Layers of dispossession
Soundings 87 (2024)
On the geography of Israeli settler colonialism; queer perspectives on the war in Ukraine; the experiences of Afghan ‘returnees’; and the familiar pattern of UK Labourism.
Das Erscheinen der Ukraine auf der politischen und kulturellen Karte Europas und der Welt wies sie nicht nur als Objekt internationaler Beziehungen aus, sondern sicherte ihr auch einen Platz in der westlichen Denkstruktur, die Massenkultur betreffend. Eine der wichtigsten kinematographischen Referenzen, die das Medienbild der Ukraine bei dem großen Anderen prägten, ist der Unfall in Tschernobyl, genauer die Explosion des vierten Reaktorblocks im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986. Sowohl dies Ereignis als auch dessen Folgen fließen in verschiedene Filme und Serien ein. Sie dienen als Identifikationspunkt der “Ukrainität”. In der Serie “Law and Order” rechtfertigt eine Immigrantin ihre Verbrechen damit, dass sie Geld in die Heimat schicke, nach Tschernobyl (!). In einer “Akte X”-Folge jagen die FBI-Agenten Mulder und Scully einen Tschernobyl-Mutanten, der in die USA im Laderaum eines Schiffes gekommen war. In größeren Produktionen, wie zum Beispiel “Godzilla”, sucht einer der Haupthelden die Umgebung des AKWs nach mutierten Würmern ab. Und in der dritten Folge von “Transformers” schickt die Regierung der USA auf Bitten eines ukrainischen Ministers Autobots nach Tschernobyl, um verdächtige Technologien der Ankömmlinge zu erforschen. Reaktorblock 4 ist unmittelbar hinter dem Wegweiser nach Tschernobyl sofort zu sehen, auf der Straße stehen Soldaten in Mänteln, über Prypjat scheint nie die Sonne und die ganze Landschaft ist von der Strahlung verbrannt. Diese Art Beliebigkeit der Darstellung vereint ethnische Stereotypen mit dokumentarischen Beweisen und das Medienbild schwankt zwischen dem Rahmen der Darstellungsart und den Grenzbereichen des Genres hin und her. Bei dem Versuch, eine mehr vorgestellte als reale Explosion samt ihrer Folgen, die von Zeit zu Zeit in Kinofilmen geschaffen wird, zu analysieren, landen wir bei einem faszinierenden Streifen aus dem Jahr 2012 – “Chernobyl Diaries”. Einerseits ist der Film ein wunderbares Beispiel dafür, wie man sich die Ukraine ohne die narzisstischen Fantasien der Ukrainer vorstellt. Andererseits bietet er die Möglichkeit, Licht in die Bewegung dieser traumatischen Erfahrung innerhalb der ukrainischen Opfergesellschaft zu bringen, die wiederum die Bildung der Visualrethorik Tschernobyls beeinflusst.
Schon der Titel des Films enthält mehrere wichtige Punkte. So nehmen die “Tagebücher” als Gattung gleichzeitig auf Literatur der fragmentarischen Aufzeichnung, die individuelle Erfahrungen eines Subjekts wiedergibt und auf die kinematographische Tradition der “Horror Diaries” Bezug. Letztere beginnt beim “Blair Witch Project” und endet mit “Paranormal Activity”. Dabei werden unter Anderem avantgardistische Aufnahmetechniken, zum Beispiel die Handkamera, verwendet, um sich als objektiver Darsteller der Realität zu positionieren und den Zuschauer auf eine “wahre” Geschichte vorzubereiten. Das Motto des Films spielt auf Fallout als Event an (experience fallout), wörtlich: “Mach Strahlung zu einem Teil deiner Erfahrung!” Dabei wird unterschlagen, dass diese “Erfahrung” ausschließlich traumatisch ist. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Filmzuschauer mit den unmittelbaren Opfern des Tschernobyl-Unfalls auseinandersetzen. Rein visuell betrachtet ist der Unfall im AKW Tschernobyl ein ziemlich defizitäres Ereignis, denn Strahlung ist unsichtbar. Dafür stellen wir dieser konkrete Bilder zur Seite, die eng mit dem Unfall verbunden sind: Foto und Videoberichte der Liquidierungsphasen, Bilder deszerstörten Reaktorblocks 4 und, wenn auch seltener, Beweise für biologische Mutationen. Mit der Zeit kamen zu diesem “Arsenal” noch Aufnahmen der halb zerstörten und evakuierten Stadt Prypjat hinzu. Eine solche Situation bietet ein breites Spektrum an Möglichkeiten für die Erschaffung eines Kanons der Kino-Ikonen.
Die “Tagebücher” erzählen die einfach gestrickte Geschichte von vier amerikanischen Touristen, die in Europa umherreisen. Später schließen sich ihnen noch zwei Weggefährten an. Der nächste Halt ihrer Tournee – die Tschernobyl-Sperrzone – wird zu ihrem letzten. Von unbekannten Kräften verfolgt, kommen sie, einer nach dem anderen, um. Es stellt sich heraus, dass sie Opfer der Bewohner geworden sind, die sich durch die Strahlung in Zombie-Kannibalen verwandelt haben. Mehr noch, alles wurde von der ukrainischen Regierung geplant. Der Film war nicht gerade ein Kassenschlager und zog eine Welle negativer Zuschauerkritiken nach sich. Am meisten bekam das Drehbuch ab. “Chernobyl Diaries” schafft es, selbst in der Kategorie FSK16-Thriller alle Klischees zu bedienen: der Guide ist tot, das Auto springt nicht an, das Mädchen mit großer Oberweite, die unbekannte Gefahr, usw. Dem Film fehlt einerseits Spannung, Überzeugungskraft und schließlich eben genau der Schrecken.
Wir sorgen uns nicht so sehr über die nicht angeführten, aber durchaus berechtigten Bemerkungen seitens der empirischen Kinokritik; eher über den ideologischen Ruck innerhalb des Genres von dem der Film zeugt. Tobe Hoopers “The Texas Chainsaw Massacre” wurde zum Kult, indem es den Kanon der Gattung “Teen-Horrorfilme” absteckte. Neben blutiger Entourage positioniert sich der Streifen recht kritisch zur Sozialstruktur des Amerikas der siebziger Jahre. “Backside of Texas” – als klassischer Topos des konservativen Amerika, der die Werte einer patriarchalen Familie propagiert – wird chronisch erkrankt dargestellt. Verbrecherisch ist, wie sich herausstellt, nicht das Prekariat, sondern die repressive Konsumgesellschaft, die die Bildung sozialer Klassen verursacht. Die “Tagebücher” gehen zur Außenpolitik über, kommen von der Analyse der Gesellschaftskrankheiten zur Suche eines äußeren Feindes und zwingen einem diese Verbindung regelrecht auf. Das “Erschreckende” wird erneut nach außen projiziert, auf Osteuropa, indem die inneren sozialen Konflikte der USA in Figuren verarbeitet werden, die eine Gefahr von außen verkörpern und meistens aus “Marginalstaaten” kommen.
Die “Tagebücher” wiederholen diese Handlungskurve der wissenschaftlich-fantastischen Filme der 1950er, bleiben auf eine äußere Atom-Bedrohung fixiert, Strahlung wird dabei nur als unausweichliche und zerstörerische Folge einer Atombombenexplosion wahrgenommen, die alles Leben auf der Erde vernichtet. Ebenso im Geiste des Kalten Krieges dreht Oren Peli seinen Film, nämlich nach einer neo-konservativen Logik, im Zeichen der Opposition von “eigen” und “fremd”.
Je weiter man vordringt, desto schlimmer wird es: Die Logik des Films ist nicht nur neo-konservativ, sondern zudem auch neo-liberal. Wenn man den Unfall im AKW Tschernobyl durch das Prisma der westlichen Medien betrachtet, nimmt die Katastrophe überwältigende Ausmaße an, die völlig unproportional zu dem von ihr angerichteten Schaden sind. So kam es zwei Jahre vor dem Tschernobyl-Unfall, am 03. Dezember 1984, in der indischen Stadt Bhopal zu einer kaum kleineren Havarie in einer Fabrik der Firma Union Carbide India Ltd., die den Tod von 18.000 Menschen zur Folge hatte. Die Angaben zur Zahl der Verletzten schwanken zwischen 150.000 und 600.000. Trotzdem wird gerade Tschernobyl oft als Schlüsselkatastrophe der Technik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen. 1 Das hat seine Gründe. Einerseits ermöglichten die Perestroika, die Demokratisierung von Information und die Modernisierung von Massenmedien und Diagnosemethoden das Durchsickern von Informationen über den Unfall nach außen. Andererseits verwandelte die unmittelbare Nachbarschaft Tschernobyls zu Westeuropa die lokale Gefahr in eine grenzüberschreitende. Damit wurde es gleichzeitig unmöglich, das Problem ebenso wie in Bhopal zu ignorieren. Mehr noch, solch neo-liberale Regime wie jenes von Thatcher oder jenes von Reagan hätten eine Chance vertan, hätten sie den Unfall im AKW Tschernobyl nicht als globale kommunistische Bedrohung dargestellt. Die bewusste Intensivierung oder “Dämonisierung” der Tschernobyl-Gefahr ermöglichte es, den Widerstand gegen die Einführung der neo-liberalen Politik auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion im Keim zu ersticken.2
Dieser Logik folgend, verwandeln die “Tagebücher” die Ukraine in einen indifferenten Raum, indem die alten paranoiden Szenarien des neo-liberalen Amerikas erneut durchgespielt werden. Obwohl die Handlung des Films in Kiew beginnt, ist kein einziger Hauptstadt-Topos zu erkennen. Dieses fiktive Kiew ähnelt äußerlich einer südwest-ukrainischen Stadtlandschaft.3
Der Grund dafür könnte simpel sein: In der modernen Weltstadt Kiew gibt es einfach nichts womit man den amerikanischen Otto-Normal-Verbraucher erschrecken könnte. Er würde sich wie zuhause fühlen. Die amerikanischen Touristen fallen nicht ukrainischen Zombies, sondern ihren eigenen nationalkonservativen Traumata zum Opfer. Die Summe aller bereits oben erwähnten ideologischen Kniffe ist ein aus einem Schutzgebiet des Kalten Krieges, das von strahlenden Rittern in Mänteln bewacht wird, ausgebrochener Bär, der knapp neben den Helden im Bild des Filmes auftaucht. Diese Verallgemeinerungspraktiken und das Desinteresse bei der Darstellung der ukrainischen Realien führen zu einer derart orientalisierten Ukraine, mit der sich der ukrainische ZuschauerInnen einfach nicht identifizieren kann, daher sein Unbehagen. Es ist lohnenswert, den Konflikt, der sich am Haupttopos – der “Sperrzone” – entspinnt, genauer unter die Lupe zu nehmen. Er bringt wiederum nationale Traumata der Ukraine ans Licht. Neben persönlicher Entrüstung provozierten die “Tagebücher” faszinierende Proteste in und außerhalb der Ukraine. Diese Zuschauermeinungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: “Ignorante Amerikaner, denen absolut nichts heilig ist, scheuen auf der Jagd nach Gewinn auch nicht davor zurück, fremdes Leid auszunutzen. Selbst Opfergedenken hat da keinen Platz.”
Nachdem er den Trailer zum Film gesehen hatte, startete Yago Alayza, ein Grafikdesigner aus Florida, zwei Petitionen auf change.org und eine auf Facebook. “Zu sehen, wie Minderjährige in Tschernobyl Urlaub machen und dort herumlaufen, als wäre es ‘Disneyland’, hat mich tief schockiert. Jeder Tschernobylbesucher sollte ebenso viel Respekt zeigen, wie er das in Auschwitz täte… Das ist doch völlige Gleichgültigkeit gegenüber der realen Tragödie.” 4 Sofort bezog man auf institutioneller Ebene Stellung gegen den Film. Robert Schuettpelz, Direktor des in Wisconsin beheimateten “Friends of Chernobyl Centers”, US sprach sich gegen den Verleih des Films aus. “Er ist gleichgültig gegenüber jenen Menschen, die ihr Leben oder ihre Wohnung verloren, also Leidtragende aus medizinischer, emotionaler oder wirtschaftlicher Sicht sind.” Der Direktor des britischen Wohltätigkeitsfonds “Chernobyl Children’s Lifeline” Denis Vystavkin nannte den Film vergiftend, er schädige uns “it’s doing our heads in”. Unterstützung bekam Oren Peli von der New Yorker Organisation “Chabad’s Children of Chernobyl”.
An der ungewöhnlichen Gegenüberstellung von “Disneyland” als Inbegriff von Konsum und Kommodifizierung in ihrer Reinform sowie “Auschwitz” als Ort aller Traumata nach dem Krieg trennen sich die scheinbar unvereinbaren Gewohnheiten des Konsums und des Opfergedenkens. In
dieser grotesken Situation stellt sich uns in erster Linie die ethische Frage: Lassen sich die Massen traumatisierende Ereignisse in Filmen darstellen und wenn ja, welche Strategien sind dafür nötig? Eine Antwort auf diese Frage ist wahrscheinlich politisch. Denn Tschernobyl gehört neben “Holodomor”, der Hungersnot der Jahre 1932/33, zu jenen Schlüsselereignissen in der Ukraine, die zu einer Überbewertung des Sowjeterbes, zum Entstehen einer neuen kollektiven Erinnerung sowie zu einer nationalen Selbstfindung geführt haben.
Deshalb konzentrieren wir uns auf die Rolle Tschernobyls bei der nationalen Selbstfindung der Ukraine. Man sollte beachten, dass hier nicht der Film selbst für die Art und Weise, in der Tschernobyl betrachtet wird, verantwortlich ist, sondern die literarisch-publizistische Tradition, die zur Hauptwiedergabeweise in Politik und Medien wurde. Das 1988 im Band “Sonnentempel” erschienene Poem “Tschornobyl-Madonna” des Dichters, Drehbuchautors und Poeten Ivan Dratsch ist ausschlaggebend bei der Kodifizierung des Dramas von Tschernobyl. Im gleichen Jahr brachte Wolodymyr Jaworiwsky, heute Abgeordneter und Literaturbeamter, seinen Roman “Maria mit Wermut zum Ende des Jahrhunderts” heraus. Ohne den gesamten Komplex “Tschernobyl-Literatur” behandeln zu wollen, lässt sich feststellen, dass sich das Pathos dieser sozialökologischen Katastrophe ins Gegenteil verkehrt. “Maria, Maria… Ja Maria, jedoch nicht die Richtige. / Jene gebar Christus / Diese – den Antichrist! […]” Diese Zeile aus dem Poem schreibt Tschernobyls transitorischen Kontext fest und macht es somit zu einem Kapitel der ewigen
Schlacht “Gut gegen Böse”. Die rhetorische Figur der “Seelen von Tschornobyl” entsteht.5
Damit wird das Geschehene dem Wirken dämonischer Kräfte und letztendlich des Antichrists zugeschrieben.6 Diese christliche Rhetorik lässt die Figur des Märtyrers auf der Bühne erscheinen. Und aufgrund der geographischen Bedingungen ist die Ukraine dazu bestimmt, die einzige Rolle in diesem religiösen Konflikt zu spielen. Obwohl, geht man nach dem Anteil verseuchten Gebietes an der Landesfläche nach Belarus am stärksten betroffen ist, hat die Ukraine die Rolle des “traumatischen Kernes Europas” auf sich genommen. Damit verändert sich auch die Bedeutung des Ereignisses. Hatte bis 1990 noch die Beschreibung des Unfalls als “planetare Katastrophe” vorgeherrscht, so nimmt mit der Zeit der Anteil des Ukrainischen am Unfall zu. War bei der Einführung des 26. Aprils als Gedenktag das offizielle Ziel ein “Lernen” in ökologischer, politischer und sozialer Hinsicht, so wandelt sich der Gedenktag immer weiter ins Negative, in eine Quelle für Opfer und Traumata der ukrainischen Nation. Waren die Opfer nach dem Unfall noch konkrete Gruppen (Kraftwerksarbeiter, Liquidatoren, Evakuierte), so dehnte sich der Opferwerdungsprozess nach der Unabhängigkeit auf die gesamte Nation aus. Zu einer solchen ideologischen Reduzierung gehören sakralisierte Opfer, festgehalten als Teil des nationalen Traumas und im Kontext der christlichen Offenbarung interpretiert.7 Der gesamte Tschernobyl betreffende Diskurs wird auf metaphysischer Ebene geführt. Das macht einerseits andere Interpretationsweisen unmöglich, andererseits wird die Verarbeitung des Dramas und somit seine Überwindung verhindert.
Kehren wir zu unserem Film zurück. Der Kontext, in dem die “Tagebücher” rezipiert werden, demonstriert recht deutlich das Unvermögen der Ukrainer, in einer anderen als der Opferrolle zu denken. Als die verseuchten Ukrainer zu aktiven Aggressoren werden, gerät das Opfermonopol ins Wanken. Tschernobyl entledigt sich aller nationalen Stigmata und das bereitet den ukrainischen ZuschauerInnen Unbehagen. Wie bereits erwähnt, entspinnt sich der Hauptkonflikt bei der Rezeption des Films um den “Konsum” eines ausschließlich für das “Andenken an eigene Opfer” genutzten Symbols durch kapitalistische Touristen. Beide Prozesse liegen eng beieinander. Während die Ukrainer sich über die kommerzielle Nutzung Tschernobyls echauffieren, verdrängen sie, dass sie selbst schon lange an diesem Konsumprozess beteiligt sind, wenn auch auf etwas anderer Ebene. Erinnern wir uns in diesem Kontext an den Film Myroslaw Slaboschpytzkys “Kernabfälle”, der auf dem 65. IFF in Locarno einen silbernen Leoparden
erhielt. Was verbindet diese beiden auf den ersten Blick unvereinbaren Tendenzen – Arthouse-Festival auf der einen und Hollywood-Mainstream auf der anderen? Die Kommerzialisierung. Die Verwandlung des Traumas “Tschernobyl” in eine Ware, ihr anschließender Verkauf und der daraus erwirtschaftete Gewinn. Die Amerikaner verwenden Tschernobyl als Sinnbild für exotische
Reiselandschaften und ziehen daraus direkten materiellen Gewinn. Und Slaboschpytzky nimmt direkt auf das Trauma Bezug, um immateriellen Gewinn zu erzielen: Seine Ehrung – verdient auf dem Markt des Arthouse-Films – ist symbolisches Kapital und die Anerkennung einer marginalen Nation durch den großen Anderen, die nur mittels der Anerkennung als “Subjekt des Traumas”
gelingt. “Das (Tschernobyl, Anm. d. A.) ist doch alles was wir haben”, erklärt Slaboschpytzky den Journalisten. “Früher war da noch Dynamo (Kiew), nun ist uns nur Tschernobyl geblieben. Und die Klitschkos.” In einem anderen Interview spricht er die kommerzialisierte Offenbarung praktisch aus: “Tschernobyl – das ist unser Markenzeichen.” Dabei ist es vollkommen
unwichtig, ob er dabei seine Position als Autor, d. h. die eines zynischen Konsumenten, oder den gesellschaftlichen Konsens darstellt, von dem er sich mittels Ironie distanziert.
Derart gequält durch die Interpretation Tschernobyls als Trauma, die jegliche soziale Begleiterscheinungen offen legt, sieht sich die Ukraine in einer Doppelrolle, um die sie niemand beneidet. Im schlimmsten Fall wird sie zur Projektionsfläche für fremde (amerikanische)
Nationaltraumata; im besten Falle wird sie als “Subjekt”, als wertvolle, auf den Opferstatus reduzierte Nation, als appropriierter Anderer anerkannt.
Bereits im Jahr 1979 kam es im AKW Pennsylvania zu einem Reaktorunfall, von dem viele gebildete Leute nicht einmal gehört haben.
Besonders die Ereignisse in Osteuropa werden als wichtiger Faktor bei der Ratifizierung des "Washingtoner Konsenses" im Jahr 1989, der die makroökonomische Politik der Welt veränderte gesehen.
Eigentlich sieht man auf der Straße nahe Juris Büro einen LKW mit der Aufschrift "Telekom Srbia", des größten Telekommunikationsunternehmens in Serbien.
Obwohl es in erster Linie nicht um die Realität der Tragödie, als vielmehr um die posttraumatische Realität geht, was nicht dasselbe ist.
Beispiele für solche Genre-Interpretationen gibt es im disziplinierenden Bildungssystem der unabhängigen Ukrainer en gros. Aus einem Schulaufsatz: "Tschornobyl ist spiritueller Natur, was auch ein ökologisches Problem ist - ein Problem der Ökologie der menschlichen Seele [...]. Tschornobyl ist eine unheilbare Wunde auf dem Körper unseres Planeten. Es ist genauso unsere ukrainische Tragödie, wie eine weltweite."
An der Aktualität einer solchen Interpretation gibt es keine Zweifel. Selbst 2008 noch, hört man von Schriftstellern: "Genozid, Sowjetrepression, Tschornobyl und Afghanistan - das sind Zeichen. Von Gott. Vielleicht hatte er gewichtige Gründe uns solche Zeichen zu senden. Wir jedoch lernten nicht daraus. Offensichtlich wird der Ukraine viel Gottesbarmherzigkeit zuteil".
Praktisch die gesamte Monumentalarchitektur Tschernobyls vereint nationale Symbole - wie den Storch -- mit christlichen -- Kreuzen und Heiligendarstellungen. Analoge Mittel wurden im Tschernobyl-Museum angewendet.
Published 24 April 2013
Original in Russian
Translated by
Ingolf Pätzold
First published by Prostory
Contributed by Prostory © Stas Menzelevskyi / Prostory / Eurozine
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