Mandela, Held des Humanitären
Nelson Mandela ist einer der wenigen Helden unserer Zeit, deren Glanz nach wie vor unvergänglich bleiben. Jyoti Mistri untersucht die Gründe dafür.
Nelson Mandela wurde kürzlich in einer Werbeumfrage als Marke mit dem besten Wiedererkennungswert der Welt ausgewiesen – gefolgt von Coca-Cola, das früher den ersten Platz belegt hatte. Der berühmte Gefangene, der später zum ersten Präsidenten des demokratischen Südafrikas wurde, ist ein Markenzeichen, das mit humanitären Bemühungen wie dem Eintreten für Bildung und Ausbildung von Kindern, dem Bau von Schulen in ländlichen Gemeinden und – in jüngerer Zeit – dem Engagement für die Safe-Sex HIV/AIDS-Kampagne in Südafrika in Verbindung gebracht wird.
Es ist praktisch unmöglich, irgendeine für diesen Nationalhelden – der unbestreitbar das weltweite Symbol für Versöhnungspolitik ist – negative Presse zu finden. Der einzige Schwachpunkt Nelson Mandelas scheinen seine Wutausbrüche zu sein, die von kurzer Dauer sind und häufig auftreten, wenn er sich von Ineffizienz umringt fühlt. Mandelas charismatische Ausstrahlung, sein Gerechtigkeitssinn und seine klassische, statuenhafte Figur haben viele seiner Biografen beschäftigt. Jene, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben, geben kaum irgendwelche vertraulichen Informationen über Mandela preis, seine Angestellten und sein engster Freundeskreis sind durch Loyalität gebunden.
Wie kann man erklären, was jemanden, der 27 Jahre seines Lebens abgeschnitten vom öffentlichen Leben verbracht hat, zum Nationalhelden macht? Wie ist ein politischer Gefangener zu verstehen, der zum Präsidenten gewählt wird und bald nach seiner Amtseinführung auf sein Amt verzichtet? Wie können wir einen Menschen analysieren, der verehrt wird, weil er die besten menschlichen Eigenschaften ausstrahlt: Großmut, Mitgefühl und Rechtschaffenheit? Wie kann man die Person von den sie umrankenden Mythen trennen?
Einen Helden konstruieren
Rehana Ebrahim-Vally zeigt auf, dass eine heroische Gestalt dann zum Vorschein kommt, wenn ein Einzelner innerhalb seines gesellschaftlichen Kontexts außergewöhnliche Qualitäten an den Tag legt und sich über die “einfachen” Menschen erhebt. Sie unterscheidet zwischen dem homerischen und dem modernen Helden, um darauf hinzuweisen, wie Nelson Mandela in einer stürmischen sozialpolitischen Übergangszeit Südafrikas als heroische Gestalt auftaucht. Der homerische Held ist durch seine Verpflichtung für die eigene persönliche Vortrefflichkeit gekennzeichnet und wird von der Absicht geleitet, ein bestimmtes Ziel zu erfüllen. Das Ziel von Odysseus ist, wohlbehalten und so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren. Während der homerische Held das Privileg genießt, schließlich den Göttern gleichgestellt zu werden, ist der moderne Held dazu verpflichtet, seine persönliche Vortrefflichkeit für das Allgemeinwohl zu entfalten und wird für sehr irdische Taten unsterblich gemacht. Moderne Helden liegen selten – wenn überhaupt – im Diskurs mit Göttern und Dämonen. Aber es ist zweckmäßig, diese Vorstellung in einem der heutigen Zeit adäquaten Kontext zu analysieren. Denn Mandela ist in der Tat von seinen Landsleuten und auf internationaler Ebene enthusiastisch vergöttert worden. Herkunft, Bildung und Isolationshaft boten unschätzbare Möglichkeiten zur Mythologisierung. Mandela verkörpert unbestreitbar außergewöhnliche Qualitäten, aber erst durch die sorgfältige Auswahl und Zurschaustellung seiner spezifischen Eigenschaften wurde er zu einem Nationalhelden geformt.
Der moderne Held ist ein Mitglied der Gesellschaft, das eine Vision hat, die das Leben der Menschen zu verbessern und ihre Sache voranzutreiben verspricht. Er zeigt sich zuerst als Anführer und wird, abhängig von seinen Taten und deren Folgen, erst viel später als Held reflektiert. Darüber hinaus unterscheidet die Fähigkeit, Strategien anzubieten und taktisches Geschick zu beweisen, Führer von Helden. “Das gemeinsame, von Mandela beschworene Ziel sollte zum Leitmotiv für eine vereinigte schwarze Gesellschaft werden, die gegen das erfahrene Unrecht ankämpft.” (Ebrahim-Vally)
Mandelas heroischer Aufstieg war alles andere als kometenhaft, sondern wurde von vielen, deren Lebensweg er kreuzte und deren Mitstreiter er wurde (Walter Sisulu, Oliver Thambo und Ahmed Kathrada, um nur einige zu nennen), strategisch aufgebaut. Die Jahre im Gefängnis waren seine Erziehungsjahre, die aus einem radikalen Revolutionär einen Staatsmann machten. Diese Vorbereitung war notwendig, um Mandela zu einem unübertrefflichen Unterhändler zu machen und sicherzustellen, dass seine Führung immer die Ansichten und Ziele des ANC (African National Congress) widerspiegelte. So sehr Mandela auch zu einem Mythos gemacht wurde, er blieb immer der Parteilinie des ANC treu. Erst in letzter Zeit hat Mandela sich von der Haltung des ANC zu bestimmten Fragen wie zu den Landbesetzungen in Simbabwe oder Südafrikas Außenpolitik distanziert. Diese Distanzierung war das Ergebnis seiner anhaltenden Auseinandersetzungen innerhalb der Partei, aber, obwohl er gewissen politischen Entscheidungen nicht zustimmte, ist er immer ein ANC-Loyalist geblieben. Er kritisiert, wenn überhaupt, den ANC nur selten öffentlich, und wenn er mit ihm tatsächlich nicht übereinstimmt, greift er zur Rhetorik eines Politikers, der interne Konflikte innerhalb der Partei lösen will. Die Opposition hat diese Vorgangsweise heftig kritisiert und als undemokratisches Verhalten angegriffen. Mandela geriet auch deshalb in die Schusslinie, weil seine Überzeugungskraft innerhalb der Partei und auf Parlamentsmitglieder in Frage gestellt wurde. Obwohl Mandela im Land selbst als sozialpolitische Ikone verehrt wird, wird er von vielen jüngeren ANC-Mitgliedern als konservativer Politiker betrachtet. Das wird insbesondere in seiner Beziehung zu Thabo Mbeki deutlich.
Für die Psyche des modernen Helden ist die Verfolgung eines Ideals wesentlich und es gibt – wie beim homerischen Helden – keine Grenzen bei der Erreichung seiner Ziele. Dabei wird der Held persönliche Opfer bringen und sogar sein Leben für die Sache, an die er glaubt, riskieren müssen. Das macht ihn für die Gesellschaft, in der er lebt, umso inspirierender, und mit jedem von ihm erreichten Ziel erhöht sich sein Status.
“Der moderne Held und die gewöhnlichen Menschen seiner Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig und sein Heldenstatus hängt davon ab, ob gewöhnliche Leute seine Ideale und Taten anerkennen”, schreibt Ebrahim-Vally. Teilweise trifft das auch auf Mandela zu. Die Komplexität des Phänomens “Mandela als Held” liegt jedoch darin, dass er in vielerlei Hinsicht tatsächlich auch die mit dem homerischen Helden verbundenen Eigenschaften verkörpert. Mandelas Rätsel wird überdies dadurch bewahrt, dass er viele Jahre nicht Teil jener Gesellschaft war, deren Ideale er verkörpert. Seine Einkerkerung auf Robben Island schützte ihn vor öffentlicher Auseinandersetzung und Verleumdung. Im Februar 1990 tauchte er – eingehüllt in sorgfältig aufgebaute Legenden, die lange vor ihm das Ufer erreicht hatten – als makellose öffentliche Figur aus dem Gefängnis auf. Ein Mustergefangener, der seine Jugend geopfert hatte, weil er von dem Ziel, Südafrika vom Rassenunrecht zu befreien, angetrieben wurde. Die langen Stunden der Minenarbeit in den Kalksteinbrüchen von Robben Island bestätigten den Menschen seine physische Kraft und sein Durchhaltevermögen. Mandelas körperliche Fähigkeit, das Volk anzuführen, vergrößerte sich um seine intellektuelle Stärke und seine Vision vom Wiederaufbau des südafrikanischen Nationalstaats.
Ideologische Einflüsse
Seine Ideale mögen geblieben sein, aber abhängig von der Strategie der hegemonialen Macht während der Apartheid in Südafrika überprüfte und änderte Mandela ständig seine Vorgangsweise. Das Brillante an ihm war seine Fähigkeit, stets mit Takt einzugreifen und Urteile und Erklärungen abzugeben, welche die historischen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen einer Situation in Betracht zogen.
In den frühen Fünfzigerjahren initiierte der ANC eine Widerstandskampagne – ein friedlicher Protest mittels Petitionen und Gerichtsklagen -, die gegen die separatistischen Apartheidsgesetze auftrat. Mandela erwähnt in seiner Autobiografie den Einfluss von Mahatma K. Gandhis Satyagraha-Prinzipien der Gewaltlosigkeit und wie diese vom ANC adaptiert wurden. Gandhi hatte seine Ideen eines gewaltlosen Widerstands als junger Rechtsanwalt in Südafrika entwickelt. 1913 führte er einen Marsch von Indern von Natal nach Transvaal an, um gegen die die Inder diskriminierenden Rassentrennungsgesetze zu protestieren. 1946, nach seiner Rückkehr nach Indien, leitete er eine andere Kampagne, die sich gegen die britische Besetzung Indiens richtete. Die Taktik des ANC war während der gesamten Fünfzigerjahre sehr stark vom indischen Befreiungskampf beeinflusst. Doch die geschichtlichen Verhältnisse in Südafrika waren grundlegend anders als jene im kolonialen Indien. Während die Briten zugaben, dass sie nicht länger guten Gewissens friedliche Demonstranten angreifen konnten, antwortete die Afrikander-Regierung auf die Widerstandskampagne mit zunehmender Brutalität.
Mandela wurde oft mit Gandhi verglichen, und wenn auch beide Nationalhelden eine gemeinsame Ideologie haben, so sind sie als öffentliche Gestalten und darin, wie sie die Medien zur Erreichung ihrer politischen Ziele einsetzen, doch grundlegend verschieden. Gandhis Eintreten für Gerechtigkeit und nationale Selbstbestimmung war begrenzt und ethnisch bestimmt, er trat während seiner Jahre in Südafrika hauptsächlich für die indische Frage ein. Gandhis Einfluss auf eine geänderte Gesetzgebung, was die Rechte der Inder in Südafrika betraf, ist unbestreitbar. Aber er tat wenig, um öffentlich oder privat den größeren Kontext der von allen Schwarzen Südafrikas erfahrenen kolonialen Unterdrückung anzuerkennen. Gandhi blieb ostentativ bei der Befreiung der Inder, und dass er überhaupt nicht versuchte, Bündnisse mit dem schwarzen afrikanischen Widerstand zu schaffen, erweckte Argwohn. Es stimmt, dass Gandhi wegen seines heroischen Status als Meister der Gewaltlosigkeit nie offen von Politikern, welche die Rassentrennung befürworteten, angeklagt wurde. Aber seine politische Ideologie war zentral auf die Inder in Südafrika konzentriert. Und auch später in Indien hatten die Moslems das Gefühl, dass Gandhis Vision eines befreiten Indiens sie nicht einschloss.
Was Mandela von Gandhi trennt, ist der jeweils unterschiedliche Einsatz ihre sozialen Herkunft und der politische und ideologische Ansatz, sich selbst als Teil der Unterdrückten zu sehen. Gandhi passte sich der politischen Position der Unterdrückten an, indem er symbolisch die soziale Rolle eines Unterdrückten annahm. Obwohl Gandhi aus der höchsten Kaste Indiens, der brahmanischen, stammte, zog er es aus strategischen Gründen vor, einen untergeordneten Status einzunehmen. Aber er war als gebildete Person von hohem Kastenrang nicht der gleichen politischen Diskriminierung ausgesetzt, wie sie Menschen aus der Arbeiterklasse oder die Unberührbaren Indiens erfuhren. Gandhi setzte Gesten der Solidarität, als wäre er selbst auch einer der Unterdrückten oder Diskriminierten. Zeichenhaft wählte er ein Leben in Armut, trug einfache, selbst gefertigte Kleidung und setzte taktisch Symbole als Mittel ein, um politisch zu agieren. Von einem revisionistischen historischen Blickwinkel aus betrachtet liegt eine komplexe Differenz darin, dass Gandhi das Elend jener Menschen, die er zu vertreten behauptete, nicht verkörperte, sondern symbolisierte. Im Gegensatz dazu kommen von Mandela keinerlei offenkundige Solidaritätsgesten mit den Unterdrückten. Für Mandela ist stattdessen die Rhetorik von Emanzipation und Befreiungsermächtigung seines Volkes wesentlich. Um Aufschwung und Ermächtigung voranzutreiben, bietet Mandela seine materiellen und finanziellen Angebote auch parteiungebundenen Gruppierungen an. Gandhis Befreiungsinitiativen und seine Aktivitäten nach der Erreichung von Indiens Unabhängigkeit setzten mehr Hoffnung in die Entwicklung der Produktivkräfte als in den Bildungssektor oder die Auseinandersetzung um wirtschaftliche Gerechtigkeit. Das Spinnen von Baumwolle wurde in dieser Beziehung zur Metapher für Gandhis Politik. Mandelas humanitäre Aktionen sind hingegen Geldbeschaffung für den Bau von Schulen in ländlichen Gemeinschaften und staatliche Unterstützung für durch HIV/AIDS zu Waisen gemachte Kinder, Aktionen, die in das Programm eines nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Aufschwungs eingebettet sind.
Wie sich in seiner Autobiografie zeigt, liegt Mandelas Politik eine Entwicklung aus der Erkenntnis der eigenen Stammesidentität und -solidarität zu einem umfassenderen afrikanischen Bewusstsein zugrunde. In den einleitenden Kapiteln beschäftigt er sich mit seinem Stolz auf das Volk der Xhosa und im Besonderen auf den Stamm der Themba, dem er angehört. Bei seiner Initiationszeremonie, der rituellen Beschneidung von Jungen, ist er zum ersten Mal einem Diskurs ausgesetzt, der die Art seines Denkens über Identität und die Notwendigkeit politischer Solidarität unter unterdrückten Menschen verändern wird. Häuptling Meligqili hielt eine provozierende Rede, die die Gemeinschaft, einschließlich Mandelas, verärgerte, weil der Häuptling von seinem Stamm eine Solidarität unter allen Afrikanern, die die von den Weißen aufgezwungene Unterdrückung bekämpften, forderte. Mandela dachte über diesen ersten Moment einer politischen Erleuchtung nach: “Die Bemerkungen des Häuptlings machten mich eher böse als dass sie mich aufrüttelten und ich tat seine Worte als beleidigende Kommentare eines unwissenden Menschen ab, der nicht imstande war, den Wert der Bildung und die Vorteile, welche die Weißen unserem Land gebracht hatten, zu schätzen. Zu jener Zeit betrachtete ich die Weißen nicht als Unterdrücker, sondern als Wohltäter und hielt den Häuptling für unglaublich undankbar … aber ohne genau zu verstehen, warum, begannen seine Worte bald in mir zu arbeiten. Er hatte einen Samen gesät.” Als Mandela von seinen Studien an der Fort Hare University zu seinem Stamm zurückkehrte, hatte er seine Haltung zu ethnisch bestimmter Solidarität geändert und sah die Befreiung aller Schwarzen als dringendes politisches Problem an. Seine Zeit als niedergelassener Rechtsanwalt in Johannesburg gab ihm auch Gelegenheit zu prüfen, wie nützlich es war, sich um Bündnisse über Rassengrenzen hinweg zu bemühen. Seine Beziehungen zu Joe Slovo, Ruth First und Mitgliedern des National Indian Congress (NCI), der sich später mit dem verbotenen ANC zusammenschloss, um die UDF (United Democratic Front) zu bilden, zeigen die gewandelte Denkweise nicht nur des ANC, sondern auch der indischen Gemeinschaft, die anfangs von Gandhis separatistischerem Ansatz beeinflusst war.
Die reflektierende Art von Mandelas Bewusstseinsentwicklung und seine Bereitschaft, diese offen zu artikulieren, definiert ihn zunächst als Bürger, nicht als Revolutionär. Auf diese Weise erscheint seine Entwicklung zum Helden umso attraktiver, weil er zu jedem Zeitpunkt und je mehr seine Gemeinschaft oder die Nation im Allgemeinen ihn vergöttern, die Heldendarstellung untergräbt, um zu zeigen, dass er wirklich aus einer Haltung universellen Humanismus’ heraus handelt. Anthony Sampson schreibt in seiner Biografie:
Mandela schien sich der Macht seiner Ikone instinktiv bewusst zu sein: Er konnte einen symbolischen Ausdruck für die verworrenen Sehnsüchte der Menschen vermitteln. Aber er hütete sich vor dem Personenkult, der so viele junge afrikanische Staaten belastete; er achtete darauf, das Wort ich’ zu vermeiden. Er hob immer hervor, dass er der Diener des ANC war.
Exakt diese Haltung machte Mandela zu dem politischen Helden, den Südafrika für seine Befreiung von der Apartheid brauchte. Was aber noch wichtiger ist: Sie macht ihn zu einem unbedrohlichen Helden mit einer Crossover-Anziehungskraft, die sicherstellte, dass Weiße ebenso überzeugt von seinen Führungsqualitäten waren.
Nach dem Massaker von Sharpeville 1960, bei dem die Polizei das Feuer auf mehrere tausend unbewaffnete Demonstranten eröffnete, war es Mandela, der den ANC von einer Änderung seiner Strategie überzeugte. Mandelas Haltung verhärtete sich und er erkannte, dass gewaltloses Handeln nicht die Lösung für die physische Gewalt war, die der Staat gegen Schwarze anwandte. Die Gewalttätigkeit des Apartheidstaates erzeugte Gewalttätigkeit im Widerstand gegen ihn. In seiner Autobiografie schreibt Mandela diesbezüglich:
Ich verurteilte die Regierung für ihre Unbarmherzigkeit und Gesetzlosigkeit, ich sagte, dass die Zeit für passiven Widerstand vorbei, dass Gewaltlosigkeit eine untaugliche Strategie war und niemals imstande wäre, ein weißes Minderheitenregime zu stürzen, das unbedingt und um jeden Preis die Macht bewahren wollte. Ich sagte, Gewalt sei die einzige Waffe, um die Apartheid zu zerstören und dass wir darauf vorbereitet sein müssten, diese Waffe in naher Zukunft einzusetzen. Der ANC wollte einen Kampf der Massen führen und die Arbeiter und Bauern Südafrikas an einer Kampagne beteiligen, die so groß und durchschlagend sein sollte, dass sie den Status quo weißer Unterdrückung überwinden könnte. Doch die nationalistische Regierung machte jeden legalen Ausdruck von Dissens oder Protest unmöglich. Für mich war Gewaltlosigkeit kein moralisches Prinzip, sondern eine Strategie; es lag kein moralischer Wert darin, eine untaugliche Waffe zu verwenden. Doch meine Überlegungen zu diesem Thema hatten noch nicht Gestalt angenommen und ich hatte mich zu früh geäußert.
Man könnte argumentieren, dass Mandelas Aufruf zum bewaffneten Kampf in den Sechzigerjahren eine impulsive, vom Zorn auf die Brutalität der Apartheidregierung geschürte Entscheidung war. Doch er hat im Rückblick – durch das, was er geschrieben hat und in der politischen Strategie, die er die ganzen Verhandlungen über, die schließlich zu den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika führten, angenommen hat – die Wahl seiner Worte ständig abgewogen und eindeutig nach friedlichen Lösungen gesucht. Die Auswirkungen dieses “sich zu früh geäußert haben” scheinen ihn im Gefängnis gequält zu haben, und sein Impuls seit seiner Entlassung war es, diese Schuld zu begleichen. Offensichtlich ist Gewaltlosigkeit für Mandela jetzt ein moralisches Prinzip. In zwei hochexplosiven Situationen, 1992 und 1993, forderte Mandela von Anhängern des ANC und der südafrikanischen Bevölkerung ausdrücklich friedliche Reaktionen.
1992, als die CODESA-Verhandlungen in Gefahr waren, bat Mandela seine Wählerschaft und viele weiße Südafrikaner, die sich in dem äußerst aufgeladenen Klima nicht sicher fühlten, dem Friedensprozess, auf den die Verhandlungen hinausliefen, zu vertrauen. Als die CODESA-Verhandlungen gerade wieder auf dem Weg waren, wurden durch das Attentat auf Chris Hani, einen Führer des ANC, die Angst, dass ein Bürgerkrieg in Südafrika unvermeidbar sei, aufs Neue belebt. Die schärfste Kritik an Mandelas geänderter Strategie kam von seiner von ihm getrennt lebenden Frau Winnie Madikizela-Mandela. Im April 1991 wurde Mandela gezwungen, sich von Winnie inmitten wachsender Korruptionsskandale und ihres bevorstehenden Prozesses, der sie mit dem Tod von Stompie Moeketsi Seipei und Dr. Asvat in Verbindung brachte, zu distanzieren. Die zunehmenden Korruptionsvorwürfe, die sich über Winnie zusammenbrauten, machten den Rücktritt von ihren politischen Ämtern innerhalb des ANC notwendig, um die Glaubwürdigkeit der Organisation wiederherzustellen und Mandela von Winnies überhitzter Rhetorik zu distanzieren. Zur Zeit des Attentats auf Hani sah Winnie die Gelegenheit gekommen, ihre eigene politische Karriere wiederherzustellen. Sie hatte sich bei der ANC Youth League lieb Kind gemacht und bei einer Kundgebung in Kapstadt, die gegen das Attentat auf Hani protestierte, wurde sie im Fernsehen mit Peter Mokaba, dem Jugendführer des ANC, gezeigt, wie sie die Parole “Tötet die Buren! Tötet die Farmer!” skandierte. Das war genau jene emotionale Wut, die Mandela so verzweifelt zu bändigen versuchte. In den Worten von Martin Meredith, einem von Mandelas Biografen: “Die Tragweite dieser Ereignisse ging weit über die Gewaltfrage hinaus. Es war eine Zeit, als Mandela sich als nationaler Führer etablierte, auf der Stelle das Ausmaß der Krise erfasste und sowohl weiße Ängste als auch schwarzen Zorn zu besänftigen versuchte. Er forderte Disziplin und erhielt sie auch.”
Mandelas fortgesetzter Ansatz, Volksbelange vor Eigeninteressen zu stellen, grundiert seine heroischen Unternehmungen und untermauert sein Engagement zur Erreichung der für die Entwicklung der Nation notwendigen Ideale. Seine persönlichen Opfer setzten sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis fort, was sich am besten durch seine Ansprache an die Presse veranschaulichen lässt, als er die Trennung von seiner Frau Winnie bekannt geben musste. Während die Ausdrucksweise in dieser Rede vom 13. April auf der einen Seite die Gewissensbisse und die Traurigkeit einfängt, die Mandela empfand, als er die Intimität seiner Gefühle preisgeben musste, täuscht sie auf der anderen Seite darüber hinweg, wie unglaublich schwierig es für ihn gewesen sein muss, die Tiefe seines Schmerzes zu offenbaren. “Wir können wegen der Zwänge unseres gemeinsamen Engagements für den ANC und den Kampf für die Beendigung der Apartheid kein normales Familienleben führen. Trotz dieser Zwänge wuchsen und verstärkten sich unsere Liebe zueinander und unsere Hingabe für unsere Ehe. (…) Meine Liebe zu ihr bleibt unvermindert. Aber angesichts der Spannungen, die in den letzten Monaten wegen Differenzen bei einer ganzen Anzahl von Fragen zwischen uns entstanden sind, sind wir beide übereingekommen, dass eine Trennung für jeden von uns das Beste wäre. (…) Mein Handeln wurde nicht von den gegenwärtigen in den Medien gegen sie gemachten Behauptungen ausgelöst. (…) Ich trenne mich ohne gegenseitige Beschuldigungen von meiner Frau.”
Mandela spricht in seiner Autobiografie mit jener Wärme über seine Beziehung, die für seine Leser notwendig ist, um ein Gefühl für seine Liebe zu dieser Frau zu entwickeln, in der er während seiner langen Jahre im Gefängnis unglaubliche Kraft und Trost fand. Aber als er sich ihren unangenehmen Skandalen und der Korruption zuwenden muss, spricht er von ihr mit der Unvoreingenommenheit eines Staatsmanns und setzt seine Loyalität niemals durch die Erinnerung an ihre Beziehung aufs Spiel.
1994, als Mandela bei den ersten demokratischen Wahlen für das Präsidentenamt kandidierte, schaffte er es im Wahlkampf wieder, das Vertrauen aller Südafrikaner, unabhängig von ihrer Rasse oder ihrer politischen Überzeugung, zu gewinnen. Wieder verließ er sich auf den Diskurs eines universellen Humanismus und sein berühmtes Zitat “Niemals soll ein Mensch in so einem wunderbaren Land von einem anderen Menschen unterdrückt werden” begründete die Regenbogennation-Kampagne während seiner Amtszeit. Das vielleicht bemerkenswerteste Kennzeichen Mandelas als Präsident war aber sein Desinteresse, die Staatsmacht beizubehalten.
Bald nach seiner Amtseinführung 1996 trat er zurück und ließ seinen Vizepräsidenten Thabo Mbeki ans Ruder. Mandela war damals 78 und, obwohl er nicht wirklich gesundheitlich beeinträchtigt war, erweckten ein Augenleiden, sein zunehmender Hörverlust und seine Erschöpfung wachsende Besorgnis bei der Regierung des Landes und internationalen Führern, die das Vertrauen in seine physische Regierungsfähigkeit zu verlieren begannen. Ökonomisch kündigte sich wegen der Gerüchte über den schlechten Gesundheitszustand eine Krise an, und der Rand erfuhr eine rasche Abwertung. Und wieder war Mandelas Sorge um das Wohl des Landes größer als seine Sorge darum, seine Macht zu behalten. Obwohl Mandela zu jener Zeit zuversichtlich war, eine fünfjährige Amtszeit als Präsident ausüben zu können, gestand er seinem Vizepräsidenten die Leitung der Amtsgeschäfte zu. Er spielte seinen Einfluss auf die Regierung herunter, strich die Stärken seines Kabinetts hervor und sagte: “Viele meiner Kollegen sind mir in fast jeder Hinsicht überlegen. Ich bin mehr Dekor als tatsächlicher Aktivposten.” (Meredith)
Dieser Grad an Selbstreflexion und Ironie spricht für Mandelas akutes Funktionsbewusstsein und das angemessene Timing seines politischen Diskurses, der für seine jüngeren und ehrgeizigeren Mitstreiter nicht mehr dieselbe politische Überzeugungskraft zu haben schien. Das Kabinett war nicht mehr so sehr an nationaler Wiederversöhnung interessiert, an die mittlerweile auch die weißen Südafrikaner glaubten, sondern zunehmend von Mbekis Ruf nach Transformation der südafrikanischen Gesellschaft beeinflusst. Für Mbeki bedeutete sozialer Wandel, das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Schwarzen und Weißen zu beseitigen, das er als Ursache für die Kluft zwischen den Rassen in Südafrika betrachtet. Obwohl auch Mandela diese Unterschiede zugibt, lagen seine Prioritäten bei Bildung, Wohnsituation und Gesundheitswesen. Darum legte sein politischer Ansatz größeren Wert auf Solidarität innerhalb der schwarzen Gemeinden. Seine Herkunft prägte sein Engagement für die auf Bildung basierenden Möglichkeiten für den sozioökonomischen Aufstieg von Menschen und er hatte alle simplifizierenden Vorstellungen von wirtschaftlicher Umverteilung und deren Transformationspotenzial für verarmte Gesellschaften ad acta gelegt.
Hintergrundgeschichte
Frühe Theorien über Heroismus (Machiavelli, Thomas Carlyle) befassen sich zentral mit der Figur des Fürsten als Herrscher, dessen Geburtsrecht ihm Macht über sein Volk verleiht. Für Machiavelli waren Tugenden, die Furcht einflößten, an einem Herrscher wünschenswerter als etwa Liebe, Mitgefühl oder Barmherzigkeit. Carlyle hingegen sah die Verkörperung der Tugenden eines Herrschers als Inspiration für die Gesellschaft an. Während beide Denker in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmen, teilen sie die Sorge darüber, welches Bild eines Helden durch gesellschaftliche Imagination entsteht. Staatliche Propaganda und die Aufrechterhaltung eines Images sind für die Anziehungskraft des Helden wesentlich und wie wir in Mandelas Fall sehen, waren an der Propagierung seines Images zwei gegensätzliche Mechanismen beteiligt.
Mandela scheint seiner eigenen Darstellung nach von jung auf für ein Leben im Dienst für die Allgemeinheit aufgebaut worden zu sein. Er wurde am 18. Juli 1918 als Nelson Rolihlahla Mandela in der Transkei an der südöstlichen Küste Südafrikas geboren und war aufgrund der Stellung seines Vaters als Ratgeber des Häuptlings des Themba-Stamms privilegiert. Der unerwartete Tod seines Vaters Gadla Henry Mphakanyiswa führte zu Mandelas Adoption durch die königliche Familie. Hier wurde er zum Berater des Fürsten aufgebaut. Mandela scheint seiner eigenen und der Darstellung seiner Biografen nach zu jener Zeit keine Furcht in irgendeinem herkömmlichen Sinn erweckt zu haben, sondern wurde mit unglaublicher Ehrfurcht behandelt, wenn er während seiner Studien regelmäßig nach Hause zurückkehrte. Fort Hare war zu dieser Zeit praktisch die einzige für Schwarze zugängliche Universität. Sie wurde von Missionaren betrieben und hatte etwa 150 Studenten. Mandela erkannte sofort seine privilegierte Stellung. Aber erst während seiner Aktivistenjahre in Johannesburg wird eine tief greifende Wandlung erkennbar, als sich Mandelas öffentliche Person herauszukristallisieren beginnt. Es wurden zwei durchaus gegensätzliche Konzeptionen seiner Person verbreitet. Die eine wurde von der Apartheidregierung aufrechterhalten und löste Furcht aus. Mandela wurde diesbezüglich später total verleumdet und zur Gefahr für die Gesellschaftsordnung der Afrikander aufgebaut. Die Presse tat zu dieser Zeit wenig, um die Widerstandskampagne zu rechtfertigen (warum sollte sie auch – es lag in ihrem Interesse, das Apartheidsystem aufrechtzuerhalten), sondern zeigte stattdessen, dass es nur eine kleine Gruppe schwarzer Aktivisten war, die zu Protestkundgebungen aufrief. Außerdem stellten zu dieser Zeit die Hauptvertreter der Presse diese Gruppe (Mandela, Thambo und Sisulu) als Kerngruppe von Unruhestiftern hin, die einen größeren Teil der schwarzen Bevölkerung in einen Protest trieben, an dem dieser selbst nicht eigentlich teilnehmen wollte. Die zweite Konzeption von Mandela lief dem staatlichen Propagandaapparat zuwider. Mandela grübelt in seiner Autobiografie darüber nach, dass er aus seiner Gruppe zur zentralen öffentlichen Figur ausgewählt wurde, weil er wegen seiner statuenhaften Figur und seiner charismatischen Anziehungskraft unter den Frauen für beliebt gehalten wurde.
Das Body-Image
Sarah Nuttall betrachtet in ihrer Analyse von Mandelas Body-Image (sie bezeichnet das als “Bodiografie”, das heißt, jemandes Geschichte wird durch eine Darstellung von dessen Körper geschrieben) die Neuorientierung des Körpers des Helden zu verschiedenen Zeitpunkten seiner Geschichte. Sie weist in ihrer Analyse auf Mandelas disziplinierte und gut gepflegte Selbstpräsentation hin.
Es gibt unterschiedliche Bodiografien Mandelas. Als junger Mann wurde seine Anziehungskraft auf Frauen in seinem Image als Boxer durch seine sportlichen Fähigkeiten verstärkt. Sein Körper als “normaler” begehrender und begehrter Körper ist in seiner Beziehung und später in seiner Ehe mit Winnie, die selbst eine attraktive Frau war, begründet. Ihre Beziehung beschwor Fruchtbarkeit und die Fähigkeit, die strikte Kontrolle des schwarzen Körpers unter der Apartheid zu überschreiten. Wie viele Analysen gezeigt haben, ist der schwarze Körper unter der Apartheid ein gefolterter Körper, ein schmerzender Körper und ein Körper unter ständiger Überwachung, weil es nie erlaubt war, sich frei zu bewegen. In dieser Beziehung stellten die frühen Images von Mandelas Körper die vom Apartheidstaat verordneten Konventionen in Frage und zeigten einen gesunden Körper, der nach freier Bewegung verlangte.
Darüber hinaus schrieb Mandela seiner Bodiografie einen eigenen Intellektualismus ein. In seinen Tagen als Rechtsanwalt und Aktivist trug er häufig einen Anzug, und die vielen Kugelschreiber oder kleinen weißen Notizbücher in dessen Brusttasche stellten eine radikale Alternative zu den von der Apartheidregierung geschaffenen Images schwarzer Körper dar. Im Gefängnis aber wurde Mandelas Körper unfruchtbar gemacht und er war kein sexuelles Wesen mehr, das Schmerz oder Freude erfahren kann. Während die meisten Autobiografien dazu neigen, die intimen Gefühlsregungen der dargestellten Person zu enthüllen, wird Mandelas Geschichte zu einer ausgedehnten intellektuellen und politischen Betrachtung. Seine Geschichte ist anders als jede andere Gefängniserzählung aus Südafrika über Folter, Einzelhaft, Sexualität und Gewalt. Mandelas Geschichte enthüllt kein sozial abweichendes Verhalten, sondern erzählt stattdessen eine Geschichte von Kameradschaft unter Männern, die an dieselbe Sache glauben, nämlich die Rassenunterdrückung zu überwinden, und vermittelt darüber hinaus eine eingehende Darstellung von Routine und Regiment des Lebens im Gefängnis. Dieses Unfruchtbarmachen von Mandelas Körper und seine Biografie haben die Mythologisierung Mandelas wesentlich befördert. Ein Mensch, der kein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten mehr ist, sondern beinahe ein gottähnliches Wesen, das die Gewöhnlichkeit eines modernen Helden übersteigt.
Als alternder Mann ist Mandela jetzt der Großvater der Nation. Und trotzdem hat ihn seine Verantwortung als Vertreter des Humanitätsgedankens zum ersten Mal seit vielen Jahren nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in eine prekäre Lage gebracht. Obwohl er in seiner Zeit als Präsident und später viele Herausforderungen angenommen hat, hat er sich selbst oft in traditionellen Worten beschrieben. Ein Mann, dessen Wunsch es ist, bei seiner Familie und seinen Kindern zu sein. Als afrikanischer Mann und stoischer, alternder Patriarch der Nation ist er der am wenigsten geeignete Kandidat, um mit Sexualität in Verbindung gebracht zu werden. Trotzdem hat er die größte Herausforderung angenommen, der sich die südafrikanische Gesellschaft gegenübersieht – der wachsenden HIV/AIDS-Krise. Selbstverständlich brauchte es seine Zeit, bis Mandela sich mit der Vorstellung angefreundet hatte, Teenagern Safe-Sex zu predigen, aber wieder stellte er sich der Herausforderung. Die südafrikanische Regierung, vor allem Thabo Mbeki, war oft uneinig und säumig darin gewesen, AIDS-Medikamente für alle zur Verfügung zu stellen. Mandela hat sich von der Haltung der Regierung distanziert und stellt jetzt seinen Namen und seinen Ruf in den Dienst der HIV/AIDS-Kampagnen.
Gegenwärtiges politisches Image
Mandela hat das von den Medien geschaffene und hervorgerufene Image hervorragend für sich zu verwenden gewusst und von den Medien gebotene Gelegenheiten genutzt, um Lokalpolitik gutzuheißen oder internationale Politik in Frage zu stellen. Gary Younge behauptet in einem kürzlich erschienenen Artikel, in dem er Mandelas Politik dechiffriert, dass Mandela von den Medien und im Besonderen vom ANC ernstlich missverstanden worden sei. Younge zeigt die strittigen Punkte im öffentlichen Image Mandelas und seine tatsächliche politische Macht als Politiker von unüblichem Einfluss und Überzeugungskraft auf. Als Mandela Mbekis Haltung zu wichtigen sozioökonomischen Grundsätzen in Frage stellte, war der ANC schnell dabei, seine Kommentare als die Ansichten eines “liebenswürdigen alten Herrn, der nur wollte, dass Schwarze und Weiße miteinander auskommen” abzutun. Er wurde dafür kritisiert, dass er in seiner Amtszeit keine größere wirtschaftliche Umverteilung vollzogen hatte und in seinen Ansätzen in den Bereichen Gesundheit und Wohnen unrealistisch gewesen war.
In seiner gegenwärtigen Rolle als Elder Statesman hat er eine radikale Haltung gegen die Drohungen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, den Irak anzugreifen, eingenommen. Was einige als für Mandela untypisch betrachten, steht, wie Younge behauptet, absolut in Übereinstimmung mit Mandelas moralischer Haltung. “Dieser Mann, der als Nobelpreisträger weltweit geachtet worden ist, wendete sein gewaltloses Ethos und seine gewaltlose Praxis plötzlich auf den Bereich der Außenpolitik an. Und die Leute sagten: Nein, für Schwarze ist es in Ordnung, im Umgang mit Weißen gewaltlos zu sein – aber Weiße brauchen nicht gewaltlos sein, wenn sie es mit Braunen zu tun haben.” Diese Behauptung und die von Mandela daraus abgeleiteten Forderungen insinuieren, dass sich die USA zwar zu ihrer militärischen Vorherrschaft bekennen mögen, aber schwächere Nationen nicht unterdrücken sollen.
1999 überzeugte Mandela den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi davon, zwei angebliche Agenten des Geheimdienstes, die des Lockerbie-Bombenanschlags von 1998 angeklagt waren, auszuliefern. Er war persönlich in die Verhandlungen über den Einsatz südafrikanischer Truppen 2001 in Burundi beteiligt, um den drohenden Völkermord in Ruanda zu beenden.
All das erweckt den Anschein, dass Mandelas moralisches und ideologisches Ethos sich nicht grundlegend gewandelt hat. Er hat stattdessen seinen Wirkungskreis erweitert, um einen globalen Kontext einzuschließen, und wieder seine privilegierte Stellung als angesehener führender Regierungschef der Welt erkannt, der bestimmte politische Erklärungen abgeben kann. Und obwohl diese Erklärungen einigen durchaus radikal erscheinen mögen (weil sie den politischen Status quo herausfordern), fallen sie nicht aus dem Rahmen von Mandelas wohl durchdachter ideologischer Haltung.
John Stuart Mill geht in seinem Kommentar zu Helden und Führungsqualitäten weit über die von Homer angebotene Erläuterung und die Thesen von Machiavelli und Carlyle hinaus und schlägt vor, dass in Demokratien Helden mittels rationaler Auswahl und sich entwickelnder Führungsqualitäten entstehen sollten. In einer Demokratie sind es die Staatsbürger, die Führer wählen, von denen sie glauben, sie würden ihre Ziele am besten vertreten. Außerdem bietet Mill einen neuen Blickpunkt auf die Rolle des Helden in Bezug auf dessen Wählerschaft an und deutet auf die Fähigkeit des Helden hin, im Volk ein Glücksgefühl zu erzeugen.
Indem er diese Definition des Helden in einer Demokratie ausweitet, zeigt Mill die Fähigkeit des Helden, Bewusstsein zu wecken und an Vernunft und Kollektivwohl zu appellieren. In dieser Hinsicht war der bei den Südafrikanern liebevoll als Madiba – Vater – bekannte Mandela für das Erwecken eines neuen sozialpolitischen Bewusstseins verantwortlich. Seine Fähigkeit, sogar in seinen Kritikern starke emotionale Reaktionen auszulösen, ist vielleicht das Ergebnis seiner Fähigkeit, durch Vernunft und Geduld ein Gefühl von Optimismus hervorzurufen, wenn alle anderen ihre zu verlieren scheinen. Er definierte die vorhandene Sehnsucht nach dem Nationalen auf eine Weise neu, die es möglich machte, sich gespaltene Völker ohne Blutvergießen und Krieg versöhnt vorzustellen. Was am wichtigsten ist: Er machte keine beiläufige Bemerkung, dass Südafrikaner “vergeben und vergessen” sollten, wie er oft fälschlicherweise zitiert wurde. Aber er hob das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Versöhnung, um das soziale Wohl wiederherzustellen und betonte die Wichtigkeit des Erinnerns, damit wir uns weiterhin dafür einsetzen, das demokratischen Gesellschaften implizite Glück zu suchen.
Wenn Mandela tatsächlich die Marke mit dem größten Wiedererkennungswert der Welt ist, dann darum, weil er eine Anziehungskraft hat, die allgemein übersetzbar ist. Die Prinzipien von Vernunft, Gerechtigkeit und Fairness unter allen Menschen sprechen ein globales Bedürfnis nach einem Führer an, einem Helden, der humanistische Solidarität anbietet. In einer Zeit von Krieg, Ungewissheit und unglaublichen Veränderungen moralischer und ethischer Werte bietet Mandela die Verkörperung von etwas, das über Wirtschaftspolitik, Handelsabkommen, historische und kulturelle Spezifität hinausgeht. Das ist der Punkt, wo Mandela zum Helden wird, das Entstehen seiner Legende. Und wenn Historiker in fünfzig Jahren seine Geschichte schreiben, werden sie etwas anderes über seine Verdienste sagen, weil sich die sozialpolitischen Bedürfnisse der Welt geändert haben werden. Aber fürs Erste bietet Mandela an, den Durst nach Fairness und Mitgefühl zu stillen – was langfristig größeres Glück verspricht als eisgekühltes Cola!
Literatur:
and : – Oral Presentation “Bodiographies: Visualizing Mandela and Lumumba as Figures of the Hero” at WISER (Wits Institute of Social and Economic Research), August 2002
Gregory, James: Goodbye Bafana. Nelson Mandela My prisoner, My Friend. Headline Book Publishing, South Africa 1995
Mandela, Nelson: No Easy Walk to Freedom. Letters from Underground. Heinemann Educational Books 1965.
Mandela, Nelson: Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie. Fischer 1997.
Meredith, Martin: Nelson Mandela. Ein Leben für Friede und Freiheit. Lichtenberg 1998
Sampson, Anthony: Nelson Mandela. Die Biographie. DVA 1999
Younge, Gary: “Why Nelson Mandela is angry”. In: Mail and Guardian, September 27 – October 3 2002.
Published 18 December 2002
Original in English
Translated by
Gudrun Likar
Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine
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