The visions of an apocalypse peddled by nihilistic humanists and misanthropic transhumanists confuse the destruction of humankind with salvation.
In der absolutistischen Epoche, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dominierte die aufklärerische Theorie, von den Merkantilisten, aber auch von Physiokraten wie dem Marquis de Mirabeau vertreten, der Bevölkerungsreichtum einer Nation sei Indikator für deren Macht, Geltung, Wohlstand. Merkantilistische Politik sorgt wohl dafür, dass jener Reichtum nicht abnimmt, aber Bevölkerung ist damit noch kein politisches Problem.
Auf der Basis der entstehenden Bevölkerungsstatistik entfachte der anglikanische Geistliche Thomas Robert Malthus Ende des 18. Jahrhunderts mit seinem provokanten Essay on the Principle of Population einen Sturm bevölkerungspolitischer Debatten und eröffnete damit das biopolitische Diskursfeld. Das gelang ihm nicht wegen theoretischer Brillanz, sondern aufgrund seiner ebenso groben wie herausfordernden Thesen, “dass die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen”; dass “die von den Armen erduldete Not”, “Seuchen und Krieg” nur scheinbar Übel sind, in Wahrheit ein Gut bilden, das das tiefere Übel, die “übermächtige Gewalt der Bevölkerungsvermehrung” kompensiert, ihm “als ein stetiges Hemmnis entgegenwirken muss”; dass die englischen Armengesetze fatal seien, weil die Überflüssigen, staatlich unterstützt, noch “zur Vermehrung ermutigt”, wohingegen es “besser” sei, wenn sie “aus Furcht vor abhängiger Armut an der Vermehrung gehindert” würden.
Menschliche Fortpflanzung gedeiht dagegen, wie Adam Smith bemerkte, im Zeichen von Elend und Armut. Die verzweifelte Vermehrung der Subproletarier erinnerte Karl Marx im Kapital “an die massenhafte Reproduktion individuell schwacher und gehetzter Tierarten”. Die Bedeutung von Malthus’ radikaler Intervention lag indes darin, dass er das Diskursfeld des Biopolitischen für neue, diesem eigentümliche Fragestellungen eröffnete: Ist Überbevölkerung ein Übel oder ein Gut? Woran misst sie sich, an den Naturressourcen der Nahrungsmittel, an der Produktivität der Agrarindustrie, an den wechselnden Bedürfnissen der Kapitalverwertung? Was beeinflusst die Fortpflanzungsrate, was die Säuglingssterblichkeit? Wie wirkt staatlich organisierte Wohltätigkeit auf die Lebensbedingungen der Armen? Wie bestimmen Klassenlage, Arbeits- und Wohnverhältnisse, Umwelteinflüsse die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten? Zugleich forderte Malthus vergleichende wissenschaftliche Untersuchungen zur Lebensweise, Kindersterblichkeit, zum Sexualverhalten aller Gesellschaftsklassen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts, in Deutschland beschleunigt nach der Reichsgründung 1871, entsteht der eigentliche biopolitische Diskurs: hygienische Bewegungen, staatliche Gesundheitspolitik auf der Basis von Bevölkerungs- und Gesundheitswissenschaften, die Gesundheit nach dem Modell einer kollektiven Normalität des “Volkskörpers” auffassen.1 Rudolf Virchow entwirft eine “soziale Medizin”, Max von Pettenkofer entwickelt mit der “experimentellen Hygiene” die Basis der Gesundheitswissenschaften: Sie untersucht physische Umwelteinflüsse sowie Ernährung, Wohn- und sanitäre Verhältnisse im Blick auf die Infektionsanfälligkeit der Menschen, forciert Stadtsanierungen, um gegen drohende Epidemien (Cholera, Tuberkulose) zu intervenieren. Alfred Grotjahn bringt 1904 die “Sozialhygiene” auf den Weg, die sich besonders den Verbindungen von Krankheit und sozialer Lage widmet, Projekte einer massenpädagogischen Steuerung menschlichen Verhaltens entwirft, um die Gesundheit des Gattungskörpers zu verbessern. Zur selben Zeit gründet man staatliche Institute zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, ruft Reichsgesundheitswochen aus, ein Gründungsboom von Schwangerenberatungs- und Säuglingsfürsorgestellen setzt ein.
Inmitten der Scharniere dieses neuen biopolitischen Machtgetriebes taucht nun ein staatstragender “wissenschaftlicher” Rassismus auf. Kurz nachdem sein Aufsatz Rassentüchtigkeit und Socialismus erschien, prägte der Mediziner Alfred Ploetz 1895 den Begriff “Rassenhygiene”, der, keineswegs eine Ausgeburt der NS-Ideologie, als interdisziplinäres Paradigma in den institutionalisierten Diskursen des deutschen Kaiserreichs Fuß fasste. Gesteuert werden sollten nun nicht nur die Bewegungen innerhalb des im künstlichen Ausschnitt des nationalen Rahmens erreichbaren Gattungskörpers, sondern auch die Bewegungen des “Erbguts”. Es scheint daher, als liefe die Bio-Macht aus sich selbst heraus auf einen modernen Rassismus hinaus, als präge dieser irgendwie zwangsläufig die biopolitischen Machtstrategien. Doch dieser Schein trügt.
Das souveräne Machtprinzip ist stets patriarchalisch, leitet sich her aus “der auf väterlicher Gewalt beruhenden Familie”, wie Carl Schmitt in der Politischen Theologie betont. Es geht darauf aus, klare Grenzen und mithin feste Identitäten zu setzen – zwischen Herr und Knecht, zwischen Mann und Frau, Erlaubtem und Verbotenem, zwischen Freund und Feind und nicht zuletzt: zwischen Leben und Tod. Kern der traditionellen Souveränität ist die Gewalt über Leben und Tod, der Machtzugriff “auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung”, so Schmitt im Begriff des Politischen. Im Zuge der Modernisierung entstehen biopolitische Machttechnologien, die sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in den entwickelten Gesellschaften des Westens durchsetzen, wo sich, wie im modernen Verfassungsstaat die Regel, Souveränität verflüchtigt.2
Die Bio-Macht ist bestrebt, menschliche Souveränität zu beseitigen, auf deren Grab sie die ideologische Schimäre Volkssouveränität pflanzt, und sie läuft im Zusammenspiel mit der Disziplinarmacht auf eine Regulierungsmacht hinaus, die sich auf den gesellschaftlichen Gattungskörper richtet, sich ihn als zentrales Interventions- und Legitimationsobjekt vornimmt. “Sterben machen und leben lassen” war Michel Foucaults Formel in seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft: das Grundprinzip der patriarchalischen Souveränitätsmacht. “Leben machen und sterben lassen” ist das Grundprinzip der neuen Bio-Macht. Obwohl in ihrem Kraftfeld mütterliche Phänomene auftauchen, bedeutet sie kein Matriarchat – das biopolitische Machtprinzip schließt feste, hierarchische, persönliche Herrschaftsverhältnisse gerade aus, verwischt die Grenzen zwischen Herr und Knecht, Mann und Frau, zwischen den Kulturen und Ethnien.
Im Grundmuster der patriarchalen Souveränität, die Sterben “macht” und Leben “lässt”, stehen der Typus des Henkers und des Soldaten, der “ministres de la mort” (de Maistre), an zentraler Stelle. Durch staatlich sanktionierte Blutopfer, durch politische Rituale öffentlicher Hinrichtungen und entfesselter Kriegsgewalt repräsentieren sie die Ordnung der souveränen Macht, wobei sie deren unordentliche, heterogene Entstehung durchscheinen lassen. Mögen solch zeremonielle Entfesselungen von Gewalt für die Machthaber und Untertanen nur das heilige Gesetz, die Gerechtigkeit des Souveräns ausdrücken, so stellen sie doch an sich den – thanatophilen – Kern der patriarchalen Macht dar. Auf der anderen Seite “lässt” diese aber auch die Möglichkeit eines souveränen Lebens zu: die unerhörte Freiheit kriegerischer Aristokraten vom Schlage Alexanders des Großen oder Cesare Borgias, die politische und militärische Vernunft mit zügelloser dionysischer Ausschweifung, mit selbstverschwenderischem Rausch in Erotik und Kampf zu verbinden wussten.
Ganz anders die neue Bio-Macht: Sie lenkt den Fokus politischer Aktivität und Legitimation vom Tod auf das Leben – des gesellschaftlichen Gattungskörpers. Ihn hegt und pflegt und umsorgt nun die Macht, womit sie “Leben macht” und mütterlich, biopolitisch wird. Neben dem Kampf gegen epidemische Infektionskrankheiten, die Wellen des Todes über die Bevölkerung spülten, kommt ein weiteres Operationsfeld der Bio-Macht ins Spiel: Endemien, schleichende Erkrankungen des Gattungskörpers, die dessen Leben nicht wie die Epidemien brutal und massenhaft auslöschen, sondern hinterhältig schwächen, es unentwegt zerfressen, indem sie ihm permanent Energien entziehen (und ökonomische Kosten verursachen) – wie Raucherleiden, Bandscheibenschäden, Fettleibigkeit. So spielt im “Aktionsplan Gesundheit”, den das Bundesgesundheitsministerium 2008 vorstellte, ein “Fünf-Punkte-Plan gegen Fettleibigkeit” eine gewichtige Rolle. Öffentliches Rauchen, das lange Zeit ein aristokratisches Prärogativ war und zu den im 19. Jahrhundert erkämpften bürgerlichen Grundfreiheiten zählte, wurde bekanntlich weitgehend verboten.
Die biopolitische Macht ist vor allem eine Macht der Regulierung der wesentlichen Prozesse innerhalb des Gattungskörpers wie der Sterbe- und Geburtenrate, der Fruchtbarkeit, der Hygiene, des Sexualverhaltens, der Lebenserwartung. Sie erstrebt, wie es Foucault beschrieb, Gleichgewichts zustände, Homöostasen im Leben des Gattungskörpers, wozu sie ein Arsenal von Machttechnologien entwickeln musste, die den Gattungskörper zu erfassen, in seine Prozesse einzugreifen gestatten – von demographischen Erhebungen und Prognosen, statistischen Bewertungen über sozialmedizinische Massenpädagogik, Aufklärungs- und Schulungskampagnen für Hygiene, Gesundheitsvorsorge, Ernährungsfragen bis hin zu Kontrollen der Umwelt (der Giftstoffe in Luft, Wasser, Erde) sowie umweltpolitischen und gesundheitspolizeilichen Interventionen. Auf der anderen Seite “lässt” die Bio-Macht das Sterben: Sie verlässt Sterben und Tod als Feld der politischen Repräsentation und Legitimation, sie lässt den Tod fallen, der nun zur Grenze, zum Ende, zum Jenseits der Macht wird.
Damit rückt das Problem des modernen Rassismus in ein neues Licht. Geht man mit Foucault davon aus, dass seit dem 19. Jahrhundert die patriarchalische Souveränitätsmacht immer mehr zugunsten einer “disziplinären und regulatorischen Bio-Macht” zurückweicht, stellt sich unweigerlich das Problem: Wie kann eine solche Macht, die sich ja durch Erhaltung, Verbesserung des Lebens legitimiert, den Imperativ des Todes in ihr politisches System integrieren? Um innerhalb ihres Systems das souveräne Recht über Leben und Tod auszuüben, muss “der Feind” entpolitisiert, der politische Gegner zur biologischen Gefahr werden; muss man “Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das die Bio-Macht sich wendet”, vornehmen, wie Foucault in In Verteidigung der Gesellschaft festhält.
Genau dies geschah im wilhelminischen Deutschland um 1900, als neben der “Sozialhygiene” die Disziplin “Rassenhygiene” auftauchte: Zum ökonomisch legitimierbaren Ziel, die Gesundheit des aktuellen Volkskörpers zu heben, tritt die hausväterliche Sorge um das Erbgut, dem “kontraselektive” Schwächung, Infektionsherde, “Entartung” durch fremde Einflüsse drohen. Trotz partieller Gegensätze zur Rassenhygiene schwenkte “die Sozialhygiene zusehends auf den Kurs der Rassenhygiene” ein, konstatiert Matthias Weipert. Obgleich sie keinerlei wissenschaftliche Kriterien für gute oder schlechte Erbanlagen angeben kann – es ging ja nur darum, strategische Einschnitte innerhalb des gesellschaftlichen Gattungskörpers vorzunehmen, der Bio-Macht einen adäquaten Feind zu ermöglichen – , werden Rassenhygiene und die daraus abgeleitete Eugenik bereits im Fin de Siècle zügig als Wissenschaften institutionalisiert. 1904 entsteht das Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie, 1905 die Gesellschaft für Rassenhygiene, ab den frühen zwanziger Jahren Lehrstühle für Rassenhygiene an deutschen Universitäten.
Statt aus Stimmungen, Mentalitäten, Ideologien geht der moderne Rassismus aus Technologien der Macht hervor: Er entsteht und funktioniert präzise an der Stelle, an der die Mechanismen der Bio-Macht und die ihnen entgegengesetzten der traditionellen Souveränität ineinander greifen, sich verzahnen. Weil er strukturell die einzige Möglichkeit bietet, innerhalb des politischen Systems der Bio-Macht das alte thanatologische Prinzip der souveränen Macht durchzusetzen, zieht der Rassismus laut Foucault “mit dem Aufkommen der Bio-Macht… in die Mechanismen des Staates ein”. Die Er findung des “absoluten Feindes”, die den völkerrechtlich gehegten Krieg mit seinen klaren Unterscheidungen “von Krieg und Frieden, von Kombattanten und Nicht-Kombattanten, und von Feind und Verbrecher” aufhebt – so Carl Schmitt in der Theorie des Partisanen – , gehört in den Zusammenhang des modernen Staatsrassismus, der im Kriegsfall ja nicht den Sieg über einen politischen Gegner erstrebt, sondern darauf aus ist, eine (imaginäre) biologische Gefahr zu beseitigen und den Gattungskörper gegen äußere Infektionsquellen zu stärken.
Louis Althusser, Lehrer Foucaults, entdeckte 1969 ein eigentümliches Machtritual der Moderne: ein Ritual der Unterwerfung durch Subjektanrufung. Der ideologische Apparat – ob Polizei, Justiz- oder Schulwesen – ruft die konkreten Individuen als Subjekte an (“interpelle les individus concrets en sujets”). Dies Machtritual bedient sich zwar der mythischen Kraft des Namens, die Verfügungsgewalt über den Namen mit derjenigen über die Person verschmelzen zu lassen (Jahwe zu Jakob: “Ich habe dich bei deinem Namen gerufen: du bist mein”, Jesaja 15,1). Aber es ist unbezweifelbar modern: Denn es traut den Individuen wesentlich mehr Vernunft und Freiheit zu, als sie im Kapitalismus in der Regel erwirken können, versetzt sie in ein imaginäres Verhältnis zu ihren gesellschaftlichen Lebensbedingungen, indem es sie implizit als deren Subjekte anerkennt. Listig als Subjekte angerufen, sind die Individuen fortan belangbar und rechenschaftspflichtig. Die Ausbreitung dieses ideologischen Machtrituals in der Gesellschaft führt zu einer “Übertribunalisierung” (Odo Marquard) der menschlichen Lebenswelt.
Biopolitische Machtstrategien treiben diesen Prozess voran: Sie gehen darauf aus, die Zone des Zurechnungsfähigen und Rechenschaftspflichtigen vom Bewusstsein, von der Seele auf den Körper, seine verborgenen Vorgänge und Gefahren auszudehnen. War die Krankheit zuvor, wie Odo Marquard in Abschied vom Prinzipiellen schreibt, ein klassischer “Ausbruch in die Unbelangbarkeit”, eine “ebenso qualvolle wie attraktive Entlastungschance” des bedrängten Subjekts, so entzieht die Bio-Macht ihren Untertanen diesen Fluchtweg. Ihre innere Natur, ihr körperlicher Zustand gerät biopolitisch in den Fokus der Tribunalisierung der Lebenswelt. Angesichts der latent drohenden, akut aufkeimenden Übel des Körpers wird der Mensch zum Angeklagten, der sich fragen lassen muss, warum er die Vorsorgeuntersuchungen der Krankenkasse versäumt, sein Vorsorgeheft nicht ausgefüllt hat, der sich dafür rechtfertigen muss, dass er keinen Sport getrieben und die Blutwerte nicht überprüft hat.
Die biopolitischen Machtapparate – Gesundheitsbehörden, Krankenversicherungen, Pharmakonzerne, Ärzteverbände, Kliniken – unterwerfen die Subjekte, indem sie sie vergegenständlichen, repräsentativ zum Patienten machen nach dem operativen Motto: Es gibt keine Gesunden, nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht worden sind. In jenem klinischen Machtzeremoniell, dessen hierarchische Organisation prototypisch bei der Chefarztvisite im Hospital erscheint, fungieren die Untertanen einerseits als Patienten, als Fall, andererseits als letztes Glied, unterster Arzthelfer des hierarchischen Apparats der Bio-Macht selbst, als internalisierte biopolitische Instanz der Überwachung, Kontrolle, Vorsorge. Insofern ist der ideale Untertan der Bio-Macht nicht nur Patient, sondern auch Arzt, nicht nur virtuell Angeklagter, sondern auch Ankläger seiner selbst.
Ist er damit aber vernünftiger geworden? Seinen körperlichen Zustand, dessen verborgene Gefahren ständig beargwöhnend, seine Gesundheit hinterfragend, erreicht er gerade das Gegenteil von dem, was er eigentlich wollte: Er entfernt sich von Gesundheit, was – wie die Liebe, das Glück – ein Zustand der Selbstvergessenheit ist. Die biopolitische Machtstrategie einer Optimierung des Lebens ist erkauft mit der Ausbürgerung des Todes aus dem gesellschaftlichen Leben, die das Sterben zu einer unappetitlichen Angelegenheit macht, die es schamhaft zu verbergen gilt, wie Philippe Ariès in seiner Geschichte des Todes darlegte.
Damit wird sogar naturwissenschaftliches Wissen ausgeblendet: nämlich dass der Tod als ein Faktor der Evolution in die genetische Information einprogrammiert ist. Denn der Tod, die Kurzlebigkeit der Individuen, schafft Raum fürs Wirken ungerichteter und unberechenbarer Zufallsprozesse (der Mutationen), deren die Evolution bedarf, um neue Kombinationen des genetischen Codes auszuprobieren. Kurzlebigkeit ist daher, so Carl Friedrich von Weizsäcker in Die Einheit der Natur, “als Teil der Gesundheit der jeweiligen Spezies zu verstehen”. Die kulturelle Entwertung des Todes führt notwendig dazu, dass in der von der Bio-Macht durchdrungenen Gesellschaft der Sinn für menschliche Souveränität, existentielle Freiheit verloren geht. Oder genauer: Er wird zum “Virus, das die Gesellschaft gefährdet”, etwa in Gestalt von Moritz aus Juli Zehs Roman Corpus Delicti, der auf der Erfahrung von “Rausch” und “Schmerz” besteht und erkannt hat: “Um frei zu sein, darf man den Tod nicht als Gegenspieler des Lebens begreifen”.
Was für die Disziplinarmacht die Schwerindustrie, ist für die Bio-Macht die Gesundheitswirtschaft – der Produktionszweig, der ihr strukturell am nächsten liegt. Dass die Bio-Macht nicht mit einer Schreckensherrschaft der Vernunft gleichzusetzen ist, zeigt sich schlagend am biopolitischen Zusammenspiel von staatlicher Gesundheitsbürokratie, kapitalistischer Gesundheitsindustrie (Pharmakonzerne, Kliniken, medizin- und biotechnische Unternehmen, Sanitätshäuser, Pflegedienste) und einem aufgeheizten, boomenden Gesundheitsmarkt. Laut McKinsey zählt die Gesundheitswirtschaft 2010 zu den “zentralen Branchen der Wertschöpfung” in Deutschland, in Berlin stellt sie über ein Viertel aller Arbeitsplätze.
Aber sowenig Langlebigkeit des Individuums ein natürliches Ziel der Evolution ist, sowenig bedienen Gesundheitsindustrie und -märkte natürliche Bedürfnisse. Von Massenmedien und Werbeagenturen ständig ermahnt, auf die warnenden Stimmen des Körpers zu achten (“Hören Sie auf Ihren Darm!”), den Körper mittels raffinierter Diätprodukte innerlich zu reinigen, zu entschlacken (als ob die Bakterienkulturen im Körperinnern ein Übel wären und nicht lebensnotwendig), und bei schönem Wetter sofort an seine Bewegungsschuld erinnert, läuft der loyale Untertan der Bio-Macht Gefahr, an chronischer Therapiesucht und Vorsorgewahn zu erkranken. Statt auf natürliche Bedürfnisse zu reagieren, produziert die Gesundheitswirtschaft hysterische Ängste um den Körper, zwanghafte Selbstüberwachung und kollektive Hypochondrien.
Selbst die als unbestreitbarer Fortschritt des Humanen gepriesene Krebsvorsorgeindustrie zielt keineswegs darauf ab, die Leiden des Einzelnen zu lindern: In der Mehrzahl der Fälle läuft Früherkennungstechnik wie die Mammographie (“Jetzt auch für den Mann!”) darauf hinaus, entweder – wenn Tumore langsam und harmlos wachsen – ein Leiden zu diagnostizieren und zu behandeln, das ohne sie gar nicht bemerkt worden wäre, oder – bei schnellem, bösartigem Wachstum – das Leiden zu verlängern, indem man es zeitlich vorverlegt. Nach erfolgreicher invasiver Behandlung etwa von Brustkrebs ist der Patient keinesfalls entlassen, vielmehr tritt dann die plastische Chirurgie auf den Plan zur Brustrekonstruktion durch Silikonimplantate. Indem sich die Kapitalwirtschaft der Leiden des Körpers bemächtigt, Medizin- und Pharmaindustrie systematisch in dessen organische Selbstregulation eingreifen, emanzipiert sie sich nicht zuletzt von den Launen des Konsumenten, einem Bedürfnis nachzugehen oder auch nicht: Sie entfesselt eine Spirale selbstproduzierter beschleunigter Zwangsläufigkeiten, die dem Kunden buchstäblich über den Kopf wächst.
Foucault sah die Eigenart der Bio-Macht darin, dass sie im Unterschied zur Disziplinarmacht, die auf die individuellen Körper losgeht, auf einen Gattungskörper ausgerichtet ist, in den sie regulierend eingreift. Allerdings geht es der biopolitischen Regulation des Gattungskörpers nicht, wie der sowjetkommunistische Wirtschaftshistoriker Andrej Anikin 1971 schrieb, darum, “das Problem des Bevölkerungsoptimums” im Hinblick auf “den Wohlstand und das Glück der Menschheit” zu lösen; vielmehr darum, die Bevölkerungsmasse so zu justieren, dass sie einem der Kapitalverwertung dienenden Maß an Überbevölkerung entspricht. Da sich die Kapitalströme mal auf diesen, mal auf jenen Produktionszweig werfen, da sie je nach Markt- und Konjunkturlage Arbeitermassen anziehen und wieder abstoßen, mithin die Bewegung einer wechselnden Attraktion und Repulsion lebendiger Arbeit darstellen, braucht das Kapital als “Hebel”, als “Existenzbedingung”, was Marx im ersten Band des Kapitals “eine disponible industrielle Reservearmee” nannte.
All den Werbebotschaften der Gesundheitsindustrie, den Kosmetik- und Apothekerbroschüren, den Ärzteblättern, Gesundheits- und Schönheitsberatern (“Design your body!”) liegt ein gemeinsamer latenter Subtext zugrunde, der sich wie ein ansteckendes Virus in den Gehirnen verbreitet: Willst du erfolgreich und begehrenswert sein, musst du Bestandteil des glänzenden Gattungskörpers werden. Der glänzende Körper ist der vom Kapital mobilisierte Gattungskörper, seine Elemente sind – in der Sprache des Neoliberalismus – Kompetenzmaschinen, die Einkommensströme erzeugen. Will der Einzelne nun zeigen, dass er Teil hat am glänzenden Gattungskörper, der immun ist gegenüber den Infektionen des Lasters, des Elends, des Verfalls, muss er eine ästhetische Mehrarbeit auf sich nehmen, eine Marketingarbeit am eigenen Humankapital: In Fitnesscentern, Kosme tikstudios, in Beauty-Shops, Praxen für Verhaltenscoaching und plastische Chirurgie muss er beharrlich daran arbeiten, dass sein Körper nicht abrutscht in die düsteren Ränder, dorthin, wo die für die Kapitalverwertung zwar insgesamt nützlichen, aber unmittelbar lästigen Überflüssigen ihr Leben fristen, die subproletarischen Populationen der Fettleibigen, toxigen Geschwächten, der von Brutalität, Hoffnungslosigkeit, vorzeitigem Altern Gezeichneten.
Um als Element eines solchermaßen desinfizierten Gattungskörpers erscheinen zu können, muss der Einzelne sich, seinem Köper eine zweite Haut anlegen, die im Gegensatz zur natürlichen Haut kein Kommunikationsorgan mit der Umwelt ist, weder Geschichte noch Individualität besitzt. Er muss seinen Körper mit einer Zeichenhülle umweben, die das Paradox einer lebendigen Unsterblichkeit ausstrahlt, muss seinen Körper zum Demonstrationsobjekt phallischer Zeichen machen: auf dass all die Zeichen der Geschichte des Körpers, seines Austauschs mit anderen, getilgt werden, der Körper also nicht mehr porös und uneben, faltig und haarig erscheint, stattdessen mit phallischen Signifikanten gespickt ist: glatt, enthaart, geschlossen, glänzend, prall.
Wurde in der klassischen Psychoanalyse ein phallisches Signifikantenspiel vor allem als Eigenart weiblicher Körperinszenierung und Verführung aufgefasst, die durch ein Spiel von Kastrations- und phallischen Zeichen den Mann in Bann schlagen, der Abwehr seiner kindlichen “unbewussten Kastrationsangst” dienen sollte, wie Theodor Reik in Von Liebe und Lust entwickelte, ändert sich das Bild unter Bedingungen postmoderner Kultur und Biopolitik. Die Transformation der individuellen, hinfälligen Körper in Körper, die scheinbar unsterblich strahlen, betrifft beide Geschlechter gleichermaßen, dient nicht mehr unmittelbar der Spannung zwischen ihnen. Sie erhält den Charakter einer Transformation des infektionsanfälligen Einzelkörpers in den (von den Massenmedien verwalteten) Himmel einer erhabenen gesellschaftlichen Zeichenökonomie, die ein Prestige bezeichnet, ein Begehren steuert, das der Phallus als allgemeines Äquivalent reguliert.
Dieser Prozess ist wiederholt in Begriffen der christlichen Mythologie beschrieben worden: von Jean Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod als “Transsubstantiation… von Körper in Phallus”, das heißt von ausscheidenden und verschlingenden, hinfälligen Körpern in strahlend geschlossene, phallisch fetischisierte, sakralisierte Körper. Wie sich im Ritual der Eucharistie flüchtig materielle Substanzen in heilige, unsterbliche (des Corpus Christi) verwandeln, wie im mittelalterlichen Ritual der Salbung der Körper des Königs sich in einen profanen, sterblichen und einen unsterblichen, sakralen verdoppelt, so verwandelt sich durch Einsatz ästhetischer und medizinischer Körpertechnologien der natürliche Körper des Einzelnen in einen phantasmatischen Körper mit einer von phallischen Signifikanten gewebten zweiten Haut, in einen Körper, der insofern unsterblich ist, als er sich solcherart einschreibt in einen glänzenden, desinfizierten gesellschaftlichen Gattungskörper. Das heilige Öl der rituellen Verwandlung kehrt wieder im Gel der Bodybuilder. Doch die Einschreibung ist nie definitiv – die Angst, nicht mehr begehrenswert, nicht mehr Phallus zu sein, begleitet nunmehr Männer wie Frauen, treibt sie in rastlose Arbeit am erhabenen Körperbild.
In der Unterwerfung unter die ästhetisch-medizinischen Körpertechnologien als Ausweis, einem glänzenden, gegen Infektionen gefeiten Gattungskörper anzugehören, zeigt sich schlagend, dass die biopolitische Macht gleichzeitig sowohl eine Disziplinar- als auch eine Regulationsmacht darstellt, mithin eine Macht der Norm etabliert. Waren in vormodernen Ständegesellschaften Macht und Individualisierung direkt proportional, kehrt sich deren politische Achse in der Moderne um: Während in den anonymen Machtzonen die höchste Stufe an Normalität regiert, so dass ihre Träger beinahe unsichtbar werden, wächst mit der Ohnmacht die Unterwerfung unter “Individualisierungsprozeduren”, wie Foucault in Überwachen und Strafen schreibt.
Die homogenisierende Modellierung der Körper wird begleitet durch normierende Eingriffe in die Psyche: Der ideale Untertan der Bio-Macht folgt der von Nietzsche inkriminierten “Sklaven-Moral” der Selbsterhaltung, der Moral des Spießers, so lange wie irgend möglich am Leben zu bleiben, so gesund wie möglich zu sterben. Er begreift als neoliberal renovierter Homo oeconomicus, als Unternehmer seiner selbst sein eigenes Leben als Kapital, das es optimal zu verwerten gilt. Die ökonomische Unternehmensform steigt zum Modell der individuellen Selbstbeziehung, der Existenz selbst auf. Als Kapital aufgefasst, haben Lebenszeit, angeeignete Fähigkeiten, Bildung, Genuss einen einzigen Sinn: den der Selbstverwertung, Selbstvermehrung des imaginären Lebenskapitals. Sexuelle Aktivität kann durchaus eine sinnvolle Investition darstellen, da sie (wie amerikanische Forscher herausfanden) bei vernünftigem Gebrauch einen Lebenszeitmehrwert von bis zu zehn Jahren abwirft.
Die ursprüngliche Akkumulation des Humankapitals (was früher naiv als zärtliche Liebe zum Kind erschien) ist allerdings risikobehaftet: Sie ist nur dann keine Fehlinvestition, wenn das neue Lebewesen an die gesellschaftliche Kapitalmaschine ökonomisch gewinnbringend anschließbar ist. Das Malthussche Bevölkerungsparadox, wonach die Einkommenshöhe umgekehrt proportional zum Kinderreichtum ist, löst sich in neoliberaler Sicht dahingehend auf, dass wohlhabende, gebildete Familien das Problem einer zeitintensiven Übertragung ihres hohen Humankapitals und daher wenig Kinder haben, während die armen Underdogs aufgrund ihres geringen Humankapitals dieses Problem nicht und darum viele Kinder haben.
Um das eigene Humankapital zu erhalten, gar zu steigern, wurden seit Mitte des 20. Jahrhunderts allerlei Psychotechniken entwickelt und angeboten: etwa die als Verkaufsstrategie für Vertreter, dann als Motivationsmanagement in Unternehmen eingesetzte Technik des positiven Denkens. Sie ist, wie die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich in Smile or Die darlegte, dialektisch in der Tradition der calvinistischen Seelenarbeit zu verorten. Suchten die Calvinisten zwanghaft nach sündigen Gedanken im Innern, so führen die amerikanischen Optimisten diese Suche auf entmytho logisierte und verschobene Weise weiter: Sündhaft sind nun nicht mehr die Stimmen des Körpers, des Begehrens, sondern negative Gedanken und Gefühle, Spuren von Zweifel, Wut, Verzweiflung, letztendlich der Bezug auf Sterblichkeit und Tod.
Wer sich darauf positiv beziehen wollte, wie einst Friedrich Nietzsche und Georges Bataille in ihren Konzepten menschlicher Souveränität, die sich einer ekstatischen Öffnung auf Tod und Eros hin, einer nutzlosen Verschwendung seiner selbst verdankte, der entwertet zum einen pathologisch sein Humankapital, der ist zum anderen selbst schuld, wenn ihn das Schicksal trifft – könnte er dieses doch in Selbsthilfegruppen, mit Motivationsseminaren und Antidepressiva heilen. Wie von der Bio-Macht bestellt, verwandeln Therapiegurus Schicksal in ein Gedankenvirus, das sie durch magische Suggestionen bekämpfen. Als ein Akt prästabilierter Harmonie von biopolitischen Körper- und Seelentechnologien muss es erscheinen, wenn das zur Glättung der Gesichtshaut eingesetzte Nervengift Botulinumtoxin (als Botox mit Viagra und Antidepressiva die pharmakologische Dreifaltigkeit der Anti-Aging-Kampagnen der Gesundheitsindustrie) dadurch, dass es die Gesichtsmuskeln lähmt, das Repertoire der menschlichen Mimik drastisch reduziert und den Konsumenten erspart, etwa die Stirn zu runzeln oder den Mund spöttisch zu verziehen – “keep smiling” reicht völlig aus!
Was für die traditionelle Souveränitätsmacht das Spektakel öffentlicher Hinrichtungen, verschwenderische Triumphzüge nach siegreichen Schlachten, was für die moderne Disziplinarmacht prunkvolle Militärparaden, deren Modell die Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf die ganze Gesellschaft ausdehnten – das ist für die Bio-Macht als solche, deren Gesicht sich erst in den letzten Dezennien herausschälte, die Theatralik eines lebendig strahlenden Massenkörpers. Wie die Diktaturen der Moderne repräsentiert und feiert sich die Bio-Macht durch eine erregte Masse. Aber nicht durch eine “geschlossene Masse”, deren Erregungsströme, wie von Elias Canetti in Masse und Macht beschrieben, straff geordnet und einheitlich ausgerichtet sind, sondern durch eine Masse ekstatisch erregter, von Ich-Kontrolle entbundener, wilder Körper, die allerdings – wie die Berliner Loveparade, wie die Fanmeilen zum Public Viewing – von der Staatsmacht hintergründig beschützt, unauffällig gehegt und überwacht ist.
Was aber bindet hier die libidinösen Ströme der Masse, worauf gehen sie aus? Was sie prima vista zusammenführte – das rhythmische Wummern der Technobeats, die Dramaturgie eines Fußballspiels, das Charisma eines Rocksängers – , spielt nur die Rolle eines Katalysators in einem Vorgang, den die Bildmaschinen der Medien entscheidend vermitteln. Denn die Massen bewegen sich hier als Akteure eines Medienevents, und die mediale Inszenierung betrifft nicht nur die – global zerstreute – Masse vor den Fernsehapparaten, sondern zugleich die lokal verdichtete Masse des realen Ereignisses: Auf Großbildschirmen oder Videowürfeln leuchten der Masse medienästhetisch konstruierte Bilder ihrer selbst entgegen, entsteht ein körpersprachlicher Text, wodurch die Erregungsströme der Masse auf sie selbst zurückgelenkt werden.
Das Theater des Massenkörpers führt eine Selbstbespiegelung der Masse auf und herbei: Die Lust des Einzelnen am eigenen, enthemmt bewegten Körper steigert sich “zur Lust am Verschwinden des eigenen Körpers in einem einzigen Massenkörper”, die über die mediale Inszenierung der Masse wiederum zugeleitet wird, so dass schließlich “die Masse” selbst “narzisstisch” wird, in “lustvoller Selbst-Betrachtung” schwelgt.3 Dies Bild, diese Figur eines lustvoll über sich selbst gebeugten Massenkörpers macht Medienevents à la Loveparade, Fanmeile, Rockkonzert zu eigentümlichen Zeremonien der Bio-Macht: unüberbietbarer Ausweis der Macht, den Selbstgenuss des Lebens zu organisieren, Repräsentation einer gelungenen biopolitischen Unterwerfung der Körper.
Was das massenmediale Körpertheater von antiken Ritualen der Grenzüberschreitung trennt: Im Gegensatz zu den Dionysien der Griechen, den Saturnalien der Römer fehlt hier neben den transzendenten Bezügen die tragische Aura der Ekstase, der dunkle Grund der Glückseligkeit, die atmosphärische Nähe von Gewalt, Chaos, Tod. Das mediale Theater des Massenkörpers kann nämlich laut Götz Großklaus nur dann “als Einlösung eines biopolitischen Versprechens” erscheinen, wenn sich Eros und Thanatos entmischen, wenn alle Zeichen, die auf Verfall, Gewalt, Panik, Tod deuten könnten, rigoros beseitigt werden. Das zeigte sich an der Katastrophe der Duisburger Loveparade im Sommer 2010 (Motto: “Dance or die!”): Die Bilder zerquetschter und zertrampelter Körper, kombiniert mit Bildern ekstatisch Tanzender, ließen den biopolitischen Repräsentationswert augenblicklich implodieren. Man müsse, so empörte Politiker, die Loveparade für alle Zeit abschaffen.
In dem Maße, wie sich Strategien, Techniken, Strukturen der Bio-Macht durchsetzen und diejenigen der alten souveränen Macht verdrängen, verliert die politische Macht patriarchalischen Charakter, ohne darum matriarchalisch zu werden. Wenn es phallische Zeichen sind, die den hinfälligen, porösen Körper mit einer zweiten Haut umhüllen, in den Medienhimmel eines phantasmatischen, glänzenden Gattungskörpers erheben, hat das mit den Phallussymbolen – heilige Schwerter, Lanzen, Zepter – der souveränen Macht nichts zu tun. Jene erinnern vielmehr an phallische Zeichen altorientalischer Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen: Statt als Symbole männlicher Potenz und Macht fungierten sie als schillernde Zeichen mit vielen, auch weiblichen Bedeutungen – wie der Phallus, den Isis als Schlangenkopf auf der Stirn trägt, der als Gabe, Geschenk der Erdgöttin gilt, Zeichen weiblicher Erfindungs- und Verführungskraft.
Der Aufstieg der Bio-Macht, ihr Heraustreten aus dem langen Schatten der Souveränitätsmacht, zeichnet sich nicht zuletzt in dem Strukturwandel ab, dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts Filmdiven, globale Models und Weiblichkeitsikonen unterliegen. Sie tragen im Sternenhimmel der Massenmedien planetarische Fruchtbarkeitsrivalitäten aus: Angelina Jolie zum Beispiel, die bereits Kinder aus nahezu allen Kontinenten um sich geschart hat, gebar im Juli 2008 Zwillinge (“Ich habe nie Fruchtbarkeitsprobleme”), womit sie mit Jennifer Lopez gleichzog, die wenige Monate zuvor Zwillinge gebar; Cate Blanchett gebar im selben Jahr ihr drittes Kind, was Heidi Klum anno 2009 mit ihrer vierten Niederkunft toppte, wobei sie ihre Schwangerschaft nicht nur wie ihre Starkolleginnen öffentlich zelebrierte, sondern ausdrücklich erotisierte, indem sie sich “mit XXL-Baby-Bauch” für den Boulevard auszog; Céline Dion schaffte 2010 mit Zwillingen den Anschluss. Auf die Väter kommt es nicht an: Die den Fruchtbarkeitsdiven behilflichen Partner wie Brad Pitt oder “Klum-Gatte” Seal bleiben brav bewundernd und schmachtend im Hintergrund, nette große Jungs, ohne männliche oder gar väterliche Autorität. Sie changieren zwischen Geliebtem, Bruder, großem Sohn.
Die Weiblichkeitsikonen des 21. Jahrhunderts sind – ganz wie die Fruchtbarkeitsgöttinnen der orientalischen Antike – Liebhaberin und Mutter, Schwester und Verführerin zugleich. Die Zeichen der Gebärfreudigkeit verschmelzen mit den Zeichen weiblich erotischer Faszination, die Mutterschaften stehen ihrer sexuellen Verführungskraft keineswegs im Wege. Es genügt, an die klassischen Diven des 20. Jahrhunderts zu erinnern, um die Kluft zu ermessen: Sexgöttinnen wie Rita Hayworth oder Marilyn Monroe, deren geballte Verführungskraft als so überwältigend und gefährlich galt, dass sie in Bildern der Atomexplosion zur Sprache kam (wie ja umgekehrt die 1947 auf dem Bikini-Atoll gezündete Atombombe ein Bild der “love goddess” Hayworth und deren Rollennamen “Gilda” trug), wären augenblicklich implodiert, hätte man diese Femmes fatales mit Zeichen des Gebärens, Stillens und Bemutterns in Zusammenhang gebracht.
In der klassisch modernen Kultur mussten die Grenzen klar gezogen sein: Geliebte oder Mutter, Schwester oder Verführerin. So naiv es wäre, aus dem Vorrang altorientalischer Erdgöttinnen auf ein Matriarchat zu schließen, so naiv, den postmodernen Aufstieg von mütterlichen Sex-Appeal-Ikonen als Ausdruck der gesellschaftlichen Befreiung der Frau zu deuten. Der Veränderung im globalen Medienhimmel liegt die strukturelle Verschiebung von der patriarchalischen Souveränität zur Bio-Macht zugrunde.
Ernst Jünger hatte in An der Zeitmauer eine tellurische Vision der Modernisierung entworfen als Ereignis eines “titanischen Aufstandes” gegen die alten Vater-Götter, zu dem “die grenzenlose Erde ihre Söhne aufreizt”. Als Symptom dieser permanenten “antäischen” Revolution bemerkte er, dass die Menschen “beginnen, mit den Genen zu spielen”, mit der Erbsubstanz zu experimentieren. Die Bio-Macht ist inzwischen so weit, dass Klonen des genetischen Materials, Vervielfältigungen des genetischen Codes keine Utopie mehr sind. Im Mai 2008 erlaubte das britische Parlament durch ein ausdrückliches Gesetz die Schaffung von Mensch-Tier-Embryonen. Damit ist es endlich möglich, die Titanen und Schimären der antiken Mythologie, die nach dem Siegeszug der olympischen Vater-Götter unter die Erde verbannt wurden, wiederzubeleben.
Vgl. Matthias Weipert, "Mehrung der Volkskraft": Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933. Paderborn: Schöningh 2006.
Vgl. Hans-Georg Flickinger (Hrsg.), Die Autonomie des Politischen. Carl Schmitts Kampf um einen beschädigten Begriff. Weinheim: VCH 1990.
Götz Großklaus, Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp 2004.
Published 9 February 2011
Original in German
First published by Merkur 2/2011
© Dietmar Voss / Merkur / Eurozine
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