Literary perspectives: Österreich

Alles andere als ein deutscher Wurmfortsatz

Der im Jahr 2005 in Frankfurt zum ersten Mal vergebene “Deutsche Buchpreis” sollte nach dem Willen des Börsenvereins dem “besten Roman in deutscher Sprache” zufallen und damit “über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit schaffen für deutschsprachige Autoren”. Die Vorauswahl von zwanzig Titeln nannte man trotzdem englisch “Longlist”, die Liste der sechs Finalisten “Shortlist”. Das Experiment bescherte der österreichischen Literatur gleich einen Auswärtssieg: Arno Geigers Familiensaga Es geht uns gut kassierte Preis und Ruhm. Und ins Finale waren auch noch Friederike Mayröcker und Daniel Kehlmann vorgestoßen.

2006 hat mit Katharina Hacker (Die Habenichtse) eine deutsche Autorin den Buchpreis gewonnen. Auffällig war, daß die Shortlist keinen einzigen österreichischen Namen aufwies, obwohl sich in der Vorauswahl noch fünf gefunden hatten; Thomas Glavinic mit seinem fast überall hochgelobten Roman Die Arbeit der Nacht (2006) – ein Mann erwacht und stellt fest, daß er allein auf der Welt ist – war erstaunlicherweise nicht unter ihnen. Vielleicht wollte die Jury nun ein deutsches Buch küren und dabei auf Nummer Sicher gehen. Vielleicht war die nationale Zusammensetzung der Shortlist auch purer Zufall, allerdings ist die Rolle des Zufalls bei Juryentscheidungen erfahrungsgemäß eher bescheiden.

Man hätte es verstehen können, hätten die Literaturfunktionäre Deutschlands sich hier der österreichischen Erfolgswelle entgegenstemmt. Vom Essaypreis der Leipziger Buchmesse 2006 für Franz Schuh (und dessen virtuoses essayistisches Werk Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche) bis zum aus politischen Gründen dann doch nicht verliehenen Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke (der beim Begräbnis von Slobodan Milosevic eine Rede gehalten hatte) zeigte sich allenthalben austriakische Vorherrschaft. Die deutschen Reaktionen schwankten zwischen Denunziation und umstandsloser Eingemeindung. Was von der Welt allzu groß wahrgenommen wird, muß vom Feuilleton auf Gartenzwergmaß gestutzt werden: Als Elfriede Jelinek 2004 den Nobelpreis erhielt, beeilte sich Iris Radisch sie in der Zeit zur “Regionalschriftstellerin” herabzustufen. Kein großer Unterschied, so gesehen, zwischen Hamburg und Mürzzuschlag, dem Geburtsort Jelineks, titelte die steirische Ausgabe der Kronen-Zeitung doch damals “Obersteirerin gewinnt Literaturnobelpreis”.

Die höchste internationale Anerkennung für Österreichs schwierigste Schriftstellerin kam zu einem Zeitpunkt, als man in Deutschland längst genug hatte von der rotweißroten Selbstbespiegelung im Lichte einer düsteren Vergangenheit. Bei Thomas Bernhard waren offenbar regionale Gewandung und weltliterarische Geltung noch unter einen Lodenhut zu bringen. Inzwischen aber reagierten deutsche Kritiker und erst recht Kritikerinnen zunehmend gereizt auf den Export nationaler Bauchschmerzen in das mit den eigenen Kreislaufproblemen beschäftigte Nachbarland. Überhaupt hatte man keine Lust mehr, sich mit einer Literatur anzustrengen, die für ihr erotisch-spielerisches Verhältnis zur Sprache berüchtigt war. All diese Träger des Georg-Büchner-Preises, der höchsten Auszeichnung für deutschsprachige Autoren, Albert Drach und H. C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker und eben Jelinek hatten ja ihre liebe Not mit dem Simplen, auch mit dem simplen Erzählen. Daß der ewig jugendliche, also experimentierfreudige Autor Bodo Hell 2006 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt einen Preis bekam, war für manche ein anachronistischer Irrtum. Das Problem sei, befand Jana Hensel in der Zeit mit bemerkenswerter Logik, daß es die “Tage der deutschsprachigen Literatur” seien, “daß also immer auch österreichische und Schweizer Kritiker dabei sein müssen, die natürlich wiederum österreichische oder Schweizer Autoren vorschlagen”. So unterliege “die Auswahl von vorneherein immer einem literaturfernen Kriterium”.

Als Voraussetzung für eine EU-taugliche Literatur gilt für die meisten Schreibenden in Österreich ein deutschlandtaugliches Deutsch. Seit Jahr und Tag versuchen deutsche Verlagslektoren, ihre österreichischen Autoren fit für den deutschen Markt zu machen, indem sie “nationalsprachliche” Eigenheiten in ihren Texten ausmerzen. Haben sie sich an den Großen, an Bernhard und Jelinek, die Zähne ausgebissen, so knabbern sie umso eifriger an den idiomatischen Problemzonen der Kleineren herum, wobei halbherziges Durchgreifen häufig bilinguale Zwitterwesen gebiert. So mancher deutscht sich, vorauseilend gehorsam, gleich selbst ein, Mutigere blasen zum Angriff: Wolf Haas, dessen zu Kultbüchern gewordene Krimis mit dem Ex-Polizisten Brenner (zuletzt Das ewige Leben, 2003) seinerzeit nicht zuletzt wegen jener umgangssprachlichen Prägung von vielen Verlagen abgelehnt worden waren, der sie später ihren Ruhm verdanken sollten, leistet in seinem jüngsten, in Interviewform verfaßten Buch Das Wetter vor 15 Jahren (2006) sarkastisch Übersetzungsarbeit aus dem Deutschen ins Deutsche.

Autoren von Renommee, die in ihrem Werk nicht auf ihrer österreichischen Herkunft herumreiten, werden häufig als deutsche wahrgenommen – Peter Handke zum Beispiel. Daß er oder Christoph Ransmayr oder Norbert Gstrein in einem Sammelband mit dem Titel Der deutsche Roman der Gegenwart behandelt werden, ist nach wie vor selbstverständlich. Volker Weidermann subsumiert in Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute (2006) darunter natürlich auch die österreichische und folgt in der Ignoranz historischer Sonderentwicklungen hierzulande nur der üblichen üblen Praxis gelehrterer Werke. Jelinek und Bernhard firmieren da mit den bayerischen Autoren Kroetz und Achternbusch unter der Kapitelüberschrift “Wut im Süden”, als cholerischer Wurmfortsatz irgendwo im Süddeutschen.

Im Sommer 2007 hat Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung einen “furiosen Herbst” der österreichischen Literatur ausgerufen, worauf im Betrieb sogleich Hoffnungen auf einen rotweißroten “Jahrhundertherbst” und damit Assoziationen mit einem Burgunder-Jahrgang geweckt wurden. Dennoch schlägt das deutsche Feuilleton auch die erfolgreichen österreichischen Autoren wie Daniel Kehlmann, Arno Geiger und Thomas Glavinic, die sich in den letzten Jahren von Erzählboykott, literarischer Trauerarbeit und kollektiver Selbstzerfleischung mehr oder minder programmatisch verabschiedet haben, gern dem neuen deutschen Erzählwunder zu – wobei der in Wien lebende Kehlmann als Doppelstaatsbürger zu Doppelverwertung einlädt. Er hat mit dem Roman Die Vermessung der Welt (2005) das meistverkaufte Buch der letzten Zeit (bis dato 1,2 Millionen Exemplare allein der deutschen Ausgabe) veröffentlicht. Die nicht minder ambitionierten und nicht minder begabten Autorinnen wie Sabine Gruber, Olga Flor, Evelyn Grill, Eugenie Kain oder Bettina Balàka hat man dagegen noch nicht wirklich bemerkt.

Bettina Balàka zum Beispiel legte mit dem Roman Eisflüstern (2006) ein Buch vor, das man, wäre militärische Metaphorik hier nicht anrüchig, getrost einen Volltreffer nennen könnte: Eisflüstern, die Geschichte eines Kriegsheimkehrers, verknüpft Zeitgeschehen, psychologische Studie und Krimihandlung auf verblüffend souveräne Weise. Wenn man heute nach weißen Flecken im Geschichtsbild des Landes sucht, dann findet man sie nicht um 1938, sondern um 1918. Es gibt in der gegenwärtigen österreichischen Literatur wenige Texte, die sich ernsthaft mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie und dem Leben in der neuen Republik beschäftigen. Dies ist alles andere als “Frauenliteratur”, in des Wortes einschränkender Bedeutung. Männlich sind hier nicht nur die bevorzugten Erzählperspektiven, “männlich” im Sinne herkömmlicher Zuschreibungen ist auch die Autorposition. In Eisflüstern nimmt Balàka sich ein Stück österreichischer Weltgeschichte vor, ohne Zögern und Zimperlichkeit, und richtet es sich nach Bedarf zu.

Auch Anna Mitgutsch, die lange als Literaturprofessorin in den USA lebte, erweitert in ihrem halb-historischen Briefroman Zwei Leben und ein Tag den Horizont: Eine Österreicherin lernt “drüben” einen amerikanischen Literaturwissenschaftler kennen und lieben, sie heiraten und wärmen sich forthin “an der Glut eines fremden Lebens”: alles dreht sich um Herman Melville, den Schöpfer des Moby Dick, bis der kleine Sohn des Paares in Südkorea erkrankt und einen psychischen Schaden davonträgt. Mitgutsch strapaziert die Nerven des Lesers und nötigt ihm in ihrer Konsequenz zugleich Respekt ab. Alles an dieser Apotheose des Scheiterns ist schrecklich und unerbittlich.

Krankheit nicht als Schuld, sondern als Schicksal, das jeden und jede treffen kann – davon handelt auch der raffiniert gebaute und ebenfalls sprachlich beeindruckende Roman Über Nacht (2007) der in Wien lebenden Südtirolerin Sabine Gruber. Es ist die Geschichte zweier Frauen, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben; die eine lebt in Wien und bekommt nach jahrelangem Warten eine Niere gespendet, die andere lebt in Rom als Altenpflegerin, und ihr kommt ihr Gatte abhanden: Er betrügt sie – mit einem Mann.

Ein Gigolo wie der Ich-Erzähler in Lilian Faschingers neuem Roman Stadt der Verlierer (2007) lebt hingegen davon, daß er seine sexuellen Beziehungen als rein geschäftliche definiert. Kommt ihm die Liebe in die Quere, verheißt das nichts Gutes. Nicht zuletzt weil Lilian Faschinger sich längst einen Namen als Spezialistin für die literarische Vermählung von Leidenschaft und Verbrechen gemacht hat. Die Stadt der Verlierer ist natürlich Wien. Faschinger gestattet sich und ihren Lesern das Vergnügen, sich in einen kotzengroben, sexistischen Menschenfeind zu versenken und die Stadt der Walzer- und Heurigenseligkeit mit seinen Augen zu sehen. Georg Kreisler sang einst “Wie schön wäre Wien ohne Wiener”. Der Held findet das auch: “Die Flaktürme sind das Beste an Wien.” Man lernt: Wer sich selbst leid tut, dem ist alles zuzutrauen – eine gute Basis für einen Thriller über das banale Böse und die Pracht der kultivierten Devianz.

Dies ist auch die Domäne der in Deutschland lebenden Evelyn Grill: Nicht erst mit ihrem erschreckend plastischen Roman Der Sammler (2006), der Geschichte eines kunstsinnigen “Messie”, der von seinen Freunden in allerbester Absicht zur Strecke gebracht wird, hat sie sich als Meisterin scheinbar gnadenloser Menschenbeobachtung erwiesen. Ihr Krimi Schöne Künste (2007) ist vor allem eine ebenso bizarre wie bitterböse Satire auf den Kunstbetrieb.

Weniger spektakulär kommt das Böse in Olga Flors letztem Buch Talschluß (2005) daher. Vor mehr als vierzig Jahren hat die Österreicherin Marlen Haushofer mit ihrem Roman Die Wand (1963) gezeigt, wie man eine weibliche Robinsonade als Parabel der Existenz ebenso wie als Gegenentwurf zu den Werten der Wiederaufbauzeit erzählen kann. Auch Talschluß steckt den Claim in der Einschicht ab: Hier ist es eine Familie, die auf der Alm eine Auszeit vom Stadtleben nimmt, um einen Geburtstag zu feiern. Es passiert zwar keine Katastrophe, aber es bricht eine Rinderkrankheit aus und läßt die Protagonisten im Talschluß festsitzen, was bei ihnen gemischte Gefühle auslöst. “Endlich was Existenzielles”, meint einer und denkt an Jagen und Pilzesammeln. Hinter der Existenzanalyse im Gefolge einer durch die Natur verursachten Betriebsstörung steckt wiederum mehr: Ins Gewand eines psychologisch feingewirkten Familienromans hat die studierte Physikerin Flor eine radikale Kritik unserer Warenwelt gekleidet. Sie konzentriert sich hier auf den inneren Zerfall einer Familie, und das ist beklemmend genug. Der Talschluß wird zur Sackgasse, in die sich eine Gesellschaft begeben hat, die die “Seele” für ein entbehrliches Requisit verflossener Zeiten hält.

Auffällig ist wohl die Konjunktur, die Schriftstellerromane derzeit in der österreichischen Literatur haben. Im allgemeinen gelten sie als langweilig, weil ihre Helden den Mangel an äußeren Abenteuern durch ein reich ausgestattetes Seelenleben kompensieren. Am meisten gefürchtet sind wohl jene Schriftstellerromane, die von einer Schreibkrise handeln. Umso erstaunlicher, daß Margit Schreiners jüngstes Buch so unterhaltsam ist, denn Haus, Friedens, Bruch (2007) erzählt vom Schreib- und Existenzproblem einer Autorin, die als alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter in Linz lebt.

Wie kaum jemand beherrscht Schreiner die Kunst, das ganz Schwere mit dem Leichten zu verquicken, es mit einem Dreh ins Sarkastische zu schärfen und zugleich zu entschärfen. Zum Beispiel die Schreibhemmung, die einer Schriftstellerin naturgemäß an die Nieren geht. Das Versagen am Schreibtisch führt ihr unbarmherzig die Konkurrenz vor Augen, schließlich muß sie “Tag für Tag gegen dreihundertdreißigtausend Neuerscheinungen pro Jahr anschreiben”. So liest sie in den Literaturbeilagen “mit Entsetzen” von den neuen Werken der Kollegen und nimmt mit all den “Kunsthandwerksbüchern” das jüngste österreichische Erzählwunder (wie gesagt: ein männliches) aufs Korn: “Und die Jungs featuren sich noch gegenseitig! Da lobt der eine den anderen wer weiß wie über den grünen Klee, und jeder Insider weiß, daß die beiden beste Freunde sind.” Wohl ahnt sie, daß sie nicht frei von Neid ist, denn eigentlich sollte sie, nach dem Willen des Verlegers, einen Krimi schreiben, einen “sogenannten literarischen” natürlich, wie ihn jetzt alle schreiben – das kann sie aber nicht.

Margit Schreiner ist eine Autorin, deren Bücher von Autobiographischem geprägt sind, ihren größten Erfolg hatte sie aber mit der Suada eines von seiner Frau verlassenen Mannes: mit dem Roman Haus, Frauen, Sex (2001), dessen Titel in Haus, Friedens, Bruch paraphrasiert erscheint. Der Schriftsteller, resümiert die Ich-Erzählerin da, sei von Natur aus ein “wehleidiges Wesen”, doch er “wird zum Helden, wenn er schreibt. Weil dann macht er sich ran an all den Mist, den die anderen verschweigen, aus Angst, sich selbst preiszugeben.”

Von solcher Angst ist Thomas Glavinic gewiß frei – auch er hat mit Das bin doch ich (2007) einen selbstbezogenen, ja exhibitionistischen Roman geschrieben, und Schriftstellerromane im weiteren Sinn sind auch die jüngsten Werke von Michael Köhlmeier, Robert Menasse und Peter Henisch: Alle vier fanden sich heuer auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, dazu noch zwei weitere Bücher aus Österreich (von Sabine Gruber und Peter Truschner). Von den sechs Shortlist-Titeln stammten dann immerhin noch zwei aus österreichischer Feder: nämlich von Köhlmeier und Glavinic, was insofern pikant ist, als ein Hauptmotiv in Glavinics neuem Roman in der Enttäuschung darüber besteht, es damals, im Vorjahr, mit seinem vermeintlichen Hauptwerk Die Arbeit der Nacht nicht einmal auf die Longlist geschafft zu haben.

Daß Schriftsteller über die Höhen und Tiefen des Schriftstellerdaseins schreiben, ist indessen nichts Neues, höchstens daß sie es so unverhüllt autobiographisch und selbstironisch tun. Eines aber ist Das bin doch ich sicher nicht: ein Schlüsselroman des Literaturbetriebs. Man braucht nämlich keinen Schlüssel, weil die Protagonisten entweder ihre eigenen Namen tragen oder nur spaßeshalber verfremdete. Wer immer hier nicht vorkommt, darf das als Auszeichnung betrachten: Fast alle Auftretenden werden mit einer gehörigen Portion Spott bedacht. Allerdings betreibt Glavinic eine noch rücksichtlosere Demontage an der eigenen Person. Gleich das erste der 24 Kapitel beginnt mit einer buchstäblichen Selbstentblößung: Der Held namens Thomas Glavinic zeigt sich nackt unter der Dusche, wo er wie stets den Blick auf seine Genitalien vermeidet, da er Angst hat, etwaige Schwellungen könnten auf Hodenkrebs hindeuten. Er ist ein “Knecht” seiner “Idiosynkrasien”. Er spricht große Dichter-Wahrheiten gelassen aus: “Wer meine Bücher ablehnt, ist des Teufels.” Er vergleicht sich ständig mit Freund Daniel (Kehlmann), der viel mehr Bücher verkauft und ihn darüber auch noch wenig zartfühlend per SMS auf dem laufenden hält. Auf jeden Fall trinkt Thomas Glavinic zu viel, obwohl er sich eigentlich für einen “Anlaßtrinker” hält, aber Anlässe gibt es in diesem Milieu genug – ein erschreckenderes, aber auch ein witzigeres Sittenbild der Wiener Kulturszene ist kaum vorstellbar.

Amüsant ist auch Robert Menasses neuer Roman Don Juan de la Mancha (2007), dessen Umschlagbild – eine Chilischote – rasch legendär wurde. Der Titel deutet schon an, daß der Autor, der als einer der eloquentesten Essayisten des Landes gilt, mit seinem Buch über die freudlose Verwaltung einer einst in Studententagen revolutionären Sexualität hoch hinauswill: Der Wiener Society-Journalist Nathan beichtet seiner Analytikerin. Der Roman beginnt, durchaus publikumswirksam, so: “Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke.” Vor dem prüfenden Auge eines Urologen würden diese im wahrsten Sinne scharfen Praktiken in ihrem Realitätsgehalt wohl nicht bestehen.

Auch Peter Henisch ist ein Experte für die Träume und Ernüchterungen der 68er. Jüngst hat er, übrigens mit schöner Konstanz auf der Buchpreis-Longlist vertreten, nach seinem italienischen Roadmovie-Roman Die schwangere Madonna (2005) ein feines, kluges Buch über seine Großmutter geschrieben, die er einem aus den USA nach Wien zurückgekehrten Schriftsteller angedichtet hat: Eine sehr kleine Frau (2007) erzählt etwas von der Größe, die im Kleinen steckt. Henischs Roman ist in seiner differenzierten, bedächtigen Darstellung typisch für eine neue, weniger emotionale Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte: Die Großmutter, eine Jüdin, heiratete in den Dreißigern just einen rabiaten Nazi, und übte sich lange in Selbstverleugnung. Als sie hochbetagt stirbt, findet man in ihrer Tasche eine Flugkarte nach Israel.

Hohe Wellen hat das lang erwartete Opus magnum des Vorarlbergers Michael Köhlmeier beim Auslaufen aus dem Verlagshafen im Sommer 2007 geschlagen. Daß Klaus Nüchtern in der Wiener Stadtzeitung Falter Abendland als “den aufregendsten österreichischen Roman des 21. Jahrhunderts” rühmte, wurde vielfach bespöttelt, auch wurde er von der Kollegenschaft, die gerade angesichts dieses Romans über einen Mathematiker mit ihren mathematischen Kenntnissen nicht hinterm Berg halten wollte, darüber belehrt, daß in diesem Jahrhundert noch gut 92 Jahre zu absolvieren seien.

Die Hauptlast an durchlebter Geschichte hat in Abendland Carl Jacob Candoris (1906-2001) zu tragen: Die fiktive Figur, ein angesehener Universitätsprofessor, wird von ihrem Autor an die Brennpunkte des historischen Geschehens geschickt – oder, wie Köhlmeier wohl klarstellen würde, sie lockt ihn ebendort hin. Candoris bewegt sich im Göttingen der zwanziger und im Moskau wie im Amerika der dreißiger Jahre, er wirkt im Nazi-Berlin als Spion in englischen Diensten, er verfolgt als Insider den Nürnberger Prozeß. Aber auch sein Patenkind Sebastian Lukasser, der Schriftsteller, der von ihm gleichsam zum Biographieschreiben abkommandiert wird, kommt ganz schön herum: Geboren und aufgewachsen in Wien, Schulzeit in Innsbruck, Lissabon, Vorarlberg, Studium in Frankfurt, zur Zeit der Studentenbewegung, Lehrjahre in New York und North Dakota. Gerahmt wird das Ganze von Sebastians Besuch bei dem sehr alten Herrn in dessen Villa hoch über Innsbruck: Abendland ist auch der Schauplatz eines Lebensabends.

Wo immer man hingreift, bekommt man den Zipfel einer Geschichte zu fassen und mit ihr gleich einen ganzen Erzählstrang, der den nächsten nach sich zieht. Das Lesevergnügen überwiegt und hilft über gelegentliche Durststrecken (immerhin 775 Seiten!) hinweg.

Der Aufwind für eine Literatur, die unter der Flagge eines lustvollen Erzählens segelt, soll nicht vergessen machen, daß auch die Tradition des sprachbewußten, ja sprachverliebten Schreibens nach wie vor lebendig ist: im Werk Peter Handkes etwa, der mit dem poetischen Reisebericht Die Morawische Nacht (2008) die selbstkritische Bilanz einer Schreibexistenz gezogen hat. Aber auch in den Büchern einiger hochbegabter Jüngerer wie Andrea Winkler (Arme Närrchen. Selbstgespräche, 2006), Andrea Grill (Zweischritt, 2007) oder dem aus Brünn gebürtigen Michael Stavaric (Terminifera, 2007).

Köhlmeiers Landsmann Arno Geiger, der sich in den letzten Jahren als eine der wichtigsten Stimmen der österreichischen Literatur profiliert hat, kommt aus ebendieser Schule eines quasi erotischen Verhältnisses zur Sprache. Hat er in seinen frühen Büchern gezeigt, was er alles kann, so nimmt er sich in seinem großen Roman weise zurück. Es geht uns gut (2005) ist der in Österreich heimlich ersehnte Roman der Zweiten Republik und zugleich die Geschichte einer Familie. Der Titel trifft das kollektive rotweißrote Lebensgefühl, die satte Behaglichkeit der Wirtschaftswunderknaben, zugleich kommentiert er ironisch das gar nicht so tolle Befinden der hier porträtierten Familienmitglieder.

Ihren Ausgang nimmt die Geschichte von der Erbschaft eines eingefleischten Familienmuffels, dem seine Großmutter wie zum Hohn die Villa im Wiener Nobelbezirk vermacht hat. Ein Außenseiter wird mit seiner Kindheit, mit den Toten und der Nazizeit konfrontiert: Die Konstellation ist nicht neu, man denke an Thomas Bernhards Auslöschung. Neu ist, was Arno Geiger daraus macht: einen souverän schmucklosen, atmosphärisch intensiven Bilderbogen, in dem Politik und Zeitgeist unaufdringlich mit in den Blickwinkel des Privaten geraten. Aus der Masse an Zeit zwischen 1938, dem Jahr des Anschlusses, und 2001 präpariert der Erzähler, chronologisch vor- und zurückspringend, 21 Tage heraus. Das Schlaglicht, das auf sie fällt, erhellt, aus jeweils wechselnden Perspektiven, auch die Gemütslage der familiären Akteure.

Gleich zu Beginn stößt der privilegierte Taugenichts auf einen metaphorisch auszubeutenden Augiasstall: Auf dem Dachboden der Villa haben sich Tauben eingenistet, der Dreck liegt knietief. Geiger erzählt nicht vom Erinnern – er erzählt vom Vergessen. Der Erbe trägt ab, was an angehäufter Vergangenheit zum Himmel stinkt, und wirft die schriftliche Hinterlassenschaft ungelesen weg.

Was immer Geiger erzählt, ob vom Hitlerjungen in der Schlacht um Wien 1945 oder von der Familienfahrt nach Italien in den Siebzigern, ob von schwierigen Vater-Tochter-Verhältnissen quer durch die Generationen oder vom Ausrangiertwerden des Herrn Ministers durch seine Parteifreunde – es zeugt von Empathie, ist historisch stimmig und hat das passende Wiener Kolorit. Die Geschichte rankt sich eng um nationale Ikonen und wird doch nie plakativ. “Was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart”, sagt die Großmutter zu ihrem mit Alzheimer geschlagenen Mann. “Ist es dir nicht auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert?”

Mit Anna nicht vergessen hat Arno Geiger 2007 einen Erzählband vorgelegt, der ein rundes Dutzend formal ganz unterschiedlicher Geschichten versammelt: als wäre der Autor nach der Mammutarbeit des Romans hier wieder mit ungebrochener Experimentierfreude am Werk. Was Geigers Erzählungen über einsame Frauen, unglückliche Kinder und entnervte Männer verbindet, ist die Frage nach dem Glück, von dem Sigmund Freud gesagt hat, “daß es im Schöpfungsplan für den Menschen nicht vorgesehen sei”. Dort, wo sich im Leben des Menschen Defizite auftun, ist bekanntlich das ureigene Terrain der Literatur. Geiger führt vor, was in dieser oft unterschätzten Form der Erzählung, der Shortstory – auch in deutscher Sprache – möglich ist.

Die ungewöhnlichste Veröffentlichung der letzten Zeit stammt aber von Elfriede Jelinek: Sie hat ihr neuestes “Buch” im Internet publiziert, ein formales Experiment, aber auch ein Schritt der Demokratisierung von Literatur, am Verlagswesen vorbei: Neid. Privatroman verhandelt nach Lust (1989) und Gier (2000) die nächste der Sieben Todsünden – und verrät mehr von der Privatperson Jelinek als die meisten früheren Texte. “Neid” führt uns und die in Scheidung begriffene Geigenlehrerin Brigitte K. in eine fast verlassene steirische Goldgräberstadt: Politisch ist der Bezirk immer noch rot, wirtschaftlich ist er tot. Es geht um das Überleben des Menschen in der arbeitslosen Zeit, auch der Erzberg wird abgebaut, anders als früher, aber ausgedient hat er nicht, ein Schaubergwerk ist geplant. Selbst Tote versprechen Profit und: “Gestorben wird immer” – Jelinek sieht offenkundig Six Feet Under. Ein Facelifting zur Fremdenverkehrsmustergemeinde soll helfen, die Jugend im toten Winkel soll sich aber auch eines Todesmarsches im Jahr 1945 erinnern, würdig, versteht sich.

Die Autorin “E.J.” führt hier einen Dialog mit ihren Lesern, kommentiert ironisch den Schreibvorgang. Der Netzroman in Fortsetzungen, ein Glossenwerk mit topaktuellen Anspielungen, ist auch insofern privat, als Jelinek das Zitieren daraus strengstens verboten hat. Nachlesen kann freilich jeder unter: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/. Begonnen am 3.3.2007, hält Neid am 3.3.2008 beim fünften und letzten Kapitel: “Schluß folgt”.

Published 10 June 2008
Original in German
First published by Eurozine

© Daniela Strigl / Eurozine

PDF/PRINT

Read in: EN / DE / LT / HU / CS / TR / ET

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion