durch seine Parteigänger, die seine Aufgeregtheiten nicht teilen können, zum Querulanten wird. Darin liegt der Vorteil der Nachbarschaftskonflikte für das soziale Umfeld: sie haben nicht das Potential, von sich aus sich auszuweiten. Sie bleiben unter denen, die es angeht, und wenn die zu laut werden, kann man sie lächerlich machen.
In diesem Lächerlichmachen besteht die eine soziale Befriedungsstrategie. Sie wird täglich und ubiquitär angewendet, um Nachbarschaftskonflikte kleinzuhalten und wirkt bis in die Familien hinein. Am Abendbrottisch wird ausgehandelt, ob die Familie “wie ein Mann” hinter dem Initiator des Konflikts steht, oder ob der Rest der Familie es “mit den anderen hält”, sprich: mit den Unbeteiligten, die es lächerlich finden. Wird die Familie zu einer homogenen bösartigen Gruppe oder beginnt in ihr ein beschleunigter Individualisierungsprozeß (“Der Alte mit seiner Rasenmähermacke” und “Laß uns doch einen Ausflug machen, dann hörst du¹s nicht”).
Der Rechtsweg ist der Weg der Verobjektivierung von Konflikten. Ein Dritter wird dem Konflikt beigesellt, der festlegt, worum es im Konflikt eigentlich geht und entscheidet, wer “recht hat” und Recht. Im Prozeß haben die Streitparteien in einem Verfahren, das nicht das ihre ist, und einem Vokabular, das nicht das ihre ist, also mit größtmöglicher Distanz zu ihren emotionellen Anliegen ihre Sache vorzutragen. Das Verfahren ist im Grunde die permanente Thematisierung dieser Distanz und der Druck auf die Beteiligten, sich dieser Distanz gemäß (auch künftig) zu benehmen. Konnte man vor dem Verfahren von einem der Konfliktbeteiligten sagen, er übertreibe zwar auf lächerliche Weise, suche aber sein Recht, so kann man letzteres nicht mehr: entweder hat er unrecht, oder er hat zwar recht bekommen, macht aber weiter von der Sache reden. Er ist jetzt ein Störenfried, und wenn er nicht aufpaßt, betritt er die soziale fatal abschüssige Bahn des Querulanten, der den Rest seines Lebens damit verbringt, sein Recht überall zu suchen, obwohl er es nirgendwo mehr bekommen kann.
Es gibt also einen sozialen Druck, Nachbarschaftskonflikte einzudämmen, der schon deshalb funktioniert, weil Nachbarschaftskonflikte nur um den Preis ihrer Wesensveränderung ausufern können. Das Rechtsverfahren beendet gleichwohl den von den Konfliktparteien natürlich vor sich her getragenen Anspruch auf Solidarität. Es bringt sie zum Schweigen. Das Verfahren setzt dann ein, wenn dieser Anspruch nicht schon vorher wirksam durch Lächerlichmachen erledigt worden war. Von “Konfliktlösung” kann in beiden Fällen nicht die Rede sein.
Besser wäre es für die Beteiligten, wenn der Konflikt nicht entstünde. Dem dient die Etablierung gutnachbarschaftlicher Beziehungen. Gutnachbarschaftliche Beziehungen bestehen nicht darin, daß keine Grenzverletzungen vorkommen (die kommen immer vor, weil, wie ausgeführt, das Agieren an der eigenen Grenze bereits die Überschreitung der Grenze zum anderen ist, oder wenigstens leicht sein kann). Gutnachbarschaftliche Beziehungen bestehen darin, die Grenzverletzung zu wollen, d. h. sie bestehen in der Herstellung von Intimität. Die Bitte um eine Tasse Zucker ist ja nicht so sehr die um einen (wahrlich kleinen) Gefallen als vielmehr die Offenbarung der eigenen Bedürftigkeit. Man enthüllt Dimensionen der eigenen lebenspraktischen Instabilität: “Sehen Sie, ich bin unfähig, zureichend für mich zu sorgen”. Und das Angebot des reziproken Verhaltens. Wenn die Sache aufgeht, sitzt man irgendwann nicht mehr separiert, jede Familie für sich, vor dem Fernseher, sondern der Mann geht zur Sportschau nach nebenan, anschließend gehen beide in die Kneipe und belästigen gemeinsam die Serviererin; die Frau erzählt der Nachbarin Peinlich-Abträgliches über ihren Mann. Derlei schafft, ähnlich wie gemeinsame Gefängnisaufenthalte, Schicksalsgemeinschaften. Kein Bedürfnis nach Nähe treibt die Leute zusammen, sondern die Abwehr katastrophischer Transformation unabwendbarer Nähe. Das ist der Grund, warum Urlaubsfreundschaften (“Auf Mallorca waren wir eine richtige Clique!”) sich anderswo nicht fortsetzen. Wo ich mich nicht davon abhalten muß, den anderen tot zuschlagen, brauche ich mich auch nicht mit ihm anzufreunden. Ist dieses aber einmal gelungen, ist die so geknüpfte Beziehung äußerst strapazierfähig, jedenfalls solange sie emotionell durch wechselseitige Erniedrigungen gefüttert wird. In gutnachbarschaftlichen Beziehungen präsentieren sich Menschen einander in einer Art und Weise, die sie noch widerlicher macht als sie ohnehin schon sind – allenfalls Familienfeste, die die Erniedrigung als wahrnehmungsleitendes Apriori bereits eingebaut haben, halten hier mit. Der Höhepunkt solcher gemeinschaftstiftenden mutuellen Erniedrigungen sind die gemeinsamen Grillfeste, zu denen man sich physisch in besonders demütigender Weise den Blicken der anderen präsentiert und derartig viel Alkohol trinkt, daß das, woraus die Konversation sowieso immer bestanden hat, nunmehr sich endgültig als das Gestammel selbstzufriedener Trottel darstellt, das es ist. “Ich bin deiner Willkür ausgeliefert, nicht mein Wert, nur dein Wille ist es, der mich erhält”, signalisiert man einander, und: “Du kannst sein, was immer du willst, ich werde dich nicht töten.” Es ist, profan, optisch unschön, aber unverkennbar eines der tiefsten theologischen Geheimnisse, das hier tangiert wird: das der Gnade. Noah und der Regenbogen, und: “Ich gönne, dem ich gönne.” Allerdings ist es unter Nachbarn ein wechselseitiges Gnadengewähren.21
Gutnachbarlichkeit ist jene Gewaltressource, ohne die Bürgerkriege, die wirklich die ganze Nation ergreifen (und nicht auf marodierende Banden beschränkt bleiben), nicht auskommen. Nachbarschaften produzieren zweierlei: Angst und Haß auf der einen, strapazierte und strapazierfähige Gemeinschaften auf der anderen Seite. Jetzt muß nur noch sortiert werden. Dieses Sortieren erfolgt nicht aus dem Nachbarschaftsambiente heraus. Bürgerkriege entstehen nicht, indem das ewige kleine Feuer des Nachbarschaftskonflikts sich zum Flächenbrand ausweitet. Das kann es bekanntlich nicht. Um das Entstehen von Bürgerkriegen zu erklären, braucht man Analysen anderer Art. Aber um die umstandslose Begeisterung für Bürgerkriege zu erklären, Begeisterung von Leuten, die von ihrer Teilnahme “eigentlich” nichts zu gewinnen haben, wird man auf die hier angestellten Überlegungen zur Nachbarschaft zurückgreifen müssen.
“Eigentlich” haben die im Bürgerkrieg Parteinehmenden nichts zu gewinnen. Manchmal aber doch. Es kann sein, daß dem einen zufällt, was er sonst nie bekäme: der Nachbar ist vertrieben oder erschlagen und das hinterlassene Grundstück wird zum Schnäppchen. Das ist wie das Versprechen der Farm in der Ukraine: erträumter Zusatznutzen, aber, da selten und meist noch längst nicht in Reichweite, als Ausgangsmotivation zu vernachlässigen. Der Gewinn ist emotional: das Leid des Nachbarn und der darin erlebte Zuwachs an eigener Macht. Wir kennen das Phänomen aus totalitären Systemen, die auf die Denunziation setzen. Nachbarn denunzieren einander auf Teufel komm raus, ohne einen Gewinn jenseits des Aktes der Denunziation (und ihrer bösen Folgen für den Denunzierten) zu haben: keine Prämie, keine Karriere, nicht Geld noch Gut, kein Renommée (im Gegenteil: rauskommen sollte es möglichst nicht). Ist die Möglichkeit politisch eröffnet, Nachbarschaft zur Arena reiner Destruktion um der bloßen Befriedigung willen, die darin besteht, sie auszuüben, zu machen, wird diese Möglichkeit – exzessiv – genutzt.
Die Gewaltressource Nachbarschaft kann ihrer selbstwüchsigen Destruktivität überlassen bleiben – es gibt Regime, zu deren Machtverfassung das paßt (Beispiel Sowjetunion). Es gibt Regime, die nur bestimmte Gruppen zur nachbarschaftlichen Zerstörung freigeben, ethnisch und politisch Abweichende, bei denen die Denunziation Anstoß zur Überprüfung ist, aber sich die Exekutoren des Regimewillens die Entscheidung überlassen, ob sie der denunziatorischen Zuordnung folgen wollen (Nationalsozialismus). In beiden Fällen bleibt das Nachbarschaftsmilieu als solches diffus und passiv. Es gibt schließlich die politische Strukturierung eines Teils des Nachbarschaftsmilieus als Partei, die an die andere Partei (den Rest) eine Feinderklärung ergehen läßt. Man ist nurmehr Hutu oder Tutsi, Serbe oder Kroate, katholisch oder evangelisch. Die Grenze zwischen Freund und Feind verläuft nicht mehr als direkte Nachbarschaftsgrenze, sondern muß dauernd neu gezogen werden, je nach Maßgabe der Zuordnung der Mitbewohner des Milieus. Das ist, ebenso wie die Verwandlung von Leuten, die ich zuvor noch gar nicht gekannt habe, in “gute Nachbarn”, eine mentale Operation auf projektiver Basis. Diese Verwandlung eines Nachbarschaftsmilieus in ein Patchwork von Inseln guter und böser Nachbarschaften, die gedacht werden müssen als zwei Nachbarn mit einer Grenze, ist mental schwierig und verlangt vor allem Freund-Feind-Gefühle, die von ihren alltäglichen Quellen abgeschnitten sind. Der böse Nachbar grenzt ja nur im Ausnahmefall wirklich an meine Behausung, mit dem guten verbindet mich keine intimitätstiftende Praxis. Es ist nicht leicht, einzusehen, warum das so funktionieren kann, wie es das bekanntlich so oft tut. Hier liegt das in der Eingangsfrage unzureichend gekennzeichnete Problem. – Die Antwort ist folgende: Es kommt darauf an, den ersten Schritt zu tun. Durch den Einsatz von Gewalt bekommt die Sache Hand und Fuß, tritt aus der unzureichend motivierenden Abstraktion heraus. Sind erstmal Häuser niedergebrannt und Menschen erschlagen, wird zweierlei konkret. Erstens die Bedrohung: ich bin Objekt möglicher Gegengewalt geworden (darum behauptet man gern, dieser Akt habe bereits stattgefunden – übrigens tatsächlich gern als Gegen- nicht als Initialgewalt: diese ist glaubwürdiger!). Zweitens offenbart sich eine neue Dimension gute Nachbarschaft stiftender Intimität: Gewalt als gemeinsam begangen, als gebilligt, als mitgewußt, als vertuscht, verschwiegen, oder, je nachdem, als etwas, dessen man sich gemeinsam rühmt. Es ist das identitätsstiftende Wissen darum, einer Gemeinschaft von Schweinehunden anzugehören, die nur in der Gemeinschaft mit ihresgleichen Anerkennung und Zuwendung genießen. Dort aber um so mehr. Die Grillparty wird fortgesetzt als Biwak, in den Stand der Gnade tritt jeder erneut und immer wieder ein durch fortgesetztes Begehen unerhört grausamer und unerhört feiger Gewalttaten. Aber er ist dort, wo keiner den ersten Stein wirft. Wo sonst kann man so sicher sein?
© der Zeichnungen in diesem Text: Disney.
Barks Library 49, S. 17, 1. Bild
Barks Library 2, S. 11, mr
14 mr
14 ur
15 ol, or
15 mr, ul
15 ur
16 ml
16 ul, ur 17 ol, or, u
18 ml, ur
20 ml
20 u
Barks Comics 4. S. 12, alle Bilder
S. 14 or, oml, 25 ol, or, oml+r, uml+r
Barks Library 4, S. 17, ur
Barks Library 50, S. 19 ul+r, 20 ol+r
Barks Library 50, S. 20 letzte 4, S. 22 letzte 3
Barks Library 49, S. 24 or.
S. 17 ul+r
Barks Library 49, S. 26 mur, ul, ur
Eine interessante Frage wäre, ob dies theologisch wirklich so ganz undenkbar ist. Was ist denn die Pointe des Buches Hiob?
Published 2 November 2005
Original in German
First published by Mittelweg 36 5/2004
Contributed by Mittelweg 36 © Jan Philipp Reemtsma/Mittelweg 36 Eurozine
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.