Kulturzeitschriften im neuen Europa
Eine ganze Reihe von Kulturzeitschriften signalisiert schon von ihrem Namen her einen programmatisch grenzüberschreitenden Ansatz, z.B. Lettre international, Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Kafka – Zeitschrift für Mitteleuropa, Le Monde diplomatique, Eurozine. Das gilt auch für die Zeitschrift Transit, deren Untertitel Europäische Revue heißt.
Wie ist der europäische Anspruch bei Transit zu verstehen, was ist die Idee? Die Gründer träumten Mitte der achtziger Jahre von einer Zeitschrift, die daran erinnern – und danach handeln – sollte, dass die in Jalta beschlossene Teilung Europas künstlich war und dass der sogenannte Ostblock nie aufgehört hat, ein Teil Europas zu sein. Es dauerte damals eine Weile, bis wir einen Verlag fanden, der sich für die Idee begeisterte: die “Neue Kritik” in Frankfurt.
Die erste Nummer von Transit kam unmittelbar nach den Umbrüchen von 1989 heraus. Das war in gewisser Weise Kairos, eine glückliche Fügung, denn hier kam die Wirklichkeit – überraschend, für uns, wie für alle sonst – der Idee mit Macht entgegen. Praktisch über Nacht verschwand 1989 die so unabänderlich erscheinende Trennlinie zwischen West und Ost. Ein gewaltiges Hindernis schien beseitigt, und nichts mehr dem freien Verkehr der Ideen im Wege zu stehen.
Ganz so einfach war es dann mit der intellektuellen und kulturellen Wiedervereinigung des alten Kontinents doch nicht. Auf das ersehnte Europa des Geistes werden wir wohl noch eine Weile warten müssen. Bis heute herrscht eine starke Asymmetrie: Die “Ost”europäer sind an dem, was im “Westen” geschieht, nach wie vor stärker interessiert als umgekehrt die Westeuropäer am “Osten”.
Diese Asymmetrie will Transit versuchen, nach seinen bescheidenen Kräften ein wenig zu korrigieren. Die Zeitschrift diskutiert europäische Fragen zu Politik, Kultur und Gesellschaft unter programmatischer Einbeziehung osteuropäischer Autoren und Perspektiven.
Die Ost/West-Asymmetrie der Wahrnehmungen geht einher mit politischen und ideologischen Asymmetrien. Der Begriff der “Osterweiterung” illustriert das vielleicht am besten. Er mag geographisch korrekt sein, leistet aber der Vorstellung Vorschub, dass ein hilfsbedürftiger Osten in den Genuss der Segnungen des Westens kommt. Dass die Osterweiterung eben keine bloße Erweiterung ist, an deren Ende eine lediglich größer gewordene Europäische Union steht, sondern dass wir uns heute mitten in der Neubildung Europas befinden, das ist die Herausforderung und Chance. Wir müssen unsere Vorstellung von Europa überdenken, neu denken.
Mit der 1989 eröffneten neuen Dimension des europäischen Projekts hat sich Transit immer wieder beschäftigt, zuletzt etwa in der Nr. 21, die den Titel “Westerweiterung – Zur symbolischen Geographie Osteuropas” trägt. Es geht hier vor allem um eine Neubestimmung Osteuropas im veränderten Spannungsfeld zwischen EU und Russland. Ich beschränke mich hier auf einen Aspekt. Die neuen Mitglieder der EU bringen ihrerseits etwas ein in die Gemeinschaft, und zwar nicht nur Ärger. Es wird sicher Reibungen geben zwischen den ökonomischen, sozialen und politischen Kulturen der alten und der neuen Länder, des “Zentrums” und der “Peripherie”, aber zugleich Austauschprozesse, in deren Verlauf sich beide Seiten verändern und, so darf man hoffen, beide etwas gewinnen werden.
Also, es gibt da einen gewissen Dünkel gegenüber den freundlicherweise neu in den Club Aufgenommenen. Der potenziert sich dann noch einmal gegenüber denen, die draußen vor der Tür bleiben.
Damit kommen wir zu einem anderen unterbelichteten Aspekt der Osterweiterung – der hohe Preis, der für sie bezahlt wird: Mit Vergrößerung und wachsender Integration der EU verschärfen sich ihre Ausgrenzungsmechanismen. Nehmen wir die polnisch-ukrainische Grenze: Kaum geöffnet nach dem Ende der Sowjetunion, ist Polen im Begriff, diese Grenze unter dem Druck aus Brüssel von der andern Seite her wieder zu verriegeln. Dass damit auf beiden Seiten eine florierende Grenzlandkultur zerstört wird, dass damit produktive transnationale “Kriechströme” (Karl Schlögel) unterbrochen werden, dass damit der Ukraine die Tür nach Europa vor der Nase zugeschlagen wird, wird als notwendiges Opfer im Namen der Prosperität und Sicherheit der erweiterten Europäischen Union gerechtfertigt – wenn dies denn überhaupt als Problem wahrgenommen wird. In europäischem Geiste gehandelt ist das sicherlich nicht.
In gewisser Weise hat sich Mitteleuropa heute ostwärts verschoben. Die Idee “Mitteleuropa” war enorm erfolgreich. Allerdings weniger die Beschwörung Mitteleuropas als des besseren Europa, als des letzten Refugiums der “echten europäischen Kultur” zwischen Gulag und Supermarkt. Vielmehr als politisches Instrument zur Unterlaufung von Blockgrenzen, alten und neuen. Über die strukturelle Kontinuität der mitteleuropäischen Idee und über die “neuen Mitteleuropäer” schreibt der amerikanische Historiker Tim Snyder in Transit 21:
Die Intellektuellen in Vilnius, Minsk und Kiew träumen heute von Mitteleuropa ganz ähnlich, wie früher die Intellektuellen in Warschau, Budapest und Prag. Die Tatsache, dass mittlerweile jeder Polen, Ungarn und die Tschechische Republik als mitteleuropäisch betrachtet, bedeutet nicht, dass der alte Traum von Mitteleuropa verwirklicht wurde. Wohl aber bedeutet es, dass in Warschau, Budapest und Prag politische Visionen nicht länger unter dem Etikett “Mitteleuropa” firmieren. In dem Maße, wie der Traum von Mitteleuropa einer gleichnamigen Realität Platz machte, fand er in anderen Ländern eine neue Heimat. Der Luftzug einer zuschlagenden Tür öffnete eine andere, und Vilnius, Minsk und Kiew sind nun in die leeren Zimmer des Hotels Mitteleuropa gezogen. (…)
Die Europäische Union hat großen Einfluss auf Osteuropa und genießt in Kiew, Minsk und Moskau enorme Popularität. Während sie Polen und danach Litauen aufnimmt, sollte die EU überlegen, wie sie ein neues Mitteleuropa konsolidieren könnte, das die Ukraine, Weißrussland und sogar Russland einbezieht. Wenn das Brüsseler Mitteleuropa das einzige Mitteleuropa ist, das zu haben ist, sollte Brüssel helfen, es so groß wie möglich zu halten.
Das im Vergleich zu den Massenmedien so winzige Orchester der Kulturzeitschriften – welche Aufgaben hat es nun im europäischen Zusammenhang?
Ich glaube nicht, dass Kulturzeitschriften einen Beitrag zur europäischen kulturellen Identität zu leisten hätten. Dafür sind andere zuständig. Um Identität muss man sich wohl kaum kümmern, es gibt genug Instanzen und Kräfte, die dafür sorgen, von der europäischen Integration bis zur Globalisierung – oft genug um den Preis des Verschwindens von kulturellen Differenzen.
Europa lebt von seinen Unterschieden, von seiner Diversität, und wenn die europäische Kultur eine spezifische Identität hat, dann besteht sie paradoxerweise vielleicht in der Fähigkeit, Differenzen zu akzeptieren, zu bewahren, mit ihnen umzugehen.
In diesem Sinne sollten Kulturzeitschriften Anwälte der Differenz, nicht der Identität sein. Ihre Aufgabe ist das “Plädoyer für das Unähnliche” – eine Formulierung, die ich dem Heft 4 (2001) der Zeitschrift Kafka entnehme. Es geht dabei weniger darum, Differenzen zum Gegenstand zu machen, als darum, sie zum Tragen zu bringen: eben Stimmen hörbar zu machen, die sonst im Rauschen der mainstream-Medien untergingen.
Dieses Plädoyer für eine kritische Begleitung des europäischen Erweiterungs- und Integrationsprozesses sollte nicht als Euroskeptizismus interpretiert werden. Die Zukunft Europas hängt wohl am Gelingen dieses Prozesses. Derzeit ist in Mitteleuropa allerdings eine beunruhigende Konjunktur populistischer Kräfte zu beobachten – mit Alliierten von München bis Rom -, die die unvermeidlichen Schwierigkeiten der Integration instrumentalisieren und bereit scheinen, die Europäische Union zur Disposition zu stellen. Über dieses “andere Mitteleuropa” schreibt der Pariser Politologe Jacques Rupnik in der neuen Transit-Nummer (23): diesmal wird es eine Verteidigung des Ähnlichen sein – nämlich des gemeinsamen Projekts Europa – gegen die Wiederkehr nationaler Partikularismen.
Fast muss man sich wundern, dass die Osteuropäer nach all den Aufschüben immer noch den Wunsch hegen, der Union beizutreten. Wenn die Erweiterung nicht rasch kommt, könnte sich diese Einstellung sehr bald ändern. Dann hätte das andere Mitteleuropa gewonnen.
Der Text geht auf ein statement zur Diskussion “Kulturzeitschriften – Spiegel Europas?” zurück (Teilnehmer: die ungarische Lettre international, Kafka, Merkur, Eurozine und Transit), die im April 2002 im Rahmen des “Forum Neues Europa” der Leipziger Buchmesse stattfand. Veranstalter war die Buchmesse-Akademie.
Published 23 April 2002
Original in German
First published by Eurozine
© Klaus Nellen / Eurozine
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