Multikulturalismus und Diversität
Replik auf Kenan Maliks "Ist der Multikulturalismus ein Rassismus?"
Kenan Maliks Artikel Mistaken Identity1 reiht sich in die Kritiken der Theorie des Multikulturalismus ein, die entweder seine Funktionsweise oder die Kategorien, mit denen er operiert, ins Visier nehmen. Bereits der Titel des englischen Originalaufsatzes von Malik Mistaken Identity (in deutscher Übersetzung: Ist der Multikulturalismus ein Rassismus? 2, verrät ein Interesse an Fehlschlüssen im Denken über den Multikulturalismus. Malik unterstellt dem multikulturalistischen theoretischen Diskurs, dass er Kultur, Differenz und Identität biologisierend als Naturgegebenheiten voraussetze und so in gefährliche Nähe von rassistischen Denkweisen gerate, ja von diesen kaum unterscheidbar sei. Damit aber diese These glaubhaft ist, denn provokant ist sie durchaus, darf sie selbst nicht das Ergebnis eines Fehlschlusses sein.
Ich werde hier zuerst kurz die Fehlschlüssigkeit von Maliks Argumentationsgang nachzeichnen; und dann ein zentrales Problem des multikulturalistischen Denkparadigmas aufzeigen, wobei meine Kritik allerdings in eine andere Richtung als die Maliks weist.
Multikulturalismuskritik
Dem Multikulturalismus den Vorwurf zu machen, er verstehe Differenz, Identität, Kultur als etwas Dinghaftes, ist der wohl ausgeprägteste Strang theoretischer Multikulturalismuskritik. Generell lassen sich zwei Richtungen dieser Kritik feststellen: die funktionale und die kategoriale Kritik am Multikulturalismus3.
Funktionale Kritiken bemängeln, dass der Multikulturalismus nicht so funktioniere, wie es für die Gesellschaft notwendig wäre, und dass er die Erwartungen enttäusche, die er weckt. KritikerInnen kommen häufig aus der Praxis und weisen darauf hin, dass das multikulturalistisch propagierte Miteinander von Kulturen dysfunktional sei und verschiedene Probleme einschließlich Desintegration und Stigmatisierung erzeuge. Beispielhaft dafür ist die Position der deutschen Islamkritikerin und Frauenrechtlerin Seyran Ates4, die den Multikulturalismus für die Bildung von Parallelgesellschaften verantwortlich macht und mit Thesen wie “Die Multikulti-Haltung ist naiv”5 reichlich konservativen Beifall erntet.
Die kategoriale Kritik hingegen kommt zumeist aus der Theorie. Sie hinterfragt die Begrifflichkeiten von Kultur, Identität und Differenz, die in den Diskursen zu Multikulturalismus im Umlauf sind, stellt also die konzeptuellen Bausteine des Multikulturalismus in Frage. Allen voran wird die sogenannte Essentialisierung von Kultur, Herkunft und Religion kritisiert, insofern diese ihres prozesshaften und offenen Charakters entledigt und nur noch “as finished objects […] something one has and is a member of, rather than something one makes and reshapes through constant renewing activity” begriffen werden6. Auch Kenan Malik schließt sich dieser Essentialismuskritik an.
Dem Multikulturalismus, oder zumindest einigen seiner Spielarten, eine essentialisierende Verwendung von Grundbegriffen wie Kultur, Identität, Differenz vorzuwerfen, hat mittlerweile eine lange kritische Tradition. Mit einer provokanten Umdeutung des bereits Gesagten ist es aber durchaus noch möglich, sich innerhalb dieser Kritiktradition abzuheben und etwas Aufsehen zu erregen. Kenan Malik lastet dem Multikulturalismus also nicht bloß die Essentialisierung, sondern gar die Biologisierung von Differenz an, die ja lediglich eine Subvariante der Essentialisierung ist. Und mit der Biologisierung wird die Verwandtschaft zwischen Multikulturalismus und Rassismus behauptet.
Damit aber Maliks positive Beantwortung der Frage “Ist Multikulturalismus ein Rassismus?” hält, muss der Argumentationsgang zu diesem kritischen Befund überprüft werden.
Eine erste methodologische Auffälligkeit seiner Argumentation liegt in den spärlichen Verweisen auf die Texte und Kontexte multikulturalistischen Denkens. Die VertreterInnen der Theorie des Multikulturalismus, die Malik zu Wort kommen lässt – wie Iris Young, Charles Taylor und Will Kymlcika – sind tatsächlich einflussreiche AkteurInnen der Multikulturalismusdebatten der letzten 20 Jahre. Aus ihren umfangreichen Werken zitiert Malik zum Aufbau seiner kritischen Argumentation einzelne Formulierungen, die, wenn auch pointiert, so keinesfalls repräsentativ für die Positionen der zitierten AutorInnen sind. Noch weniger können die wenigen suggestiv ausgewählten Verweise als repräsentativ für den Diskurs des Multikulturalismus gelten. Aus ein paar einzelnen, möglicherweise missverständlichen Thesen einen generalisierenden Schluss über Multikulturalismus in all seinen oft widersprüchlichen Deutungen und multidisziplinären theoretischen Ausprägungen zu ziehen, kann nur als Fahrlässigkeit bezeichnet werden, die in weiterer Folge zu Fehlschlüssen führt.
Existenz und Eigenart von Kultur
Maliks Fehlschluss setzt dort an, wo der Autor die Position des Multikulturalismus in Anlehnung an Will Kymlicka und Charles Taylor erfasst zu haben glaubt: “Die Beziehung zwischen kultureller Identität und rassischen Unterschieden wird noch deutlicher, wenn wir das Argument untersuchen, dass Kulturen geschützt und erhalten werden müssen. Der kanadische Philosoph Will Kymlicka vertritt die These, dass dann, wenn ‘das Überleben einer Kultur nicht garantiert ist und wenn sie von Entwürdigung oder Verfall bedroht ist, wir eingreifen müssen, um sie zu schützen’, denn Kulturen seien lebensnotwendig für die Menschen. Für Charles Taylor gilt, dass dann, ‘wenn es um Identität geht’, nichts ‘legitimer’ sei als ‘das Streben danach, sie nie zu verlieren’. Aber was bedeutet ‘Verfall’, wenn es sich um eine Kultur handelt? Oder ‘Verlust’ im Fall einer Identität?'”7).
Der Denkfehler, so Malik, passiere Multikulturalisten vom Schlage Charles Taylors oder Will Kymlickas dort, wo diese Kulturverlust für eine reale Möglichkeit halten und zum Schutz kultureller Identität aufrufen, die ansonsten verloren gehen könnte. Zunächst sei in der Vorstellung, dass Identität verloren gehen könne, eine Verdinglichung von Identität wahrzunehmen. Es kann aber vielerlei, was kein Ding ist, verloren gehen – wie Glauben, Vertrauen, Gedächtnis oder Kompetenz. Und es ist bei weitem nicht alles, was als Ding verloren gehen kann, ein Naturding.
Die Verlustvorstellung und Schutzforderung der Multikulturalisten, so Malik weiter, bringe eine Verdinglichung von Kultur hervor, indem sie einen Keil zwischen die Existenz von Kultur und Kultur als gelebte Praxis schlage. Damit würde eine Dichotomie herbeigeredet, mit der in der Metaphysik Substanz und Attribute gegeneinander ausgespielt wurden, und die mit dem “Begriff des ‘Typus’ […] im Mittelpunkt der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts stand”8. Malik stellt daraufhin die Frage, worauf sich diese Schutzforderung stütze: Wenn eine Kultur nach ihrer “Eigenart” nicht mehr überlebensfähig sei, wenn sie den Überlebenstest des freien Spiels der Kulturkräfte nicht mehr aus eigener Kraft bestehe, warum solle man sie dann künstlich am Leben erhalten?
Die Schutzforderung der MultikulturalistInnen stützt sich aus Maliks Sicht auf die normative Hervorhebung der Existenz von Kultur, welche Kultur verdingliche; und diese Verdinglichung von Kultur, Identität und Differenz komme einer Biologisierung gleich. Malik folgert: “Kymlicka macht einen Unterschied zwischen der ‘Existenz einer Kultur’ und ‘ihrer ‘Eigenart’ zu einem gegebenen Zeitpunkt’. […] Unter ‘Eigenart’ scheint Kymlicka die empirische Wirklichkeit einer Kultur zu verstehen […] Aber wie kann eine Kultur existieren, wenn diese Existenz nicht in ihrer Eigenart verkörpert ist? […] Wenn eine Kultur nicht durch das definiert ist, was die Angehörigen dieser Kultur tun, was definiert sie dann? Die Antwort kann nur darin bestehen, dass sie durch das definiert ist, was ihre Angehörigen tun sollen. Und was sie nach Ansicht der Kulturschützer tun sollen, ist das, was ihre Vorfahren getan haben. Kultur wird hier durch biologische Abstammung definiert. Und biologische Abstammung ist eine höfliche Art, ‘Rasse’ zu sagen”9.
Werden die Existenz von Kultur und Kultur als gelebte Praxis (ihre “Eigenart”) getrennt und einander entgegengesetzt gedacht, wie es Malik der zitierten Passage entnimmt, dann werden Kultur, Identität, Differenz als eine Art biologisches Erbgut thematisiert, das allein aufgrund seines schieren Vorkommens und unter allen Umständen unter Artenschutz zu stellen ist. Hier setzt in Maliks Argumentation der entscheidende Sprung von der Essentialisierung zur Biologisierung von kultureller Identität an. Mit diesem Sprung wird die Schlussthese untermauert, dass das Denken des Multikulturalismus in direkter Verwandtschaft zum Denken des Rassismus stehe, der ebenso soziale Eigenschaften biologisiere und unter Schutz stelle, damit getrennt bleibe, was nicht zusammen gehöre. Genau an dieser Stelle aber schnappt die Falle des Fehlschlusses zu.
Malik ortet das Moment der Biologisierung von Kultur in der Kluft zwischen Existenz und Eigenart von Kultur; dass also aus multikulturalistischer Perspektive Kultur das ist, was sie sein soll, und dass sie das sein soll, was sie immer schon gewesen ist. Die Kultur als das immer schon Gewesene ist dann nichts anderes als die Überlieferung, die zu ihrer Weiterführung beauftragt, unabhängig davon, ob sie gegenwärtig lebensfähig und relevant ist. Malik entdeckt also die biologisierende Verdinglichung von Kultur im multikulturalistischen Denken in der Tatsache, dass Kultur als Überlieferung existiert oder sich ein wesentlicher Teil ihrer Existenz der Überlieferung verdankt. Und die Überlieferung ist für Malik nichts anderes als “biologische Abstammung” (biological descent), eine quasi-natürliche Instanz, von welcher der Soll-Auftrag ausgeht, Kultur und Identität aufzubewahren und zu schützen.
Normalerweise würde man ein solches Missverständnis ignorieren, wäre darauf nicht Maliks Schlussthese aufgebaut, dass Multikulturalismus und Rassismus die zwei Seiten derselben Münze seien. Es ist ein Missverständnis, die Überlieferung von Kultur und Identität als ein biologisches Faktum zu erklären. In die kulturelle Überlieferung sind natürlich biologische Fakten involviert; ihnen kommt aber nicht die Bedeutung zu, die Malik der “biologischen Abstammung” als dem prägendsten Mechanismus kultureller Überlieferung zuweist10. Die Überlieferung, die zur Weiterführung verpflichtet, die verloren gehen und unter drohenden Bedingungen Schutz erfordern kann, ist kein biologisches, sondern ein geistiges Faktum. Und als solches ist es eben nicht wie ein Naturding verfestigt und auf bewusste Weiterführung angewiesen, weil es tatsächlich verloren gehen kann.
Wenn man aber Überlieferung nicht als wesentliches Moment kultureller Identität sehen und kulturelle Identität nur nach ihrer momentanen Befindlichkeit und Lage im freien Spiel der Kulturkräfte als lebensfähig und -berechtigt beurteilen will, beruft man sich dann nicht stillschweigend auf das Recht des Stärkeren, wie es im Reich der Natur waltet? Nach dieser Logik des Umgangs mit Überlieferung würde man z. B. die historische Vielschichtigkeit moderner Städte auslöschen und allein kontingente Bedürfnisse nach Funktionalität und Rentabilität walten lassen.
All das wirft die Frage auf, ob der Autor nicht seine eigene biologisierende Auffassung von Kultur auf das multikulturalistische Denken projiziert und aus dieser Projektion Profit schlägt. Das einzig Biologisierende an Kenan Maliks Kritik an der Biologisierung von kultureller Identität in der Theorie des Multikulturalismus, worauf auch der Befund der Verschwisterung mit rassistischem Gedankengut basiert, ist die Kritik selbst.
Kritik der Essentialisierung und Holismuskritik
Durchaus angebracht scheint jedoch die in Maliks Kritik enthaltene Mahnung zu sein, dass die Theorie des Multikulturalismus in ein essentialistisches Verständnis von Identität und Differenz abgleiten kann. Dieses Abgleiten besteht aber nicht in der Biologisierung von kultureller Identität; vielmehr besteht das Problem des Multikulturalismus darin, dass hier mit einem sehr engen und beschränkten Spektrum von Differenzen gearbeitet wird. Die Kritik an der Essentialisierung von Identität und Differenz im Kontext multikulturalistischer Theorie und Praxis gehört mittlerweile zum state of the art in verschiedenen Disziplinen und ist selbst zu einem nicht hinterfragten intellektuellen Habitus avanciert. Diese habitualisierte kritische Haltung gegenüber den verschiedenen essentialistischen Auslegungen von Kultur vermittelt, wie Kultur als mehr als eine relationslose Monade zu denken sein könnte. Sie berücksichtigt allerdings nicht die Frage, warum das Phänomen der gesellschaftlichen Vielfalt, und zwar der Vielfalt, die für die Zugehörigkeit von Personen und den Zusammenhalt der Gesellschaft von Relevanz ist, überhaupt nur an Identifikatoren wie Kultur, Herkunft, Religion, Sprache, Nationalität festgemacht wird, und ob solche Beschreibungen nicht zu kurz greifen11.
In der Theorie und Praxis des Multikulturalismus wird mit Identitätskomplexen wie Kultur, Herkunft, Religion unter der Annahme operiert, dass nur sie allein für gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Zugehörigkeit von Bedeutung sind. Diesen Identitätssystemen gemeinsam ist der Anspruch auf Ganzheitlichkeit; sie sind narrativ kohärent und normativ unterlegt und spenden individuelle wie kollektive Orientierung und Sinnstiftung. Darüber hinaus wird “Kultur” im Diskurs des Multikulturalismus oftmals als stellvertretend für andere ebenso holistisch verfasste Identifikatoren behandelt. Vor allem Profis – PolitikerInnen, ExpertInnen, AktivistInnen – bedienen sich gern der Generalisierungen und Idealisierungen, die für das Denken holistisch vorgestellter Differenzmerkmale notwendig sind. Der Bezug auf solche Identitätsholismen macht integrationspolitisches Handeln vordergründig überschaubarer, anwendbarer und leichter steuerbar.
Gleichzeitig werden aber Identifikatoren wie Kultur, Herkunft oder Religion als vom Alltag der Kämpfe um Zusammenhalt und Zugehörigkeit abgehoben wahrgenommen und büßen allmählich ihre deskriptive und explikative Relevanz ein. Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit, Kämpfe um Anerkennung oder explizite Markierungen von Differenz thematisieren zunehmend frei schwebende Fragmente holistischer Identitätskomplexe: Sprache (als Verständigungsmittel, nicht als kulturelles Narrativ), Religion (Bekleidung, Diäten) oder soziale Bedürfnisse wie Qualifizierung oder work-life balance. Auch atmosphärische Differenzmarkierungen wie Hautfarbe, Akzent, Name etc. nehmen den Platz der holistischen grand divides ein. Bestandsaufnahmen sozialer Diversität, die sie lediglich auf wenige holistische Identifikatoren reduzieren, lassen solche Entwicklungen außer Acht.
In Theorie und Praxis richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf diejenigen Sets von Differenzmerkmalen, die den phänomenalen Bereich der Multikulturalität erweitern. Niederschwellige Differenzmerkmale des Alltags, die nicht auf holistische Erzählungen und normative Begründungen zurück gehen, scheinen für die Anbahnung und Auslösung von Auseinandersetzungen um sozialen Zusammenhalt und Zugehörigkeit ebenso wichtig zu sein wie Identitätsholismen. Betrachtet man die Integrationspolitiken in den meisten Ländern Europas, so fällt auf, dass sie vor allem um die Tilgung von Ungleichheiten bemüht sind, die sich auf soziale Bedürfnisse beziehen. An allererster Stelle sind Integrationsmaßnahmen – oft rhetorisch als Quasi-Verträge zwischen Aufnahmegesellschaft und ZuwandererInnen bezeichnet – um die Förderung von Sprachkenntnissen bemüht. Hier wird Sprache als soziales Instrument der Verständigung, also als Merkmal eines sozialen Bedürfnisses, thematisiert12.
Fragmentierte, hybride und atmosphärische Identitäten
Die Berücksichtigung niederschwelliger und fragmentarischer Identitätseigenschaften als relevant für das Erkennen und die Lösung der Probleme des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit in den liberal-demokratischen Aufnahmegesellschaften des Westens zeigt sich auch am Beispiel der Politiken der Diversität. Diese entstanden in den 1980er Jahren im Anschluss an affirmative action in den USA und fanden ursprünglich Verbreitung im privatwirtschaftlichen Sektor. In der diversitätspolitischen Praxis und anschließend in verschiedenen theoretischen Disziplinen (Sozialanthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialphilosophie) gelangt eine neue sozial-diagnostische Aufmerksamkeit zum (institutionellen) Ausdruck, die Prozesse, Ereignisse, Zustände gesellschaftlicher Pluralität und Heterogenität als “Diversität” bezeichnet. Allerdings richtet sich diese institutionalisierte diagnostische Aufmerksamkeit auf andere Differenzmerkmale als diejenigen, die die instituionalisierte Multikulturalität ausmachen und die öffentlichen Debatten dominieren: Im Zentrum betrieblicher Diversitätspolitiken stehen zum Beispiel soziale Bedürfnisse wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
In der politischen Perspektive auf Diversität finden zunehmend Merkmale der Hybridität von Identifikation13 Berücksichtigung, wie diese insbesondere für Jugendkulturen charakteristisch sind und in einer juvenalisierten Gesellschaft zunehmend zum Tragen kommen. Dazu kommen Phänomene der Hybridisierung sozialer Identifikationen, die über Jugendkulturen hinausgehen und Politik und Verwaltung aufgrund andauernder Zuwanderung mit “Superdiversität”14 konfrontieren.
Die sozial-diagnostische Aufmerksamkeit hat nicht zuletzt auch die Sensibilität für atmosphärische Markierungen von Andersheit erhöht, die kohäsions- und inklusionsrelevant sind. Sie weisen aber genauso wenig wie die genannten frei schwebenden Identitätsfragmente oder Bedürfnisdifferenzen einen ganzheitlichen Umfang, narrative Kohärenz oder eine normative Unterlegung auf. Solche Merkmale der visuellen oder akustischen Auffälligkeit wie Aussprache, Name oder Hautfarbe, die alltagspraktisch den Ausschlag für Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit geben, torpedieren oft auf eine methodisch nicht zugängliche Weise die Erfüllung normativer Grundprinzipien westlicher Liberaldemokratien.
Alle diese niederschwelligen Differenzen zwischen Gruppen – soziale Bedürfnisse, freischwebende Identitätsfragmente, hybride and atmosphärische Differenzmarkierungen – rücken mehr und mehr ins Visier der sozial-diagnostischen Aufmerksamkeit auf Diversität unter der Annahme, dass auch sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt sprengen können und dass auch sie Nicht-Zugehörigkeiten definieren, welche mit liberal-demokratischen Grundprinzipien der Autonomie, Egalität und Inklusivität kollidieren.
Kenan Malik: Mistaken Identity. In: New Humanist 7/2008, auch unter http://www.eurozine.com/articles/2008-07-29-malik-en.html
Kenan Malik: Ist der Multikulturalismus ein Rassismus. In: Merkur 11/2008, 1048-1051, auch unter http://www.eurozine.com/articles/2008-11-05-malik-de.html
Ralph Grillo: Pluralism and the Politics of Difference. State, Culture, and Ethnicity in Comparative Perspective. Clarendon Press, Oxford, 1998
Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum -- Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können, Ullstein, Berlin, 2007
Seyran Ates 2008: "Die Multikulti-Haltung ist naiv". Interview mit Gerald John, Der Standard, Printausgabe, 25. April 2008
Gerd Baumann: The Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic, and Religious Identities, Routledge, New York and London, 1999
Malik 2008: 1049
ebenda: 1050
ebenda: 1049 f.
Mehr zum Verlauf der Grenze zwischen Natur und Kultur in der Überlieferung kultureller Inhalte in: Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens: Zur Evolution der Kognition. Suhrkamp, Frankfurt/M, 2006.
Radostin Kaloianov: Affirmative Action für MigrantInnen? Am Beispiel Österreich. Braumüller, Wien, 2008
Rinus Penninx, Karen Kraal, Marco Martiniello, Steven Vertovec (eds.): Citizenship in European Cities: Immigrants, Local Politics and Integration Policies. Ashgate, Aldershot, 2004
Baumann 1999
Steven Vertovec: Super-diversity and its implications. In: Ethnic and Racial Studies 29(6), S. 1024-54
Published 20 February 2009
Original in English
First published by Eurozine
© Radostin Kaloianov / Eurozine
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