Kommemorative Kausalität

Gedenkkultur vs. Geschichtsschreibung

Ohne Hitlers Antisemitismus, sein Verständnis und seine Darstellung der Juden als weltweite Bedrohung Deutschlands, wäre der Holocaust nicht geschehen. Mit dieser Aussage wird eine notwendige Bedingung für den deutschen Versuch spezifiziert, die Juden Europas zu vernichten. Doch muss die plausible historische Erklärung eines bedeutenden historischen Ereignisses plural sein und vielfältige Kausalitätslinien miteinander verknüpfen, die zusammengenommen nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend sind. Zum Zweck der Erklärung des Holocaust ist Antisemitismus folglich nicht genug; zum Zweck des Gedenkens an ihn dagegen wohl. Das Problem ist nur, dass unsere Zeit stärker dem Gedenken als der Geschichte verhaftet ist. Gedenken erfordert keine angemessene Erklärung der Katastrophe, lediglich ein ästhetisch anverwandeltes Bild ihrer Opfer. Wenn Gedenkkulturen das Interesse an der Geschichte ersetzen, besteht die Gefahr, dass Historiker eher zu solchen Erklärungen greifen, die sich am leichtesten vermitteln lassen.1

In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Holocaust zum zentralen Ereignis der europäischen Zeitgeschichte geworden und hat damit die Französische Revolution abgelöst, die diesen Platz zwei Jahrhunderte lang innehatte. Franois Furet, der große Historiker ihrer gesellschaftlichen und intellektuellen Rezeption, hat vor den Gefahren einer “histoire commémorative” gewarnt, einer das Gedenken feiernden Historiographie, die erfolgreich erzählt, was am elegantesten erinnert wird.2 Im Fall des Holocaust besteht die Gefahr in einem Phänomen, das man “kommemorative Kausalität” nennen könnte, wo dasjenige, dessen man am effektvollsten und häufigsten gedenkt, zu dem wird, was sich in der historischen Darstellung am bequemsten als Ursache präsentieren lässt. So zeichnet sich die Gefahr ab, ja sie ist bereits gegenwärtig, dass durch kommemorative Kausalität die Geschichte des Holocaust, wie Hannah Arendt es vorhergesagt hat, auf ein Abbild zeitgenössischer Emotionen reduziert wird.3

Die koloniale Episteme

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der Holocaust ein nachgeordneter Aspekt der Nationalgeschichte Deutschlands. Die 1970er und 1980er Jahre waren durch die Debatte zwischen “Intentionalisten” und “Funktionalisten” beherrscht, wobei Erstere das Schwerpunkt auf das kontingente Wesen von Hitlers Aufstieg zur Macht und die Bedeutung seiner Entscheidungen legten, während Letztere die Kontinuität und den Erfindungsreichtum der staatlichen Institutionen in Deutschland betonten. Der Streit wurde in den 1990er Jahren, in denen die Nazizeit zunehmend durch den Holocaust definiert wurde, weitergeführt. Mittlerweile schien die entscheidende Frage in der Rolle Hitlers und anderer Naziführer bei der Initiierung eines ideologisch bestimmten Massenmordes an den Juden zu liegen, im Gegensatz zu Initiativen, die von bestimmten Institutionen in Reaktion auf wirtschaftliche oder militärische Faktoren ergriffen wurden. Für diese früheren und späteren Ausprägungen der Kontroverse zwischen Intentionalisten und Funktionalisten legten, was die deutsche Geschichtsschreibung betrifft, die Forschungen von Ian Kershaw und Peter Longerich überzeugende Lösungen vor.4

Wenngleich Intentionalisten und Funktionalisten auf entgegengesetzten Seiten zu stehen scheinen, überdeckt ihr Zwist einen grundlegenden Konsens: die Bevorzugung der inneren, psychologischen und nationalen Geschichte gegenüber der äußeren, soziologischen und transnationalen. Intentionalisten und Funktionalisten waren zwar verschiedener Ansicht darüber, wie es den Deutschen gelungen ist, die Herrschaft über einen Großteil Europas zu erringen, sie alle teilten jedoch die Annahme, dass sich diese Fragen auf der Grundlage von Quellen entscheiden ließen, die, selbst in den besten Fällen und in den abgewogensten Deutungen, auf deutsche Perspektiven beschränkt blieben, aus denen sie entstanden waren und denen sie Ausdruck verliehen.

Da sich die meisten Teilnehmer an diesen Disputen auf offizielle deutsche Quellen stützten, nahm der Diskurs einen implizit psychologischen Charakter an. Es ist eine Sache, aufzuzeichnen und zu interpretieren, wie die Deutschen die Welt sahen und sie umzuformen meinten, eine durchaus andere jedoch, diese Welt zu beschreiben und zu deuten. Spätestens nach dem September 1939 stießen deutsche Führer und Institutionen auf Akteure und Kräfte, die nicht ihre Schöpfungen waren, außerhalb ihrer Kontrolle lagen und sich nicht an ihre Vorhersagen hielten. Gewiss, die polnische Regierung, die 1939 ein Bündnis verweigerte, oder die Rote Armee, die 1941 Moskau verteidigte, tauchen in deutschen Quellen auf; aber kein Historiker, der sich nur auf deutsche Quellen stützt, kann die Welt rekonstruieren, aus der sich diese Quellen speisen. Tatsächlich bleibt selbst die subjektive Seite, die Frage der deutschen Ziele und Stimmungen, schleierhaft ohne ein unabhängiges Verständnis der überraschenden und unleugbaren Realität, auf die die Deutschen stießen und mit der sie sich auseinandersetzen mussten, ohne sie freilich immer verständlich festhalten zu können.

Historiker, die zugeben, sich auf den Zivilisationsbegriff zu stützen, dürften heute wohl Seltenheitswert haben, dennoch scheint die Methodologie vieler Geschichten des Holocaust eben darauf zu fußen. Als Folge der Abhängigkeit von deutschen Quellen, die zwar unverzichtbar, aber für sich genommen ungenügend sind, bekräftigte die Holocaust-Geschichtsschreibung eine bestimmte Idee einer einzigen deutschen oder westlichen Zivilisation. Natürlich machen die Holocaust-Historiker – im doppelten Sinn des Wortes – kritischen Gebrauch von ihren deutschen Quellen. Aber sie gehen in einer Weise, die in der komparatistischen Geschichtswissenschaft heute inakzeptabel wäre, wie selbstverständlich davon aus, dass die Realität der Eroberung durch die Aufzeichnungen der Eroberer erschöpfend wiedergegeben werde. Das Narrativ der Zivilisation handelt von ihrer moralischen Entgleisung und imperialen Überdehnung mit der Folge des metaphysischen und physischen Zusammenbruchs. So verweisen die Geschichten der deutschen Zivilisation z.B. auf Institutionen, die sich missbrauchen lassen (vgl. etwa Raul Hilbergs bahnbrechendes Werk), oder sie beschreiben die Gründe für den “Irrweg” der deutschen Zivilisation (wie in allen Spielarten der Idee des deutschen “Sonderwegs”) oder sie nehmen die deutsche Zivilisation als spezifisches und extremes Beispiel einer breiteren Tendenz moderner Entfremdung, Konzentration und Zerstörung (Hannah Arendt). 5 Aber damit eine Zivilisation untergehen, ihre Widersprüche offenbaren oder zur Moderne heranreifen kann, muss sie zunächst einmal existieren. Ohne die Annahme einer deutschen Zivilisation und von Zivilisation selbst wäre der narrative Bogen ihrer Selbstzerstörung unsinnig. Die Tatsache, dass man dem Handlungsfaden des Holocaust so leicht folgen kann, sollte uns stutzig machen.
Ein auffälliges Merkmal der traditionellen Methodologie ist die koloniale Episteme: der ungerührte Gebrauch deutschsprachiger Quellen zur Beschreibung von Ereignissen, von denen Nichtdeutsche jenseits der deutschen Grenzen betroffen waren. Wie mittlerweile zwei Generationen von Historikern gründlich demonstriert haben, bedarf die Kolonialgeschichtsschreibung einer multifokalen Methodologie. In den meisten, wenn nicht allen Kolonialgeschichten gilt das als selbstverständlich – nur nicht in der Geschichte des Nazireichs in Osteuropa. So stützt sich die Geschichtsschreibung der frühen britischen Herrschaft in Südasien nicht nur auf die offiziellen britischen Quellen, sondern zunehmend auch auf Quellen in den Lokalsprachen. Es wird immer schwieriger, über die spanische Herrschaft in Nord- und Südamerika zu schreiben, ohne die Perspektiven indianischer und afrikanischer Bevölkerungen mit in die Darstellung aufzunehmen. Selbst die Geschichte des nordamerikanischen Grenzlands [frontier] ist vielsprachig geworden, mit herausragenden neueren Studien, die sich auf französische, spanische und indigene Quellen stützen. Entsprechend ist die Geschichte des Nazireichs in Westeuropa ja auch auf Grundlage lokaler Quellen geschrieben worden – man versuche nur einmal, sich Robert Paxtons Arbeit über das Vichy-Regime ohne Nutzung des Französischen vorzustellen.6 Wohl kaum ein Historiker würde seinen Studenten den Rat erteilen, eine Geschichte der französischen Kollaboration oder Resistance ohne Kenntnis der französischen Sprache zu verfassen. Dieses Argument hat im östlichen Teil des Nazireichs noch weit größere Bedeutung und Tragweite als im westlichen, nicht zuletzt, weil der Holocaust in Osteuropa stattfand und in der überwältigenden Mehrheit osteuropäische Juden betraf. In der Geschichte des europäischen Kolonialismus wird also heute nur eine Ausnahme von der Regel gemacht, dass die lokalen Völker eine Stimme haben sollen – und diese Ausnahme betrifft den wichtigsten Fall.

In den meisten Kolonialgeschichten besteht die Antwort auf die imperiale Historiographie in der Sozialgeschichte. Aber die Sozialgeschichte welcher Gesellschaft? Ein Nebenschauplatz des Historikerstreits von 1986/87 kreiste um die Frage der Legitimität der Alltagsgeschichte der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs.7 War es moralisch vertretbar, so fragten damals die Kritiker, heiles Familienleben und die Realität des Leids in der deutschen Heimat zu porträtieren, während die Deutschen die Juden ausrotteten?8 Könnte das nicht nahelegen, dass sich die Geschichte einer Gesellschaft isoliert von den entsetzlichsten Gräueltaten schreiben ließe, die ein Gemeinwesen jemals begangen hat? Gewiss würde eine Sozialgeschichte der Deutschen die koloniale Episteme nicht überwinden. Ein wichtiger Schritt, der in den letzten beiden Jahrzehnten in bedeutenden Darstellungen des Holocaust und des Dritten Reiches unternommen wurde, ist der Einschluss der Erfahrung deutscher Juden. Könnte das die Beschränkungen der kolonialen Episteme überwinden?

Richard Evans erweiterte den Zuständigkeitsbereich der Sozialgeschichte, indem er durch die Anführung jüdischer und anderer deutscher Erfahrungsberichte in der ersten Person demonstrierte, wie sich das tägliche Leben durch den Aufstieg Hitlers und die Konsolidierung seines Regimes verwandelte und sich die Deutschen so veränderten, dass von Normalität, in dem Sinn, wie der Begriff in der naiven Alltagsgeschichte der 1980er Jahre angenommen wird, keine Rede mehr sein konnte. Allerdings handelt es sich hier noch immer um eine Sozialgeschichte im nationalen statt europäischen Maßstab, die somit abermals den Rahmen einer deutschen Zivilisation bekräftigte. Auch im dritten Band seiner Studie behandelt Evans die Deutschen als komplexe Gesellschaft, die eine nuancierte Untersuchung erfordert, während er die Gesellschaften der von den Deutschen eroberten Nachbarländer mit vertrauten (und ungenauen) Stereotypen beschreibt. Saul Friedländer reagierte auf dieselbe Herausforderung, indem er das Alltagsleben deutscher Juden mit nie zuvor erreichter erzählerischer Bravour in die Geschichte des politischen Antisemitismus und des Massenmords an den Juden einbettete. In seiner wie in Evans’ Synthese fügt die Sozialgeschichte der Geschichte des Holocaust die Dimension der Erfahrung hinzu, statt Deutsche und Opfer künstlich voneinander zu trennen. Doch auch die Erfahrung deutscher Juden als Wegweiser zum Holocaust hat ihre Beschränkungen und bestätigt in einigen wichtigen Aspekten die koloniale Episteme eher, als sie zu überwinden.9

Die Einbeziehung der kleinen Bevölkerungen assimilierter deutschsprachiger “Westjuden” und die Marginalisierung größerer Gruppen von jiddisch- oder russischsprachigen “Ostjuden” in solchen Geschichten des Holocaust verschärft die Frage der Zivilisation. Für die meisten Leser der Holocaust-Geschichten sind deutsche Juden unproblematische Sympathieträger, gerade weil ihr Leben vertraut bürgerlich-kultiviert anmutet. Doch so ästhetisch bequem es ist, den erzählerischen Akzent auf die deutschen Juden zu legen, verleitet es die Leser doch zu dem Glauben, sie seien die typischen Opfer des Holocaust gewesen, was sie in einer bestimmten objektiven Hinsicht aber nicht waren: Etwa 97 % der Holocaustopfer sprachen kein Deutsch. Die Erfahrung der deutschen Juden mit der Nazimacht war, so furchtbar, erniedrigend und oft tödlich sie auch war, durchaus anders als die der viel größeren Gruppen osteuropäischer Juden, die das Gros der Holocaust-Opfer ausmachten. Zum einen überlebten die meisten deutschen Juden. Außerdem erlebten sie die deutsche Herrschaft innerhalb Deutschlands, bis sie emigrierten oder deportiert und ermordet wurden. Das bedeutete bis zu zwölf Jahre Leben unter Hitler, häufig mindestens acht. Die meisten Juden unter den osteuropäischen Bevölkerungen wurden binnen drei Jahren nach ihrer ersten Berührung mit der deutschen Macht getötet, darunter etwa eine Millionen innerhalb der ersten sechs Monate. Im Sommer 1941 wurden mehr osteuropäische Juden binnen der ersten zwei Monate deutscher Besatzungsherrschaft umgebracht als deutsche Juden während des gesamten Holocaust. Deutsche Juden wurden erst dann in beträchtlicher Zahl ermordet, nachdem der Holocaust in der besetzten Sowjetunion begonnen hatte. Sie überlebten in Deutschland aus Gründen, die weiter östlich undenkbar gewesen wären, zum Beispiel weil sie mit Nichtjuden verheiratet waren.

Ebenso wichtig für den Charakter der Holocaust-Geschichtsschreibung ist der subjektive Unterschied zwischen deutschen Juden und anderen jüdischen Opfern, was sowohl auf Primär- wie auf Sekundärquellen maßgeblichen Einfluss hatte. Zum überwiegenden Teil identifizierten sich die deutschen Juden mit der deutschen Kultur, zu der einige von ihnen bedeutende Beiträge geleistet hatten, und mit der deutschen Zivilisation, von deren Sendung die meisten von ihnen überzeugt waren. Es überrascht daher nicht, dass sie ihr eigenes Schicksal als einen Verrat an den deutschen nationalen Traditionen oder als ein Zeichen des Nieder- und Untergangs der europäischen Zivilisation verstanden. Eben weil sie in der Regel patriotische Deutsche waren, eben weil sie als Juden verfolgt wurden, neigten sie dazu, den Antisemitismus als verwirrenden und isolierten Schandfleck in einer Geschichte zu sehen, zu der sie sich zugehörig betrachteten. Die deutschen Juden waren nicht in der Position, den Beginn des Holocaust wahrzunehmen, solange und sofern sie nicht selbst in den Osten deportiert wurden. Daher wird ein Narrativ, das sich von der Erfahrung der deutschen Juden leiten lässt, wichtige Ursachen und Wendepunkte übersehen.10

Auf diese Weise verfestigen bedeutende Werke zur Geschichte des Holocaust, die sich auf deutschsprachige Quellen stützen, einschließlich jener, die Erinnerungen deutscher Juden zitieren, das Paradigma der deutschen Zivilisation, das ihre Darstellungen strukturiert. Die Geschichte einer modernen Katastrophe nimmt die Form einer klassischen Tragödie an: Niedergang und Fall, mit dem Antisemitismus als tragischer Verfehlung. Von Hilberg (dem locus classicus) über Friedländer und Longerich (die heutigen Standardwerke) hat diese Geschichte zwei Phasen, gewöhnlich in zwei Teilen oder Bänden arrangiert: der politische Antisemitismus innerhalb Deutschlands (Niedergang) und der Massenmord an den Juden jenseits von Deutschland (Fall). Aber wenn wir uns losreißen können von dem vertrauten und zwingenden geschichtlichen Handlungsverlauf, den Hilberg herausgearbeitet und Arendt theoretisch begründet hat (Diskriminierung, Separierung, Eliminierung), um einige der grundlegenden Fakten des Holocaust zu betrachten, spüren wir die Spannung zwischen der Macht der Erzählung und der tatsächlichen Macht. Wenn Antisemitismus einen Holocaust auslösen könnte, dann hätte es einen solchen in Deutschland bereits vor 1939 geben müssen. Doch obwohl einige hundert Juden ermordet wurden und etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung zwischen 1933 und 1939 emigrierte, geschah im Vorkriegsdeutschland nichts, was in die Nähe eines Massenmords an den Juden gekommen wäre. Tatsächlich kamen auf jeden in Nazideutschland während der 1930er Jahre ermordeten Juden etwa einhundert, die in der Sowjetunion umgebracht wurden. Als der Holocaust begann, geschah dies unter Juden, die zuvor keiner systematischen Diskriminierung und Rassentrennung ausgesetzt gewesen waren. Sie wurden schlicht ermordet, als die deutsche Herrschaft an die Stelle der sowjetischen rückte.

Liest man Gesamtdarstellungen des Holocaust, liefert der Antisemitismus ohne Holocaust der 1930er Jahre die dramatische Spannung, weil wir bereits wissen, was als Nächstes kommt. Aber als ursächliche Erklärung ist der politische Antisemitismus der 1930er Jahre eindeutig unzureichend, er ist bestenfalls notwendiger Teil einer Erklärung. Die – gewöhnlich unausgesprochene – Hypothese, die zwischen den Teilen eins und zwei einer Holocaust-Geschichte auftaucht, besagt, dass ein in Phase eins erzeugter Überschuss an Antisemitismus überschwappt und zur treibenden Kraft von Massenermordungen in Phase zwei wird. Das hat enorme literarische Kraft, ergibt aber keinen logischen Sinn. Wenn wir annehmen, dass ein Holocaust allein durch Antisemitismus hervorgebracht wird, dann muss es in Deutschland in den 1930er Jahren eher zu wenig Antisemitismus als zu viel davon gegeben haben, weil es damals keinen Holocaust gab.

In den Geschichtsschreibungen des Holocaust spielt sich alles in Deutschland ab – bis es woanders geschieht. Die Juden im Osten (die erdrückende Mehrheit der Opfer) und andere Osteuropäer fehlen so lange, bis deutsche Augen sie sehen und deutsche Stenographen diese Wahrnehmungen niederschreiben. Wenn die Länder Osteuropas in einer Geschichte des Holocaust präsent sind, bevor sie erobert werden, so gewöhnlich als mentale Geographie der Nationalsozialisten; wenn die Völker Osteuropas gegenwärtig sind, so nur als Abstraktionen in den nationalsozialistischen Planungen. Dann, während der Invasionen im Osten von 1939 bis 1941, tauchen Territorien und Völker am epistemischen Horizont auf, um beherrscht oder vernichtet zu werden. Hier erwächst ein moralisches Problem, denn die Menschen, die zu den großen Opfergruppen gehören, werden für die Leser weit weniger real sein als führende Nazis, die Deutschen allgemein oder deutsche Juden, die in der Geschichte allesamt seit sechs oder acht Jahren präsent sind.

Auch ein Problem des Kontextes oder des Handlungsortes taucht hier auf. Man stelle sich eine Geschichte des Holocaust vor, in der vermerkt wird, dass während der Hitlerzeit in den Ländern, in denen der Holocaust stattfand, vor oder während des Massenmordes an den Juden auch acht Millionen Nichtjuden ermordet wurden. Wo das nicht erwähnt wird, fehlt den Lesern die Grundlage für das Verständnis anderer Kausalmechanismen von Massenmorden, die zu dieser Zeit an diesem Ort am Werk gewesen sein könnten. Doch das fundamentale Problem der Darstellung der östlichen Invasionen von 1939 bis 1941 ist die Abwesenheit lokaler Texte, die Abwesenheit von Quellen in den örtlichen Sprachen. Quellen auf Deutsch können den Niedergang und Fall der Zivilisation porträtieren; das Fehlen von Quellen auf Jiddisch, Polnisch und Russisch lässt die Vernichtung von Individuen und Gesellschaften als unwesentlichen Teil der Geschichte erscheinen. Ausgerechnet dort, wo die schlimmsten Exzesse der Nazipolitik beginnen, bleibt der Historiker in einer gewissen Distanz zum Geschehen stehen. Und die Leser verbleiben zwischen einer Zivilisation, die ihren eigenen Untergang in Texten aufzeichnet, und einer Zone der Textlosigkeit, der Leere einer Tabula rasa.

Kommemorative Kausalität

Üblicherweise füllt Antisemitismus die unbeschriebene Tafel. In literarischer Hinsicht ist das notwendig, da der erste Teil der Geschichte offenbar einen Überschuss an Antisemitismus hervorgebracht hat, der auf die Erfüllung seiner historischen Bedeutung wartet. Und tatsächlich kann man starke und überzeugende Argumente vorbringen, wie es Longerich getan hat, dass sich Antisemitismus als politische Praxis zuerst in Deutschland als erfolgreich erwiesen hat und dann seine Umsetzung im Nazireich versucht wurde. Das ist ein wichtiger Teil der Erklärung des Holocaust, aber er kann nicht erschöpfend sein: Nach Longerichs eigenem Verständnis waren es bestimmte Bedingungen, die die Deutschen über Deutschland hinausführten – Angriffskrieg und Kolonialplanung – und die der Politik des Antisemitismus einen neuen Handlungsort unter verwundbareren Bevölkerungen verschafften.11

Der Antisemitismus, der die fehlende kausale Triebfeder liefert, ist typischerweise derjenige der osteuropäischen Bevölkerungen unter der Besatzung. Das Problem ist, dass diese Bevölkerungen gewöhnlich gar nicht erforscht worden sind. Nach äußerst sorgfältigen historischen Untersuchungen der Politik des deutschen Antisemitismus taucht der Antisemitismus in den Ländern, in denen der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat, plötzlich als ahistorische Kraft auf. Anders als bei den Deutschen, deren Antisemitismus als erforschenswertes Zivilisationsproblem präsentiert wird, werden Osteuropäer als antisemitisch an sich dargestellt. Ihr Antisemitismus ist in Yitzhak Arads unverzichtbarer Studie des Holocaust in der Sowjetunion “inhärent”. Daniel Jonah Goldhagen bietet “antisemitischen Wahn” an, um die Sicht der Osteuropäer auf die Juden zu charakterisieren.12 Das Augenfälligste an solchen kategorischen Urteilen ist ihre ausdrückliche Ablehnung historischer Analyse. Inhärenz und Wahn sind jene Art von Begriffen, die durch ihre bloße Eindringlichkeit die Leser aus der historischen Argumentation herausziehen und diese überflüssig erscheinen lassen. So wird abermals der Rahmen der deutschen Zivilisation festgeklopft und in Gegensatz zur östlichen Barbarei gerückt: Die Deutschen mögen tief gefallen sein, aber die Osteuropäer sind schlicht von niederer Art. Die Deutschen bringen Texte hervor, deren kritische Analyse ihren tiefen Fall offenbart; keine Texte werden benötigt, um zu wissen, was wir über die Osteuropäer wissen müssen.13

Der Punkt ist keineswegs, dass Antisemitismus keine wichtige Ursache des Holocaust gewesen wäre. Natürlich war er das. Zusammen mit Tyrannei, Konformismus, Krieg, Kolonialismus und Staatszerstörung war er eine der notwendigen Bedingungen für die verhängnisvollste Massenmordkampagne der Geschichte. Hitlers ganz besonderes Verständnis der Juden als einer widernatürlichen Kraft, die vom Planeten zu entfernen ist, scheint den Anfangspunkt jeder Erklärung zu markieren. Das Problem ist, dass dies keine zureichende Erklärung des Holocaust ist. So wenig es in Deutschland zwischen 1933 und 1939 einen Holocaust gab, so wenig gab es ihn in Osteuropa während des halben Jahrtausends, in dem die Region weltweit die zentrale Heimat der Juden war. Nicht aus Mangel an antijüdischen Ressentiments – Antisemitismus war in Osteuropa praktisch allgegenwärtig, weshalb er logisch nicht als entscheidender Grund für die Explosion des Mordens im Sommer 1941 gesehen werden kann. Er war mehr oder weniger eine Konstante, während es in jenem Augenblick einige auffällige Variablen gab, vor allem die Zerstörung osteuropäischer Staaten während der Doppelbesetzung durch Deutschland und die Sowjetunion nach dem Scheitern erster deutscher Pläne für eine “Endlösung”. So viel war in Bewegung, als der Holocaust begann, dass der osteuropäische Antisemitismus, der zwar bedeutsam, aber in diesem zeitlichen Rahmen statisch war, als Hauptursache kaum in Frage kommt. Während einer beliebigen Woche im Jahr 1941 oder 1942 wurden in Osteuropa mehr Juden ermordet als in allen historischen Pogromen zusammen. Der Holocaust war eindeutig ein Ereignis von einer anderen Ordnung als traditionelle antijüdische Gewalt und erfordert eine andere Art von Erklärung. Darüber hinaus waren die Deutschen selbst sowohl mit dem Maß des örtlichen Antisemitismus unzufrieden wie mit dem Chaos, das folgte, wenn Juden Pogromen zum Opfer fielen. Sie verließen sich nicht auf lokale Gewalt – provoziert oder nicht – als ihre Methode zur Judenvernichtung.

Es gibt sorgfältige kausale Beweisführungen über lokalen Antisemitismus, insbesondere in einer Reihe wichtiger Bücher aus jüngster Zeit von polnischen Historikern sowie in Christoph Dieckmanns bemerkenswerter Gesamtdarstellung des Holocaust in Litauen.14 Diese Nachweise können jedoch nie allein auf Grundlage deutscher Quellen überzeugend erbracht werden, die nur wenig Substantielles über die Motivationen ihrer örtlichen Kollaborateure beizusteuern vermögen und dazu neigen, die Einheimischen als Barbaren hinzustellen. Obwohl sich osteuropäische Antisemiten zweifellos am Holocaust beteiligten, ist nicht klar, dass sie es mit viel größerer Wahrscheinlichkeit taten als andere. Selbstverständlich hing die Virulenz des lokalen Antisemitismus mit der Besetzung, insbesondere der doppelten Besetzung zusammen, und den durch sie ausgelösten drastischen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen. Der Holocaust begann in jener Zone Europas, die einer doppelten Besetzung anheimfiel. Das zwingt uns dazu, unser Augenmerk auf externe machtvolle Faktoren zu richten, in einem Maß, auf das uns das Studium des besetzten Frankreichs nur ungenügend vorbereitet.

Wenn es eine Region gibt, wo sich die Aufmerksamkeit auf die Rolle des lokalen Antisemitismus im Holocaust gerichtet hat, so ist es die Westukraine. Mit “Westukraine” meinen Historiker gewöhnlich Galizien, das zur Habsburger Monarchie gehört hat, während die meisten Regionen der heutigen Ukraine Teil des Russischen Reichs und später, zwischen den Kriegen, Teil Polens gewesen sind. Galizien war tatsächlich die Heimat einer gewalttätigen terroristischen Bewegung, bekannt als Organisation Ukrainischer Nationalisten. Beträchtliche (und ertragreiche) Bemühungen sind in die Dokumentation der Rolle der ukrainischen Nationalisten im Holocaust geflossen. Aber es ist vollkommen klar, dass dieser Nachweis eher von moralischer als praktischer Bedeutung ist. Er belegt, dass die ukrainischen Nationalisten keine sauberen Hände hatten, was nicht sonderlich überrascht; es bedeutet keineswegs, dass die Deutschen die ukrainischen Nationalisten für den Holocaust brauchten. In der Mittel- und Ostukraine, d.h. in der besetzten Sowjetunion, war der ukrainische Nationalismus als Stimmung von geringer und als politische Bewegung von keinerlei Bedeutung. Doch wie im Rest der besetzten Sowjetunion hatten die Deutschen auch hier keine Probleme, örtliche Unterstützung zu finden, und die Mordrate an den Juden war so hoch wie in der Westukraine oder noch höher. Den Antisemitismus in Osteuropa zu lokalisieren und ihn mit dem Verlauf des Holocaust zu korrelieren, verstellt einigen Historikern den Blick auf die Komplexität der osteuropäischen Geschichte, die ihnen als inhärent antisemitisch infiziert erscheint. Diese geographische Distanzierung macht es den Lesern umso leichter, sich von Gefühlen zu distanzieren, deren Ablehnung, wie sie wissen, von ihnen erwartet wird, während eine solche ahistorische Perspektive die Osteuropäer weniger menschlich erscheinen lässt als die stärker kontextualisierten Deutschen. Das vertraute zivilisatorische Gefälle wird ein weiteres Mal bestätigt.15

Das mangelnde Interesse der Holocaust-Historiker an der Geschichte der Länder, in denen die Juden lebten und starben, ist symptomatisch für kommemorative Kausalität. Die Revolutionen von 1848 werden als Wendepunkt erinnert, an dem die Geschichte versäumte, eine Wende zu nehmen. An die Revolutionen von 1989 wird man sich wohl als Wendepunkt erinnern, an dem die Geschichtsschreibung die Wende verpasste. Weil der Holocaust gänzlich in Ländern stattfand, die dann hinter den Eisernen Vorhang fielen, bot der 1989 eröffnete Zugang zu den postkommunistischen Archiven eine einmalige Gelegenheit nicht nur für die Erforschung des Kommunismus, sondern auch der deutschen Gräueltaten. Eigentlich kam dies dem wachsenden Interesse an Erfahrung entgegen, hatte doch die große Mehrheit der im Holocaust ermordeten Juden in jenen Ländern gelebt, die später Teil des kommunistischen Blocks wurden. Doch unglücklicherweise ist die Historiographie des Holocaust in den zwei Jahrzehnten seit 1989 der breiteren europäischen Tendenz zu visueller Geschichte und Gedächtnisgeschichte gefolgt. Die Erfahrung des Holocaust wurde nie zu einem zentralen Thema, wohl aber ihre Darstellung. Sie war überall sehr konservativ, da sie zwangsläufig immer von einem im Vorhinein festgelegten Verständnis von dem abhängt, was zum Gegenstand der Vorstellung, Erinnerung und Darstellung wird. Wenn wir darin persönlich gerne mancherlei Progressives erkennen möchten, so laufen diese Tendenzen in Wirklichkeit auf die Bewahrung einer veralteten Darstellung der historischen Vergangenheit hinaus.

Dieser Konservatismus des sich Ende der 1980er Jahre herausbildenden Holocaust-Verständnisses prägte sowohl die ältere, nach einer Synthese strebende Generation von Historikern, als auch die jüngere, die neue Herangehensweisen an ein scheinbar altes Thema suchte. Die besseren Holocaust-Historiker wussten natürlich, dass die Ereignisse nun in Osteuropa angesiedelt werden konnten und sollten und dass sie in ihren Darstellungen die Erfahrungen der dort Anfang der 1940er Jahre lebenden Gruppen berücksichtigen mussten. Sie schwammen gegen den Strom.

Eine bequeme Kontroverse

Gedenken ist der Sirenengesang der Bedeutungsgebung, es spricht zu den Gefühlen und schläfert das Denken ein. Es soll uns die Opfer näherbringen und die Täter bannen, am besten unter Verweis auf deren Überzeugungen, die wir dann unerträglich finden und als Verhängnis der Opfer betrachten können. Faktoren jenseits des Antisemitismus zu ignorieren und dort, wo Antisemitismus das Thema ist, den historischen Schauplatz außer Acht zu lassen, hat ein bestürzend unvollständiges öffentliches Verständnis des Holocaust zur Folge. Es herrscht ebenso und gerade unter jenen, die Bücher über den Holocaust lesen, Dokumentarfilme dazu ansehen und auf andere Weise bemüht sind, einen Zugang zu diesem Ereignis zu gewinnen. Der Preis dafür, den osteuropäischen Antisemitismus als narrativen Kitt zu benutzen, der brüchige Erklärungen des Holocaust zusammenhält, ist die Fortschreibung des altbekannten zivilisatorischen Gefälles zwischen Westen und Osten.

Diese Einstellung ist ein ernstes intellektuelles Problem für die Historiker, die aufgrund ihrer Geläufigkeit alle Vorzüge (und Reize) der Trägheit besitzt. Sie ist uns von den Nazis und aus dem Kalten Krieg vertraut. Der Fall der Berliner Mauer, ein Augenblick, der sowohl die Nachkriegszeit wie den Kalten Krieg zu beenden schien, hat weniger ausgerichtet, als man hätte erwarten können, um das vorherrschende Bild einer höheren Zivilisation im Westen (zu der Deutschland nun wieder fraglos gehört) und einer abwesenden oder niederen Zivilisation im Osten zu verändern. Sicher werden politische Revolution, wirtschaftliche Dynamik und europäische Integration am Ende eine Auswirkung auf diese Wahrnehmung haben, aber es ist doch bemerkenswert, dass die mehr als zwei Jahrzehnte radikalen Wandels seit 1989 den Rahmen der westlichen Zivilisation wohl verändert, aber nicht überwunden haben.

Überraschend ist vielleicht, wie bequem diese Sicht ebenso für die Historiker und Intellektuellen in Osteuropa gewesen ist, hat sie doch auch ihnen erlaubt, Argumente aus den 1980er Jahren und aus früherer Zeit auf die Welt von heute zu projizieren. Das Problem entspringt, wie ich glaube, der Konstellation, dass die kommemorative Kausalität in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten gerade zu jenem Zeitpunkt Fuß fasste, nämlich Anfang der 1990er Jahre, als sich die Gelegenheit zu neuer Forschung über das Nazireich und den Osten bot. Im Internet, in der Presse und im Europäischen Parlament tobt der Streit zwischen Westlern, die auf die Einzigartigkeit des Holocaust pochen, und Ostlern, die das Gewicht auf die stalinistischen Verbrechen legen. Antriebskraft und Dauerhaftigkeit dieses Disputs zwischen westlichen “Zivilisierern” und östlichen “Nationalisierern” erwachsen aus gewissen intellektuellen Grundüberzeugungen. Zur Sicht der Zivilisierer auf die Vergangenheit gehört die Tragödie vom Niedergang und Fall der (deutschen) Zivilisation. Sie lässt keinen Raum für die Möglichkeit anderer Zivilisationen im unmittelbaren Osten von Berlin, seien sie polnisch, litauisch oder jiddisch. So widmen sie der langsamen Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit im Deutschland der 1930er Jahre (zweifellos ein sehr wichtiges Thema) allgemein viel Aufmerksamkeit, während die völlige Zerstörung von Staaten östlich von Deutschland gewöhnlich überhaupt keine Beachtung findet.16

1939 und 1940 zerstörten Deutsche und Sowjets im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts gemeinsam Polen, während die Sowjets außerdem die drei baltischen Staaten zerschlugen. In diesen Ländern lebten grob gerechnet zehnmal so viele Juden und zwanzigmal so viele Holocaustopfer als in Deutschland selbst. Die Zerstörung von Staaten hatte für die Juden entscheidende Konsequenzen: An Orten, an denen die staatliche Autorität der Vorkriegszeit zerschlagen oder aufgehoben wurde, hatten Juden eine Überlebenschance von etwa eins zu zwanzig; an Orten, an denen der Vorkriegsstaat erhalten blieb, selbst wenn dieser Staat der Nazistaat selbst oder ein Naziverbündeter war, lag diese Überlebenschance eher bei eins zu zwei. Doch um die Bedeutung des Staates für die Juden (und natürlich für andere Bürger) zu ermessen, müssten Holocaust-Historiker das politische Leben und die Tradition jenseits Deutschlands in Betracht ziehen. Das lässt sich innerhalb des Narrativs von Niedergang und Fall unmöglich leisten, ebenso wenig wie in den Grenzen der kolonialen Episteme.

Doch für viele Zivilisierer gab es eine Zivilisation östlich von Deutschland: die Sowjetunion. Trotz all ihrer Fehler, die zuweilen auch eingeräumt werden, gilt die UdSSR als Zivilisation unter Feuer, als jene Macht, die durch ihre Selbstrettung die Menschheit rettet. Das entscheidende Bild für diese Erlösungsvorstellung ist die “Befreiung” von Auschwitz durch die Rote Armee. Dieser Topos, der immer strapaziert wird, wenn sich Zivilisierer in Bedrängnis wähnen, ist mehr als problematisch. Warum Auschwitz und nicht die Killing Fields oder die Vernichtungsfabriken weiter im Osten, wo jeweils weit mehr Juden ermordet wurden? Auch diese Orte wurden von der Roten Armee befreit, aber ihnen fehlt die Resonanz von Auschwitz, wo uns einige Opfer bekannt sind und einige Opfergruppen zur vertrauteren mittel- und westeuropäischen Zivilisationsgeographie gehören. Anders als die Killing Fields, anders als die Todeslager von Treblinka, Belzec und Sobibór war Auschwitz nicht nur ein Ort von Massentötungen, sondern auch ein großes Konzentrationslager, die Befreiung richtete sich dort also auf etwas Greifbares.

Vielleicht bietet sich Auschwitz vor allem deshalb an, weil es zum Synonym für die Abgründe einer gefallenen Zivilisation geworden ist. Es wird als böse gesehen, aber auch als modern. Es offenbart einen tragischen Defekt. Aus diesem Grund ist seine Befreiung durch Soldaten, die in dialektischem Gegensatz eine gesunde und siegreiche Zivilisation zu repräsentieren scheinen, umso schlagender. Da die Sowjets Auschwitz befreiten, so legen die Zivilisierer nahe, dann müssen sie für Werte gestanden haben, die denen der Nazis, die es erbaut hatten, entgegengesetzt sind. Obwohl viele der Gefangenen, die in Auschwitz auf die Rote Armee warteten, gar keine Juden waren, sind sie zum Inbild jener Juden geworden, die in der Ankunft der Sowjets ihre einzige Überlebenschance sahen. Die Befreiung von Auschwitz passt so perfekt zu den Annahmen und literarischen Bedürfnissen der Zivilisierer, vermählt sie doch die emotional unwiderstehliche Kraft der verzweifelten Hoffnungen jüdischer Überlebender mit der unausgesprochenen Vorstellung, die Zivilisation selbst sei zurückgekehrt und habe triumphiert.

Dieser verführerische literarische Kunstgriff kann nur gelingen, wenn vorausgehende Bezüge zu sowjetischer Macht und Politik ausgeblendet sind. So kann man eine ganze Bibliothek von Büchern über den Holocaust lesen, ohne zu erfahren, dass er in doppelt besetzten Ländern begann, in denen die deutsche Invasion von 1941 die nach der sowjetischen Besetzung von 1939 in Polen und 1940 im Baltikum errichteten sowjetischen Strukturen auflöste; ohne zu erfahren, dass die Sowjetmacht überall präsent war, wo der Holocaust stattfand, entweder kurz nach oder (gewöhnlich) kurz vor und nach dem Massenmord an den Juden. Die Sowjets selbst töteten etwa vier Millionen Menschen in den Ländern, in denen der Holocaust während der Hitlerzeit stattfand. Viele der Nichtdeutschen, die Juden ermordeten oder die Todesfabriken bewachten, waren Doppelkollaborateure und Sowjetbürger. Auschwitz, das Symbol des Bösen, der Moderne und der Befreiung, war eine Stadt in Polen gewesen, die nach den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 den Deutschen von den Sowjets überlassen wurde. Es war die (mit sowjetischer Hilfe ausgeführte) Zerschlagung des polnischen Staates, durch die die jüdische Bevölkerung in Deutschland von ein paar Hunderttausend auf über zwei Millionen wuchs. Im deutsch besetzten Polen folgten Vertreibung und Ghettoisierung von Juden sowie die Beschleunigung der Planungen für die “Endlösung”. Ein Plan der Nationalsozialisten sah Anfang 1940 vor, zwei Millionen polnische Juden in die zu dieser Zeit noch mit Deutschland verbündete Sowjetunion zu deportieren. Wenig überraschend, jedoch problematisch für die Zivilisierer, lehnten die Sowjets ab.

Während der deutsch-sowjetischen Allianz spielte die Sowjetpropaganda die antisemitische deutsche Politik herunter. Das führte dazu, dass Mitte 1941, als die Deutschen in sowjetisches Territorium einfielen, die jüdischen Bürger der Region auf die neue Realität nahezu völlig unvorbereitet waren. Im Verlauf des deutsch-russischen Kriegs von 1941 bis 1945 waren die gefährlichsten Orte für Juden wie für alle anderen eben jene sowohl von den Sowjets wie von den Deutschen besetzten Gebiete. Unbestreitbar spielten die Sowjets die entscheidende Rolle beim Sieg über die Deutschen, aber nicht anders als ihre Alliierten kämpften sie nicht dafür, den Holocaust zu stoppen. Als die Heeresgruppe Mitte der Roten Armee im August 1944 an der Weichsel Stellung bezog und zusah, wie die Deutschen den Warschauer Aufstand brutal niederschlugen, gaben sie den Deutschen auch die Zeit, 67 000 überlebende Juden von Lódz nach Auschwitz zu deportieren, die beide nur ein paar Tagesmärsche entfernt waren. Sie warteten ebenfalls, als die meisten der verbliebenen Gefangenen von Auschwitz auf Todesmärsche nach Deutschland geschickt wurden. Der Punkt ist nicht, dass die Sowjetunion ebenso schlecht war wie Nazideutschland oder als Komplize des Holocaust angesehen werden sollte. Der Punkt ist, dass diese bedrückende Geschichte aus der Geschichtsschreibung des Holocaust ausgeklammert wird, weil sie mit dem Bild der Befreiung von Auschwitz als ergreifende Rückkehr der Zivilisation kollidiert.

Für die Gegenspieler der Zivilisierer in Osteuropa, die “Nationalisierer”, ist das Schlüsselkonzept nicht Zivilisation, sondern nationale Souveränität.17 Während die Holocaustforscher dazu neigen, die Bedeutung anderer deutscher oder sowjetischer Verbrechen zu untertreiben, die dort stattfanden, wo sich der Holocaust ereignete, betonen die Nationalisierer die deutschen und sowjetischen Verbrechen, die mit dem Verlust der Staatlichkeit verbunden waren (und übertreiben dabei häufig deren Bedeutung). Die Osteuropäer können über die Zerstörung ihrer Staaten nicht hinwegsehen, wie es Historiker des Holocaust gerne tun. Da es die Sowjetunion war, die sich als größter Zerstörer von Staaten hervortat (entweder in den Kriegen nach der bolschewistischen Revolution 1917, während des Nichtangriffspaktes von 1939 bis 1941 oder bei Kriegsende 1945), können die Nationalisierer die UdSSR nicht als Erlöser der Zivilisation sehen. Sie sehen in ihr stattdessen einen Aggressor, bestrebt, die nationalen Gemeinschaften der Region zu zerstören, in die die meisten Nationalisierer hineingeboren worden waren und deren Souveränität erst zwischen 1989 und 1991 wiederhergestellt wurde. Anders als die Zivilisierer, die gewöhnlich (mit Ausnahme der älteren Generation) wenig oder keine Erfahrung mit der Tyrannei haben, sind die Nationalisierer (bis auf die jüngere Generation) unter dem Kommunismus groß geworden, sodass von ihnen vernünftigerweise kaum zu erwarten ist, die UdSSR aus der Geschichte auszublenden. Ihnen ist auch bewusst, dass die Sowjetpolitik nicht nur darin bestand, Staaten zu zerstören, sondern auch darin, deren Eliten zu liquidieren, die die staatliche Souveränität eines Tages wiederherstellen könnten. Wenn sie Nationalgeschichte schreiben, so trotzen sie damit auch dem, was die Sowjets als Verdikt der Geschichte hinstellten.

Die Nationalisierer sehen bei ihren westlichen Kollegen eine allzu große Bereitwilligkeit, dieses Verdikt hinzunehmen; bestenfalls schrieben Letztere über osteuropäische Länder, als ob dort Eliten, Staaten und Traditionen fehlten, schlimmstenfalls verloren sie darüber überhaupt keine Worte. Weil der Holocaust in der besetzten Sowjetunion begann und gänzlich in Ländern geschah, die unter sowjetische Herrschaft fielen, gehen die Osteuropäer wie selbstverständlich davon aus, dass eine Geschichte des Kriegs und der Gräueltaten sowohl Hitler wie Stalin einschließt. Tabus über Vergleichbarkeit und dergleichen ergeben für Menschen, deren Familien oft sowohl unter sowjetischer wie deutscher Gewaltherrschaft zu leiden hatten, wenig Sinn. In den Landschaften und Stadtbildern Osteuropas haben beide Regime bleibende Spuren hinterlassen, sodass selbst jüngere und kommende Generationen Schwierigkeiten haben werden, die Besatzung ihrer Heimat durch die Nazis als etwas völlig anderes zu sehen als den Rest der Geschichte.

Der Holocaust war in Osteuropa nie unbekannt, eben weil er in Osteuropa stattfand und weil die große Mehrheit seiner Opfer Osteuropäer waren – “Nachbarn” und “Nächste”, um den denkwürdigen Ausdruck von Jan Gross zu benutzen.18 Nationale Mythen von reinem Heldentum während des Kriegs und Unschuld während des Holocaust sind seit 1989 in mehreren osteuropäischen Ländern mit unterschiedlichem Erfolg in Frage gestellt worden; historiographische Debatten über den Holocaust haben auf verschiedenen Niveaus stattgefunden. Die Zivilisierer scheinen von den Nationalisierern mehr zu erwarten: eine Wiederholung deutscher Schuldbekenntnisse, gefolgt von der Akzeptanz des gegenwärtigen Stands der Holocaust-Geschichtsschreibung mit all ihren Problemen, Beschränkungen und Tabus. Das ist unmöglich. Es ist zwar unbestreitbar, dass sich Hundertausende von Osteuropäern in der einen oder anderen Weise am Holocaust beteiligten, und es ist so gut wie gewiss, dass die meisten Judenmörder keine Deutschen waren, doch die “Endlösung” war eine deutsche Politik, die auf besetztem Territorium von Deutschen (und Österreichern) betrieben wurde. Die nationale Anerkennung eines singulären nationalen Verbrechens kann jenseits von Deutschland nicht als Zivilisationsstandard gesetzt werden, weil das fragliche Verbrechen vor allem ein deutsches war. Der Zivilisationsstandard, ob als Zusammenbruch oder als Apologie, wird von Deutschland gesetzt. Es kann nur zu Verwirrungen führen, wenn die Zivilisierer Universalismus mit der deutschen Erfahrung verwechseln und erwarten, dass die Eliten in Osteuropa einfach dem deutschen Muster folgen.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben wir erlebt, wie der Streit zwischen Zivilisierern und Nationalisierern die Versuche zur Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Geschichte und das Projekt der europäischen Integration erschwert hat. Schließlich ist sich jede Seite sicher, das Beste an Europa zu repräsentieren: das Europa der Erfahrung im Osten, das Europa der Aufklärung im Westen. Der Streit dauert an und wird wohl weitergehen, weist doch jede der beiden Geschichten eine gewisse Kohärenz auf. Weit davon entfernt, die jeweils andere Position herauszufordern, hilft sie nur, sie tiefer zu verankern.

Das zentrale Merkmal der Kontroverse besteht darin, dass sie ungeachtet des Anscheins für beide Seiten höchst bequem ist. Dem Klischee zufolge schafft ein Streit mehr Hitze als Licht: Dieser hier produziert eine Art behaglicher Wärme. Jede Seite liegt bei so vielen wichtigen Fragen so offensichtlich falsch, dass die andere gar nicht umhin kann, sich selbst im Recht zu fühlen. Doch die heimliche Gemeinsamkeit im Herzen dieser komfortablen Kontroverse ist die allgemeine Einhelligkeit über kommemorative Kausalität. Beide forschen aus kolonialer Perspektive, indem sie sich der Quellen der Kolonisatoren bedienen, um das Schicksal der Unterdrückten nachzuzeichnen; beide sehen aus den Augen des Staates, um wie die Opfer zu fühlen. Sie definieren die Opfer unterschiedlich, aber sie behandeln sie ähnlich. Elemente zeitgenössischer Darstellung, die wir als postmodern oder befreiend empfinden mögen, dienen der konservativen Funktion einer bequemen, endlos perpetuierten Kontroverse. Vergegenwärtigen wir uns dies an vier Beispielen: Diskurs, Sprache, Terminologie und Darstellung.

Der Diskurs der Einzigartigkeit des Holocaust schafft einen ansteckenden Exzeptionalismus, der sowohl Zivilisierern wie Nationalisierern zupass kommt. Um die historische Frage klar zu beantworten: Der Holocaust war sowohl im Hinblick auf die Absichten wie auf das Ergebnis ein beispielloses Verbrechen. Das Problem beginnt nicht bei einer Geschichtsschreibung, welche die Einzigartigkeit zu beweisen sucht, sondern bei einem historischen Diskurs, der sie schlicht voraussetzt (und bestrebt ist, ein Tabu dagegen zu errichten, die Frage durch Beweise zu entscheiden). Die Zivilisierer halten es für selbstverständlich, dass die Nationalisierer den Diskurs der mutmaßlichen Einzigartigkeit akzeptieren, und betrachten es als Zeichen von Barbarei, wenn das nicht geschieht. Doch das Problem der Zivilisierer ist nicht, dass die Geschichte des Holocaust keinen Eindruck macht, es besteht vielmehr darin, dass sie in anderer Weise beeindruckt als erwartet.

Der Diskurs der Einzigartigkeit des Holocaust wird von Osteuropäern – nicht ganz falsch – als eine Bestätigung der konventionellen lokalen Praktiken der Geschichtsschreibung verstanden. Betrachten wir die methodologischen Annahmen des Holocaust-Diskurses: 1. Bekräftigung der Einzigartigkeit der Erfahrung der Opfer, begleitet von der Überzeugung, das Leiden der einen Gruppe könne die gesamte Menschheit erlösen; 2. die koloniale Episteme oder die kritische Verwendung kolonialer Quellen; 3. entschiedene Einsprachigkeit oder die starke Präferenz, nicht auf Quellen zurückzugreifen, durch die sich die Darstellung komplizieren könnte; 4. sorgfältige Abgrenzung von Insidern und Outsidern. Sobald diese Annahmen ausdrücklich benannt werden, erkennen wir, dass sie die traditionelle osteuropäische nationale Geschichtsschreibung charakterisieren, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausbildete und bis zum heutigen Tag praktiziert wird. Die Geschichte des Holocaust kann so aufgefasst werden, dass sie nicht eine herausfordernde neue Art des Diskurses darstellt, sondern der nationalen Geschichtsschreibung bloß ein weiteres Beispiel liefert und so die Legitimität nationaler Historiographie als solche bestätigt. Der Exzeptionalismus erweist sich damit als ansteckend. Die Geschichte des Holocaust wurde im späten 20. Jahrhundert nach dem Modell des osteuropäischen romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts geschrieben, den sie ihrerseits im 21. Jahrhundert wieder bestärkt.

Die zweite Art der Kooperation zwischen den Protagonisten der Kontroverse besteht in einem linguistischen Waffenstillstand: Wenn ihr versprecht, keine unserer Sprachen zu erlernen, versprechen wir, eure nicht zu lernen. Kein Holocaust-Historiker, der 1989 Bedeutung hatte, machte sich die Mühe, eine osteuropäische Sprache zu erlernen, trotz der unerwarteten Verfügbarkeit von Quellen in jenen Ländern, in denen der Holocaust stattgefunden hat. Keine auf Englisch erschienene Gesamtdarstellung des Holocaust schreibt die Ortsnamen korrekt. Wie ernst würden wir wohl eine Geschichte der Rebellion Cromwells nehmen, in der die Namen englischer Städte falsch buchstabiert sind? Eine der Aufgaben, die mit trostloser Vorhersagbarkeit russischen und polnischen Übersetzern zufällt, ist die Standardisierung der exzentrischen Topologien westlicher Holocaust-Geschichten. Allzu häufig benutzen Historiker bei den Ortsnamen deutsche Schreibweisen, einige aus dem Stegreif von deutschen Amtsträgern erfunden, statt zu überprüfen, wie ein gegebener Ort vielleicht von den Menschen genannt wurde, die dort lebten und starben.19 In der Zwischenzeit hat, ebenso erstaunlich, eine neue Generation polnischer Holocaust-Forscher die Bühne betreten, die offenbar kein Deutsch liest. Osteuropäische Historiker sind heute weniger vielsprachig als unter dem Kommunismus. Diese polnischen Forscher haben in den letzten Jahren dennoch die im internationalen Vergleich interessantesten neuen Arbeiten zum Holocaust hervorgebracht. Leider bleiben sie weitgehend ungelesen, weil nur eine kleine Schar von Holocaust-Historikern in Deutschland, Israel oder den Vereinigten Staaten die Sprache des Landes versteht, in dem ein Großteil des Holocaust stattfand.20

Der Begriff “Genozid” führt eine Terminologie ein, die es Zivilisierern und Nationalisierern erlaubt, einen dauerhaften, wenn auch umstrittenen Waffenstillstand einzuhalten. Die Zivilisierer neigen zu der Auffassung, dass es nur einen Genozid gab: den Holocaust; die Nationalisierer entgegnen, dass es zwei gegeben habe: den Holocaust und ein sowjetisches Verbrechen (welches, hängt vom jeweiligen Land ab). Natürlich haben beide unrecht, denn nach der rechtlichen Definition haben Deutsche und Sowjets vielfachen Genozid begangen. Jede Debatte darüber, ob die richtige Zahl von Genoziden mit eins oder zwei anzugeben sei, ist also politisch und wird sehr wahrscheinlich aus Ignoranz oder unredlicher Absicht oder beidem geführt. Was die Zivilisierer und Nationalisierer gleichermaßen am Begriff des Genozid schätzen, ist seine Mehrdeutigkeit.

Den Nationalisierern erlaubt die breite rechtliche Definition von Genozid, zu behaupten (sehr oft zu Recht), dass ein bestimmtes Verbrechen gegen ihr Volk ein Genozid war. Aber der Reiz des Ausdrucks für die Nationalisierer liegt nicht in der Möglichkeit seiner zutreffenden Verwendung, sondern vielmehr in seiner populären Verbindung mit dem Holocaust. Viele Leute glauben, dass Genozid dasselbe bedeutet wie Holocaust, deshalb können Nationalisierer Pluspunkte einheimsen, wenn sie ein Verbrechen Genozid nennen. Aber warum sind manche der irrigen Ansicht, dass der Holocaust der einzige Genozid gewesen sei? Das liegt an den Zivilisierern, die auf der ausschließlichen Anwendung des Begriffs Genozid auf den Holocaust bestehen, um auf diese Weise Vergleiche zu vereiteln. Natürlich laden solche Abwehrbestrebungen zu Vergleichen durch jene ein, die ihre eigene nationale Tragödie gerne von einer ähnlichen Aureole umkränzt sähen. Folglich ist die Frage zu stellen: Warum glauben die Zivilisierer eigentlich, dass der Holocaust, der nach schlichten historischen Begriffen eindeutig beispiellos war, durch die Anwendung eines Rechtsbegriffs erhellt wird, die offenkundig unrichtig ist? Aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil die Holocaust-Historiker kein Vertrauen in ihre Behauptung der Einzigartigkeit haben und deshalb eine ahistorische Stütze ihrer Sicht suchen. Wenn das stimmt, ist dieses mangelnde Vertrauen wenig mehr als eine Einladung an die Nationalisierer, bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Wort “Genozid” zu verwenden. Wie dem auch sei, das Einvernehmen zwischen Zivilisierern und Nationalisierern über die Unverzichtbarkeit eines Begriffs, den sie vieldeutig lassen, ermöglicht die endlose Fortführung der Diskussion.

Darstellung: Seit 1989 haben die Zivilisierer den Nationalisierern unwissentlich dabei geholfen, parallele, in kommemorativer Kausalität gründende Opfergeschichten zu etablieren. Das United States Holocaust Memorial Museum und die israelische Gedenkstätte Yad Vashem sind buchstäblich zur Inspiration für die Gedenkministerien und neuen historischen Museen geworden, die heute in einem Großteil von Osteuropa so populär und wohlfinanziert sind. Statt an ihre eigenen traditionellen Nationalmuseen anzuknüpfen, geben sich Forscher und Kuratoren alle Mühe, die wirkungsvollen Formate der Holocaust-Museen nachzuahmen. Sie glauben, dass sich die Techniken, mit deren Hilfe der Holocaust aus der Geschichte isoliert wird, auch auf andere Episoden von Massentötungen und Repressionen in Osteuropa anwenden lassen.

Kommemorative Kausalität ist folglich nicht nur ein Problem für Historiker des Holocaust, weil sie mangelhafte Geschichten des Holocaust hervorbringt; sie ist ein Problem, weil sie mangelhafte Geschichten von Ereignissen hervorbringt, die mit dem Holocaust in Zusammenhang stehen und mit ihm verglichen werden. Sie erlaubt es, die bequeme Kontroverse zwischen Zivilisierern und Nationalisierern zu institutionalisieren.

Zirkuläre Geschichte

Kommemorative Kausalität, die Verwechselung von gegenwärtiger Resonanz und vergangener Macht, verweigert der Geschichte ihren angemessenen Gegenstand. Die Erklärung des Holocaust wird zirkulär, sie ist nicht länger eine Suche nach den Begriffen, die den Schrecken der jüdischen Erfahrung auszudrücken vermögen, und nach den Konzepten, die die deutsche Politik in ihrem Gesamtzusammenhang erklären. Vielmehr füllt sie Darstellungs- und Verstehenslücken der Geschichtsschreibung unreflektiert mit unserem heutigen Common sense aus. Natürlich ist es immer schwierig, ein Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu finden; danach zu suchen ist die Aufgabe des Historikers. Diese Aufgabe wird indes unmöglich, wenn der kommemorative Impuls der Gegenwart mit der Vergangenheit selbst verwechselt wird, sodass das am einfachsten Darstellbare zum argumentativ am leichtesten Vertretbaren wird. Dann haben wir keine ernsthaften Erklärungen mehr, sondern nur noch emotionale Reflexe. Die Grenzen der Geschichte werden kraft kommemorativer Kausalität durch die Zufälligkeiten der Empathie gezogen, die dann zu einem kostbaren Gut wird. Über Episoden von Massentötungen außerhalb des Holocaust zu schreiben, so behauptet Omer Bartov, “schließt Empathie aus”.21 Wenn das stimmt, liegt der Fehler bei den Autoren von Holocaust-Geschichten, nicht bei ihren Lesern. Gewiss werden Menschen, die den Holocaust überlebten, Empathie mit jenen empfunden haben, die andere Gräuel überlebten; dahinter sollten seine Erforscher nicht zurückfallen.

Die Juden wussten während des Zweiten Weltkriegs von der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener durch die Deutschen. Aber wer wird dieser drei Millionen Todesopfer der Naziunterdrückung gedenken? Niemand, denn sie gehören zu keiner Gedenkgemeinschaft. Weil ihrer nicht gedacht wird, gehen sie in Gesamtdarstellungen des Holocaust unter, obwohl ihre Erfahrung unabdingbar für eine angemessene Erklärung des Holocaust ist. Ihr Leid zwingt uns, unser Augenmerk auf die Planung der Nazis für den Osten zu richten: die Schaffung eines auf Rassekriterien beruhenden Imperiums, nach dem Verhungernlassen und der Deportierung von zig Millionen Menschen. Diese Pläne muss man kennen, um zu verstehen, warum die Deutschen die von Juden besiedelten Länder eroberten. Die Erfahrung der sowjetischen Kriegsgefangenen bestätigt auch die ideologische Priorität der Judenvernichtung bei den Nazis. Als die deutschen Pläne am sowjetischen Widerstand scheiterten, war Hitler gewillt, slawische Gefangene als Zwangsarbeiter einzusetzen, während er die “Endlösung” in einer Weise beschleunigte und eskalierte, dass daraus der Holocaust wurde. Viele dieser Menschen waren zweimal einer Politik der Verhungerung ausgesetzt: nicht erst 1941 in den entsetzlichen deutschen Hungerlagern, sondern schon 1933 in der sowjetischen Ukraine. Diese Leben gemahnen uns daran, Fragen von Modernisierung, Imperium und politischer Ökonomie zu beachten, wenn wir hoffen wollen, den Holocaust zu verstehen. Diese Kategorien eignen sich nicht für das Gedenken, weil sie nicht der Vergangenheit angehören. Sie sind gegenwärtig – eben dies ist der Grund, warum wir ihrer eingedenk sein sollten.

Der kommemorative Impuls trennt nicht nur Ideologie von Geschichte, er beschränkt die Ideologie auf das, was in nichttextuellen Formen dargestellt werden kann. Ideologie wird zu dem, was sich heute ästhetisieren lässt, statt als das zu erscheinen, was in der Vergangenheit angestrebt wurde. Ohne ein lebendiges Verständnis der Ansprüche der Ideologie an die Welt und ohne ein lebendiges Verständnis vergangener Welten, die durch Ideologie verändert wurden, können wir weder den Antisemitismus verstehen noch uns auf seine Rückkehr vorbereiten (oder auf das Wiederaufleben ähnlicher Ideen). Wie die Nazis, die Osteuropa erobern wollten, und die Sowjets, die es taten, leben wir in einer Welt der Knappheit. Es ist nicht allzu schwierig, sich Ideen vorzustellen, die eine radikal ungleiche Ressourcenverteilung und die Vernichtung von Gruppen rechtfertigen, die im Weg zu stehen scheinen. Kann eine solche Vermählung von Ideen und Vernichtung wieder geschehen? Sie ist bereits geschehen – in China, in Kambodscha, in Afrika. War es genauso wie der Holocaust? Natürlich nicht. Aber ist es für das historische Verständnis oder das politische Urteil produktiv, die Erforschung der Vergangenheit auf die Gedenkpraktiken von heute abzustimmen? Können wir es uns leisten, die ideologischen Dispute des 20. Jahrhunderts in Gestalt einer bequemen Kontroverse wiederaufzuführen, während wir die Verbindungen zwischen Materiellem und Ideen ignorieren? Sollten wir unsere Sache auf eine Idee von Zivilisation stützen, die von der Bewältigung einer nicht zu bewältigenden Vergangenheit im Dienste der Aufrechterhaltung einer nicht aufrechtzuerhaltenden Gegenwart abhängt? Natürlich nicht.

Dieser Essay stützt sich auf drei Vorlesungen, die ich am Wilson Center in Washington, D.C. sowie an den Universitäten Cambridge und Princeton gehalten habe. Mein Dank für die Einladungen geht an Vladimir Tismaneanu, Rory Finnan und Jan-Werner Müller.

Penser la Révolution franÇaise, Paris 1978, dt.: 1789. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M./Wien/Berlin 1980, z.B. S. 17.

In ihren Vorlesungen von 1965 an der New School for Social Research, gesammelt in Über das Böse. Eine Vorlesung in Ethik, München 2007.

Vgl. u.a. Ian Kershaw, Hitler. 1889-1945, Wien 2010; Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur "Endlösung", München 2001; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008. Siehe auch meine Rezension von Longerich, "A New Approach to the Holocaust", New York Review of Books, 23. Juni 2011, S. 54 ff.

Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., 10. durchges. u. erw. Auflage, Frankfurt a.M. 2007; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955.

Vgl. insbesondere, aber nicht ausschließlich Michael R. Marrus / Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981.

Vgl. Charles S. Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt a.M. 1992. Siehe auch Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, München 1988. Eine unschätzbare englischsprachige Einführung in den Historikerstreit ist Peter Baldwin (Hg.), Reworking the Past. Hitler, the Holocaust, and the Historians' Debate, Boston 1990.

Das schlichte faktische Problem mit dieser Herangehensweise ist, dass sich deutsche Familien des Holocaust und anderer deutscher Verbrechen vollkommen bewusst waren, nicht zuletzt, weil so viele von ihnen davon materiell profitierten. Obwohl in den 1980er Jahren unter den Deutschen der älteren Generation zweifellos bekannt, war dies damals nicht so gut dokumentiert wie heute.

Vgl. Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Krieg, München 2009; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung, 1933-1939; die Jahre der Vernichtung, 1939-1945, München 2008. Ich bespreche beide Werke in The New York Review of Books, "What We Need to Know About the Holocaust", 30. September 2010 und "Nazi, Sovjets, Poles, Jews", 3. Dezember 2009.

Ein faszinierendes Beispiel für einen Tabubruch durch diese doch recht gewöhnliche Beobachtung ist Jan Patockas Erörterung von Husserl in seiner Analyse von Heideggers berühmten Spiegel-Interview, "Kommentar zum Spiegel-Interview mit Martin Heidegger", in: Jan Patocka, Die Bewegung der menschlichen Existenz, Stuttgart 1991, S. 577-584.

Vgl. meine längere Erörterung in "A New Approach to the Holocaust", a.a.O.

Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München 2009, S. 383; Yitzhak Arad, The Holocaust in the Sovjet Union, Lincoln (Nb.)/Jerusalem 2009.

Die Unterscheidung, die ich zwischen kommemorativer und kausaler Geschichte zu treffen versuche, ähnelt jener, die Isaiah Berlin zwischen den Methodiken Voltaires und Vicos herausarbeitet, vgl. Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 1994, S. 168-195.

Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen 2011. Vgl. auch meine Rezensionen "Hitlers Logical Holocaust", in: New York Review of Books, 20. Dezember 2012, und "Stalin & Hitler: Mass Murder by Starvation", in: ebd., 21. Juni 2012.

Wichtige Studien zur Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten im Holocaust stammen von John-Paul Himka und Marco Carynnyk. Zu meiner eigenen Arbeit über ethnische Säuberungen durch ukrainische und polnische Nationalisten vgl. "The Causes of Ukrainian-Polish Ethnic Cleansing, 1943", in: Past and Present, 179 (2003), S. 197-234; "Leben und Sterben der Juden in Wolhynien", in: Osteuropa, 57 (2007), 4, S. 123-142; relevante Kapitel in The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999, New Haven u.a. 2003; Sketches from a Secret War. A Polish Artist's Mission to Liberate Soviet Ukraine, New Haven u.a. 2005.

In Yehuda Bauers unverzichtbarer und exzellenter Studie der Schtetlach, hinsichtlich deren die staatliche Souveränität der Vorkriegszeit nicht ignoriert werden kann, wird sie ausgeblendet. Die polnische Gesellschaft, so Bauer, sei unter der Last ihrer eigenen Korruption, ihres wirtschaftlichen Scheiterns und ihrer Nutzlosigkeit zusammengebrochen. Vgl. Yehuda Bauer, The Death of the Shtetl, New Haven 2009, S. 360 (dt.: Der Tod des Schtetls, im Druck).

Obwohl ich die Einladung zum vorliegenden Artikel vermutlich meiner Arbeit über den Holocaust verdanke, habe ich einen Großteil meiner Karriere dem Problem der Nationalgeschichte und nationalen Mythen in Osteuropa gewidmet. Auf die eine oder andere Weise war dies das Thema der vier Bücher, die Bloodlands vorausgegangen sind.

Beim englischen Titel von Gross' Buch Neighbors schwingt eine Bedeutung mit, die dem polnischen Original und dem deutschen Titel (Nachbarn) abgeht. In der englischen Bibelübersetzung steht in Leviticus 19:18 das Gebot: "love your neighbors as yourself", zu Deutsch: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Im Lukas-Evangelium definiert Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter den Nächsten als jemanden, der Barmherzigkeit beweist, was die Polen in Jedwabne gerade nicht taten. Diese bittere Ironie fehlt im Polnischen (wie im Deutschen), da der Buchtitel "sasiedzi" nicht das Wort ist, das in der polnischen Übersetzung von Leviticus und Lukas Verwendung findet (sondern "blizni").

Die Verwendung eines Nachschlagewerks würde dieses Problem lösen: Paul Robert Magocsi, Historical Atlas of Central Europe. From Early Fifth Century to the Present, Seattle (Wash.) 2002.

Die Bücher von Jan Gross erscheinen auf Englisch (z.T. auf Deutsch), ebenso wie die von Barbara Engelking und Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven 2009. Beachtung und Übersetzung verdienten u.a.: Marek Szapiro, Nim slonce wzejdzie. Dziennik pisany w ukryciu 1943-1944, Warschau 2007; Barbara Engelking, Dariusz Libionka, Zydzi w powstanczej Warszawie, Warschau 2009; Adam Pulawski, W obliczu Zaglady. Rzad RP na Uchodzstwie, Delegatura Rzadu RP na Kraj, ZWZ-AK wobec deportacji Zydów do obozów zaglady (1941-1942), Lublin 2009; Jan Grabowski, Judenjagd. Polowanie na Zydów 1942-1945. Studium dziejów pewnego powiatu, Warschau 2011; Barbara Engelking, Jest taki piekny, sloneczny dzien..., Warschau 2011.

"Review Forum" über Donald Bloxham, The Final Solution. A Genocide, mit Jürgen Matthäus, Martin Shaw, Omer Bartov, Doris Bergen und Donald Bloxham, Journal of Genocide Research, Bd. 13, März-Juni 2011, Nr. 1-2, S. 107-152, hier S. 128.

Published 1 September 2015
Original in English
Translated by Andreas Simon dos Santos
First published by Modernism/modernity, vol. 20, no. 1

Contributed by Transit © Timothy Snyder / Eurozine

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Read in: EN / PL / RU / DE

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