Legt man die Ausleihstatistiken der öffentlichen Büchereien zu Grunde, hieß die beliebteste Autorin in Estland im Jahr 2005 Nora Roberts, gefolgt von Sandra Brown und Agatha Christie. Jaan Kross (1920-2007), der große alte Mann der estnischen Literatur, belegte immerhin einen Platz am Ende der Top 20. Das Ergebnis hätte niemanden überraschen dürfen, bestätigt es doch eine Binsenweisheit, nach der sich Bestseller am besten verkaufen und mehr gelesen werden als andere Bücher. Der Index Translationum der UNESCO weist Agatha Christie als die am zweitmeisten übersetzte Schriftstellerin der Welt aus (nach der Walt Disney Company). Nora Roberts folgt an dreißigster Stelle und liegt damit einen Platz vor Karl Marx. Die Statistik zeigt jedoch auch, dass die öffentlichen Büchereien selbst zur aktuellen Situation beigetragen haben. Die jüngsten Anschaffungen von Liebesromanen und Genreliteratur übersteigen den Ankauf von so genannten “anspruchsvollen” Büchern zahlenmäßig bei weitem, egal, ob diese Werke estnischer oder ausländischer Herkunft, Klassiker oder modern sind. In Estland haben Verlage für Liebesromane ihre Produktion in erster Linie auf öffentliche Büchereien und nicht auf den Buchhandel zugeschnitten.
Die im Internet einsehbaren Kataloge zeigen, dass Stadtbüchereien im Extremfall bei eingeschränktem Platzangebot fünfzehn Bücher von Barbara Cartland und kein einziges Werk von Leo Tolstoi auf den Regalen horten, von den großen Namen der estnischen Literatur ganz zu schweigen. Während fast alle kleineren Büchereien das Klatschmagazin Kroonika im Abonnement beziehen, finden sich die Kulturzeitschriften Vikerkaar (Regenbogen) und Looming (Schöpfung) nur selten in den Regalen wieder.
Kein Wunder also, dass sich der Estnische Schriftstellerverband über die Lage empörte und auf die Diskrepanz zwischen den Statistiken und den gesetzlichen Vorschriften für öffentliche Büchereien hinwies: “Aufgabe der öffentlichen Büchereien ist es, den freien und unbeschränkten Zugang der Bevölkerung zu Information, Wissen und den philosophischen und kulturellen Werken der Menschheit zu gewährleisten und darüber hinaus lebenslanges Lernen und Weiterbildung zu fördern.” Der Verband rief nach einem zentralisierten Anschaffungsverfahren, um die Titelauswahl zugunsten der zeitgenössischen estnischen Autoren zu verschieben.
Aber die örtlichen Büchereiangestellten, für gewöhnlich hartgesottene, durchsetzungsstarke Damen, waren von dieser Kritik wenig beeindruckt. Die öffentlichen Büchereien sind ein wichtiges Zentrum lokaler sozialer Aktivitäten, argumentierten sie, und ihre Finanzierung ist zu einem gewissen Teil auch von Besucherzahlen abhängig. Bibliothekarinnen hätten die Bedürfnisse der Leserschaft nicht nur zu prägen, sondern auch zu erfüllen. Außerdem seien die egozentrischen, rätselhaften und obszönen Werke der zeitgenössischen estnischen Autoren ohnehin nicht das richtige Lockmittel für Besucher. Letzteres Argument kann die Abwesenheit von Klassikern der Weltliteratur in vielen öffentlichen Büchereien nicht erklären, trotzdem enthält es ein Körnchen Wahrheit.
Die Debatte verlief im Sande. Es gibt immer noch kein allgemein gültiges Verfahren für Neuanschaffungen, mit allen Vor- und Nachteilen. In Zusammenarbeit mit den öffentlichen Büchereien hat der Schriftstellerverband eine Reihe von Lesereisen organisiert, die sich aber nicht in den jüngsten Ausleihstatistiken niedergeschlagen haben. Falls es sich hier tatsächlich um einen Konflikt zwischen rückständigen Bibliothekarinnen, denen die Literatur egal ist, und verwöhnten Schriftstellern, denen die Leser egal sind, handelt, gibt es nur eine passende Antwort: Die Pest auf eure beiden Häuser!
Aber die Debatte verriet noch mehr. Zunächst einmal bewies sie, dass die Autorität des Estnischen Schriftstellerverbandes ungebrochen ist. Der gesamte estnische Literaturbetrieb kreist um diese dreihundert Mitglieder starke Organisation. Zugegebenermaßen sind nicht alle von ihnen Dichter, Romanautoren oder Dramatiker, denn der Verband nimmt auch Übersetzer, Kritiker, Wissenschaftler und alle anderen Männer und Frauen auf, die sich mit Literatur befassen. Der 1922 in der neugeborenen Republik Estland gegründete Verband sollte zunächst die Literatur und die Autoreninteressen vertreten; im Zuge der Sowjetisierung Estlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Estnische Schriftstellerverband in das stalinistische System der Künstlergewerkschaften eingegliedert. Während jener Zeit fungierte er als Vertreter und Puffer zwischen einzelnen Autoren und dem kommunistischen Regime, indem er die Schriftsteller auf Linie hielt und gleichzeitig mit Privilegien ausstattete.
Während der 1960er- und 1970er-Jahre bildete sich in den meisten osteuropäischen Ländern ein duales Kultursystem mit einer offiziellen und einer Untergrund-Kultur heraus, deren jeweilige Hierarchien sich oftmals ähnelten. Nicht so in Estland. Die Esten konnten sich getrennte Kulturen nicht leisten, was vielleicht schlicht und einfach an der geringen Bevölkerungsgröße lag; der Schriftstellerverband des sowjetischen Estland nahm Kommunisten und Kollaborateure ebenso auf wie Nonkonformisten und Dissidenten. In vielen postkommunistischen Staaten erlebten die Schriftstellerverbände nach der Samtenen Revolution eine Spaltung, oder sie lösten sich ganz auf. Der Estnische Schriftstellerverband hingegen hat sich erstaunlich gut gehalten – vermutlich sogar besser als die estnische Schriftstellerei selbst.
Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet erfüllten die Literatur im Speziellen und die Kultur im Allgemeinen unter dem sowjetischen Regime eine dreifache Rolle. Sie fungierten als Ersatz für Konsum, als kollektive Ausdrucksweise und als Sicherheitsventil, über das öffentlicher Missmut in kontrollierbare Bahnen gelenkt werden konnte. Im größeren historischen Kontext kann man den osteuropäischen Nationalismus als quasi-literarisches Unterfangen begreifen, in dem Autoren eine mindestens ebenso bedeutende Rolle spielten wie Politiker. Mitte der 1990er-Jahre, unter neugewonnener Unabhängigkeit und freier Marktwirtschaft, sank die Zahl der jährlich veröffentlichten Romane dramatisch, und die Literatur erlebte eine kurze Identitätskrise. Während des Kalten Krieges, stichelte einst Philip Roth, gehe im Westen alles und bedeute nichts, während im Osten, wo alles von Bedeutung sei, nichts gehe. Die jüngsten geschichtlichen Entwicklungen in Estland belegen das, und auch Jaan Kaplinskis Übergangs-Allegorie aus dem Jahr 1992, “Vom Harem ins Bordell”, bezieht einen ähnlichen Standpunkt.
Inzwischen besteht eine der Hauptaufgaben des Schriftstellerverbandes darin, das Bild von der Literatur als gesellschaftlicher Kraft von existenzieller Bedeutung aufrechtzuerhalten und das Fehlen eines echten Marktes für estnische Literatur zu kompensieren. Eine potenzielle Leserschaft von einer Million estnischen Muttersprachlern ermöglicht nicht einmal den Bestsellerautoren ein Auskommen. Ein weiterer Stützpfeiler der estnischen Literatur ist der Kulturfonds – eine 1994 (wieder-)gegründete öffentliche Stiftung, deren jährliches Literaturbudget von knapp einer Million Euro aus Steuereinnahmen auf Tabak, Alkohol und Glücksspiel finanziert wird. Mit etwa der Hälfte des Geldes werden Autorenhonorare und die Veröffentlichung von Büchern und Zeitschriften subventioniert, ein Viertel geht in Form von Stipendien an einzelne Autoren, und das letzte Viertel wird für Literaturpreise, Festivals, wissenschaftliche Forschungen, Konferenzen und andere öffentliche Veranstaltungen ausgegeben.
Diese beiden wohltätigen Organisationen haben vielleicht unabsichtlich zur aktuellen Situation beigetragen, in der sich die Literatur weit vom Leserinteresse entfernt hat und sich keine große Mühe macht, dem lesenden Publikum entgegenzukommen. Man könnte meinen, die Literatur habe – wie andere menschliche Aktivitäten auch – ihren Ursprung in den Todsünden; im estnischen Fall kann es sich dabei aber nicht um den Geiz handeln, denn in der estnischen Literaturgeschichte konnte man mit dem Schreiben nur unter stalinistischer und post-stalinistischer Herrschaft reich werden. Viel eher käme die Eitelkeit in Frage: In einem kleinen Land ist es für einen Autor einfacher, berühmt zu werden als gelesen. Wenn man ein Buch veröffentlicht hat und zudem noch jung und gutaussehend ist, wird man zwangsläufig das Interesse der Medien auf sich ziehen, wenn auch die Verkaufszahlen dadurch nicht spürbar ansteigen.
Man würde sich den natürlichen Zustand der literarischen Geschäfte folgendermaßen vorstellen: Ein Autor schreibt, und seine Werke werden von zahlreichen interessierten Lesern gekauft oder von wenigen großzügigen Mäzenen unterstützt. Im estnischen Fall handelt es sich bei den einflussreichsten Lesern um Literaturkritiker oder Schriftstellerkollegen, und wichtigster Geldgeber, wenn auch indirekt, bleibt der Staat. Trotzdem existieren die Komponenten des Literaturbetriebs relativ unabhängig voneinander. Die von Kritikern und Autoren am meisten gelobten Schriftsteller sind nicht notwendigerweise diejenigen, die in den Medien vorkommen. Die von den Medien hochgejubelten Autoren sind nicht notwendigerweise diejenigen, die sich am besten verkaufen. Viele Bestseller (mehr als 1500 verkaufte Exemplare) werden von der Kritik ignoriert. Und in andere Sprachen übersetzte Autoren spielen in der Heimat mitunter nur eine Nebenrolle.
Was ist nun mit dem Vorwurf der Bibliothekarinnen, der zeitgenössische estnische Roman sei zu selbstbezogen, esoterisch oder obszön, als dass man ihn dem Besucher der Stadtbücherei empfehlen könnte? Der Vorwurf der Obszönität lässt sich mühelos entkräften, obwohl das Thema in der Presse eine Zeit lang künstlich aufgebauscht wurde. Am Vorwurf der Selbstbezogenheit ist mehr dran; viele Autoren haben direkt oder indirekt zugegeben, dass man heutzutage nur noch authentisch schreiben könne, wenn man aus der persönlichen Erfahrung schöpfe. So erklärte Tnu nnepalu (Jahrgang 1962) in seinem Buch Harjutused (Übungen, 2002 unter dem Pseudonym Anton Nigov veröffentlicht): “In dieser Kultur, in der ich bin und die ich bin, können nur Bücher geschrieben werden, in der es außer dem Ich keine weiteren Charaktere gibt. Nichts als innere Einfühlungen, von außen beobachtet. Bücher mit Charakteren, mit all diesen Onkeln und Cousinen, Lords, Beamten, Ivan Pavlowitschen und Lady N.s gehören der Vergangenheit an, der großen Ära des sinnvollen Handelns. Man kann diese Bücher nur kopieren, mit kleinen Veränderungen. Will ich ehrlich bleiben und unzulässiges Abschreiben vermeiden, kann ich über nichts anderes sprechen als über dieses Ich.”
Glücklicherweise ist Tnu nnepalus “Ich” reich, intelligent und weitsichtig genug, um seine autobiografischen Grübeleien und Reflexionen über Kultur, Tagespolitik und Sexualität so zu gestalten, dass sie einen unwiderstehlichen, beinahe voyeuristischen Lesestoff abgeben. Im August 2006 veranstaltete das Wochenmagazin Eesti Ekspress eine Umfrage unter Literaturkritikern, um die besten Autoren und Bücher seit dem Jahr 1991 zu ermitteln. Mit fünf Romanen und mehreren Gedichtbänden, einige davon unter Pseudonym veröffentlicht, landete Tnu nnepalu auf dem ersten Platz. Obwohl seine beiden Versuche, einen traditionellen Roman mit fortschreitender Handlung und ausgearbeiteten Charakteren zu schreiben, ziemlich peinlich endeten, erfreuen sich seine enthüllenden, halb autobiografischen Texte größten Lobes, und das zu Recht. Der letzte, Harjutused, ist eine Mischform aus Memoiren, Geständnis, Tagebuch und Brief; er entstand während einer kurzen Phase in den 1990er-Jahren, die der Autor als estnischer Kulturattaché in Paris verbrachte. Auf diesen Seiten unterzieht er sämtliche seiner früheren Bemühungen und Gefühle einer schonungslosen Überprüfung. Der sehr elegische Text liefert viele kluge Einsichten in kulturübergreifende Missgunst, Snobismus und Selbstbetrug. Oft ist das Thema seines Schreibens das Schreiben selbst, das als Mittel zur Konstruktion der eigenen Identität dient.
Tnu nnepalus Zeitgenosse Peeter Sauter (Jahrgang 1962) schafft eine größere Distanz zwischen sich und den Protagonisten seiner Bücher. Trotzdem ist seine Beziehung zum traditionellen Roman ebenso unbequem wie Õnnepalus. “Ich bezeichne mich nicht gern als Schriftsteller; das ist irgendwie verstörend, beunruhigend”, erklärte er wiederholt, selbst nachdem er mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht hatte. Obwohl er sich inzwischen mit der Schriftstellerrolle abgefunden zu haben scheint, unternahm er bis heute nie den Versuch, einen Roman zu schreiben. Sein Werk besteht stattdessen aus Geschichten in der ersten Person, deren Erzähler sich verzweifelt nach einer authentischen Existenz sehnt, frei von gesellschaftlichen Konventionen und persönlichen Bindungen. “Ich will einfach nur sein. Ich will ein leerer, gelangweilter Niemand sein.” Aber nur zu sein reicht ihm nicht aus, denn selbst das kommt ihm manchmal wie eine Bürde vor, und er schreibt: “Alles wiederholt sich. Handlungen wiederholen sich, und ebenso tun es die Gedanken.” Und in einer anderen Passage: “Ich habe das Gefühl, mein Leben mir selbst zu verkaufen. Das habe ich in der Schule gelernt, und von der Literatur, die das Leben beschreibt und ihm damit irgendwie mehr Wert verleiht.” Sauters letztes Buch Vere jooks (Blutsturz, erschienen 2006) legt Zeugnis ab von seiner Entwicklung hin zu einer strafferen erzählerischen Kohärenz. Der typische Protagonist, früher ein harmloser Taugenichts, hat in jüngster Zeit eine dunkle, gewaltbereite Ader entwickelt. Seine Sehnsucht nach dem “reinen Sein” und der “authentischen Existenz” resultiert in endlosen, fast rituellen Zerstörungsakten, die oft gegen die eigene Person gerichtet sind, so als sei die Gewalt das letzte Mittel, um sich der unvermeidlichen Eintönigkeit des Lebens zu widersetzen. Sauters internationaler Ruf gründet hauptsächlich auf seinen wochenlangen Alkoholexzessen an Bord des Literaturexpress Europa 2000. Dabei sind seine literarischen Qualitäten nicht weniger bemerkenswert. Sauters Fähigkeit, Sympathie für seine unkonventionellen Figuren zu wecken und unsere bequemen Moralvorstellungen zu unterwandern, hat ihn, um Tnu nnepalu zu zitieren, zum “großen Moralisten” seiner Generation gemacht.
Õnnepalus neuer, unbekümmerter Genre-Mix, in dem sich autobiografische Reflexionen und essayistische Betrachtungen überschneiden, wurde in der estnischen Literatur eigentlich schon während der 1980er-Jahre von Jaan Kaplinski (Jahrgang 1941) vorangetrieben. Kaplinski ist der wahrscheinlich bekannteste estnische Intellektuelle und Dichter. Er war an zwei poetischen Revolutionen beteiligt: Während der ersten führte er in den 1960er-Jahren eine moderne Diktion und orientalische Bildwelten in die estnische Lyrik ein. Kaplinskis beschwörende Gesänge waren bestrebt, die Kluft zwischen dem Ich und der Welt, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu überbrücken. Aufgrund (oder vielmehr Dank) des offiziellen Misstrauens brachte er es innerhalb seiner Generation zu Kultstatus und wurde fast wie ein Rockstar verehrt. Anfang der 1980er-Jahre, zu Beginn der zweiten Revolution, sagte er sich von den schamanischen Ansprüchen seiner früheren Gedichte los und vollzog eine “anti-poetische” Wende; er verbannte literarische Stilfiguren aus seiner Sprache und konzentrierte sich darauf, kleine, alltägliche Geistesblitze aufzuzeichnen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wandte sich Kaplinski zunehmend der Prosa zu und schrieb Essays, Reiseberichte, Memoiren und “Theo-fiction” nach Art des britischen Philosophen und Science-fiction-Schriftstellers Olaf Stapledon. An seinem ersten vollständigen Roman Seesama yÕgi (Derselbe Fluss, 2007) arbeitete er fast zwölf Jahre lang. Dieser halb autobiografische Bildungsroman, dessen Handlung in den frühen 1960er-Jahren angesiedelt ist, beschreibt die Versuche von Kaplinskis jugendlichem Alter Ego, seine Unschuld zu verlieren und dabei sexuelles und mystisches Wissen zu erlangen. In einem pensionierten, bei den kommunistischen Behörden in Ungnade gefallenen Theologen findet der zwanzigjährige Protagonist einen inoffiziellen Lehrer. Nach einem Sommer voller intellektueller und erotischer Selbstbefragung überschneiden sich am Ende die sexuellen und politischen Intrigen, um in einer Art Lösung zu münden. KGB und Universitäts-Apparatschiks interessieren sich zunehmend für das Lehrer-Schüler-Verhältnis der beiden Dichter. Schließlich wächst der Schüler über seinen Mentor hinaus, der zwar der Menschheit vorwirft, kindisch zu sein, sich letztendlich aber selbst wie ein Kind benimmt. So ließe sich die Romanhandlung in groben Zügen zusammenfassen; realistische Beschreibungen wechseln sich ab mit mystischen Einsichten, psychologischen Zerreißproben und kulturellen Überlegungen, mit punktgenauen Schilderungen des gesellschaftlichen Klimas zu jener Zeit, mit großen Gefühlen und subtiler Ironie. Diese “in Ruhe erinnerten Gefühle” und selbstironischen Betrachtungen des eigenen, früheren Ichs, die in einem ungekünstelten, schlagfertigen und gelegentlich spöttischen Ton daherkommen, verhalfen dem Roman zu großem Erfolg.
Während Kaplinskis Roman von entspannter, spätherbstlicher Natur ist, hat Ene Mihkelson (Jahrgang 1944) mit Katkuhaud (Pestgrab, 2007) ein zutiefst verstörendes, düsteres Buch vorgelegt. Im Gegensatz zum flüssigen Stil von Kaplinski, Õnnepalu und Sauter schreibt Mihkelson ihre Romane in geradezu schwerfälliger, verschlossener Sprache. Das scheint angesichts der von ihr gewählten Themen aber durchaus angemessen. Wie alle zuvor genannten Autoren schöpft auch Ene Mihkelson vor allem aus ihrer persönlichen Erfahrung, die alle Zutaten zur großen Tragödie in sich trägt. Ihr vorletzter Roman Ahasveeruse uni (Ahasveros’ Schlaf, 2001) landete bei der Eesti Ekspress-Umfrage zum “besten Buch seit 1991” auf Platz eins.
Die schwer zu fassende, problembelastete Erzählerin von Katkuhaud wird von einer Tante aufgezogen, nachdem ihre Eltern im Jahr 1949 untertauchen mussten, um der Deportation als “Kulaks” nach Sibirien zu entgehen – ein Schicksal, das unter stalinistischer Herrschaft über 50.000 Esten ereilte. 1953 wird der Vater von der Stalin’schen Geheimpolizei NKWD ermordet, zwei Jahre später kehrt die Mutter in die Legalität zurück, mit anderen Worten: Sie verlässt ihr Versteck. Die Erzählerin versucht, die genauen Todesumstände ihres Vaters aufzudecken und zu verstehen, welche Rolle seine Mitstreiter von der Widerstandsbewegung der “Waldbrüder” (im Sowjet-Jargon “Banditen” genannt), seine Frau und deren Schwester damals spielten. Wer verriet wen? Waren die Waldbrüder am Ende vom NKWD unterwandert und nichts weiter als die Bauernopfer in einem größeren Geheimdienstspiel, an dem selbst der britische MI6 beteiligt war?
Nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit wurde das Martyrium der Waldbrüder von offizieller Seite als einzigartiges Beispiel für Heldentum im Widerstandskampf dargestellt. Mihkelsons Romane erzählen eine viel kompliziertere Geschichte. Der Grat zwischen Kollaboration und Widerstand, zwischen Widerstand und Terrorismus war in manchen Fällen äußerst schmal. Das “Pestgrab”, ein Grab für die Opfer der Pest, dessen Öffnung eine neue Epidemie auslösen kann, steht als Metapher für die vergrabenen Erinnerungen an die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der Roman ist als Reihe von Begegnungen zwischen der Erzählerin und ihrer Tante angelegt, die ihre Rolle als NKWD-Spitzel beichten will, sich aber letztlich nicht dazu überwinden kann. Mihkelsons Buch vermeidet alle billigen Klischees der Traumabewältigung, bei denen feierliches Gedenken stets die Erlösung bringt. Es zeigt unmissverständlich auf, dass die Wahrheit in manchen Fällen nichts Befreiendes hat – natürlich ebenso wenig wie die Verleugnung. Mihkelsons persönlich erlebte Geschichte berührt einen wesentlichen und empfindlichen Punkt des kollektiven Bewusstseins, in dem Erinnerung und Gedenken schleichend jenen Platz eingenommen haben, der früher den Utopien und Zukunftsplänen zustand.
Es gibt jedoch auch Autoren, die nicht ihre Autobiografie oder persönlich erlebte Vorfälle anzapfen, um einen Romanstoff zu finden. Immer noch werden “Bücher mit Charakteren, mit all diesen Onkeln und Cousinen” geschrieben, mehr oder weniger erfolgreich. Die aufsehenerregendsten davon befassen sich aber nicht mit dem heutigen Estland; vielmehr haben wir es mit prätentiösem Magischem Realismus und New-Age-Parabeln zu tun, die oft an fiktiven oder mythologischen Orten spielen und Traum und Realität vermischen. Das Endergebnis besteht oft aus einfältigen Ideen, verpackt in einen geschwätzigen, klischeebeladenen Stil, der nach Kürzungen nur so schreit. Liest man einige dieser oftmals von der Kritik gelobten Neuerscheinungen, kommt einem unwiderruflich Nabokovs Beschwerde in den Sinn, das Schlimmste sei, “dass man den Leuten nur so schwer klarmachen kann, warum ein bestimmtes Buch, das von edlen Empfindungen und Mitgefühl trieft und das den Leser mit einem Thema ‘fernab den misstönenden Tagesereignissen’ fesselt, weitaus schlimmer ist als jene Literatur, von der jedermann zugibt, sie sei Schund.”
Es ist deswegen umso erfreulicher, einen realistischen Roman zu finden, der weder von mystischen Schwelgereien noch von Gefühlsduselei gekennzeichnet ist. Mats Traat (Jahrgang 1936) ist zweifelsohne der versierteste Autor der realistischen Schule. Sein jüngstes Werk Naised ja pojad (Frauen und Söhne, 2006) hat den Jahrespreis der Kulturstiftung gewonnen. Es stellt die Fortsetzung eines zwölfbändigen roman-fleuve dar, einer Saga über eine südestnische Bauernfamilie, die die rapide Modernisierung der estnischen Gesellschaft und die Entwicklung der Nation während der vergangenen zwei Jahrhunderte behandelt. Der letzte Teil der Saga führt uns in die 1930er-Jahre, in die Zeit der Wirtschaftskrise und des Erstarkens einer quasi-faschistischen Bewegung namens “Veteranen des Unabhängigkeitskrieges”. Mats Traat hat seine Hausaufgaben gemacht, und überzeugend schildert er die Details der Beziehung zwischen den einzelnen Schichten der überwiegend ländlich geprägten Gesellschaft. Auf gewisse Art liefert Traat mit seinen Romanen einen Ersatz für jene sozialwissenschaftliche Geschichtsschreibung, die unsere Historiker bis heute nicht vorgelegt haben. Seine gesellschaftlichen Querschnitte überliefern auf anschauliche Weise, wie sich in kürzester Zeit ein ganzes Spektrum an modernen Typen herausbildete, die früher in der ländlichen Gesellschaft unbekannt waren: Femme fatale, Geschäftsmann, politischer Manipulator, Parvenü, Sozialist, Bohemien und so weiter. Im Gegensatz zum traditionellen estnischen Roman, der die protestantische Arbeitsethik feiert, entwickelt Mats Traat eine düstere, subversive Vision. Heute, im geschichtlichen Rückblick, können wir vermutlich besser erkennen, wie illusorisch und gleichzeitig heldenhaft die Versuche der estnischen Bauern waren, die auf ihren Höfen ein eigenes Universum erschaffen wollten, um darin zu herrschen wie Gott.
Der heute mit Abstand populärste estnische Schriftsteller Andrus Kivirähk (Jahrgang 1970) geht in seinen Theaterstücken und Kurzgeschichten dem Zusammenhang zwischen jugendlichem Leichtsinn, künstlerischer Schaffenskraft und nationaler Mythenbildung nach. Seine immense Beliebtheit resultiert aus seiner speziellen Mischung von burleskem, absurdem, respektlosem und trockenem Humor. Ob dieser im Wesentlichen estnische Humor die Übersetzung in eine andere Sprache überstehen würde, ist schwer zu sagen. Für seinen vorletzten Roman Rehepapp ehk November (Der Riegenkerl, oder November, 2002) bediente sich Kivirähk bei estnischen Volkssagen und beschrieb die Mischung aus Zynismus, Bauernschläue und Naivität, die für ein Land aus Leibeigenen so charakteristisch ist. Obwohl Kivirähk auf real existierende Orte anspielt und sehr auf das Estnische fixiert ist, wurde der Roman ins Norwegische, Ungarische und Finnische übersetzt. Einen Namen machte Kivirähk sich mit dem Buch Ivan Orava mälestused ehk minevik kui helesinised mäed (Die Memoiren des Ivan Orav, oder die Vergangenheit als himmelblaue Berge, 1995), einer urkomischen Parodie auf die estnische Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert, die sich über verschiedene nationalistische Mythen gleichermaßen lustig macht. Sein letztes Buch Mees, kes teadis ussisÕnu (Ein Mann, der die Schlangenworte kannte, 2007) ist eine parabolische Fantasy-Erzählung über den schmerzlichen Tod einer Kultur, über die Auslöschung eines Lebensstils – ein alles andere als komisches Thema. Der Erzähler ist der letzte Vertreter eines Stammes von ursprünglichen Waldmenschen, der von den “technologisch überlegenen” Bauern ins Abseits gedrängt wurde. Ich setze “technologisch überlegen” in Anführungszeichen, um die Aufmerksamkeit auf den mutmaßlichen Kern dieses seltsamen Romans zu lenken – Fortschritt und Rückschritt, Erneuerung und Konservativismus werden als völlig relativ und austauschbar entlarvt. Von Bedeutung ist nicht der technologische Fortschritt an sich, sondern die mit ihm einhergehenden kulturellen Modeerscheinungen, die ihm überhaupt erst Prestige verleihen. Die Waldmenschen, deren Technologie aus einer magischen Schlangensprache besteht, mithilfe derer sie ihr Überleben sichern und die Natur beherrschen, werden nicht von Pflügen und Schwertern besiegt, sondern von den Ideen, die diese repräsentieren. Aber auch das scheint kein Grund für großes Bedauern zu sein, wird das Leben der Waldmenschen, wenn nicht als kurz und ärmlich, dann immerhin als scheußlich und brutal dargestellt. Mit seinem Buch scheint Kivirähk seinen Beitrag zur Diskussion um die demografische Zukunft Estlands geliefert zu haben, das bei der momentanen Geburtenrate seine Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Literatur nicht mehr lange wird erhalten können. Aber wenn Kivirähk seine Stimme erhebt, klingt sie so orakelhaft, vieldeutig, relativistisch und fast nihilistisch, dass man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, welche Botschaft sie übermittelt – falls es überhaupt eine Botschaft gibt.
Ich weiß nicht, ob man von Romanen erwarten kann, dass sie ein Gesellschaftspanorama bieten oder wenigstens eine vage Vorstellung davon, wie es ist, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu leben. Schriftsteller verfolgen manchmal andere, nicht minder berechtigte Ziele. Aber ein zukünftiger Historiker, der sich der heutigen estnischen Literatur mit einer solchen Erwartungshaltung nähert, wird enttäuscht werden. Die meisten estnischen Romane von heute befassen sich mit der Vergangenheit oder mit einer imaginären Zukunft; andere, die in der Gegenwart angesiedelt sind, konzentrieren sich auf das persönliche Erleben. Die großen Bilder zeigen nicht die Gegenwart, und die Bilder der Gegenwart sind nicht groß. Falls man diese Bücher aber nicht als historische Dokumente liest, sondern als archäologische Artefakte, die ungewollt von der Epoche ihrer Entstehung Zeugnis ablegen, wird man einen ziemlich guten Eindruck von den Hoffnungen und Ängsten, Sorgen und Zwängen im postkommunistischen Estland bekommen.
Bislang hat das postkommunistische Estland den großen estnischen Roman noch nicht hervorgebracht, und vielleicht wird es das auch nie. Aber wenn wir Tnu nnepalus gnadenlose Dekonstruktion der modernen Identität betrachten; Jaan Kaplinskis subtiles Oszillieren zwischen himmlischer und fleischlicher Liebe, zwischen privaten und politischen Ängsten; Peeter Sauters existentialistische Sehnsucht nach dem authentischen Sein und die unmotivierte Gewalt, mit der sie auf jede bürgerliche Gemütlichkeit reagiert; Ene Mihkelsons Shakespeare’sche Bündelungen von Verrat und Rache, Erinnerung und Vergessen; Andrus Kivirähks wehmütige Relativierung des geschichtlichen Fortschritts und Mats Traats Porträt vom Konflikt zwischen ländlicher Tradition und modernem Lebensstil – dann haben wir vermutlich ein ziemlich treffendes Bild vom Zustand des Homo Estonicus vor Augen.
Published 20 May 2008
Original in English
Translated by
Eva Bonné
First published by Wespennest 151 (2008) (German version)
Contributed by Wespennest © Märt Väljataga / Wespennest / Eurozine
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