Die Begebenheit liegt fast 20 Jahre zurück, aber sie ist, zumal aus
heutiger Sicht, erinnerungswürdig. Es war Montag, der 19. Oktober 1987,
gerade hatte sich der größte Börsenkrachs seit 60 Jahren ereignet: “Nach
und nach strömten Tausende von Menschen aus allen möglichen Ecken von New
York in die Wall Street. Verwirrt sahen die Polizisten, wie die
Menschenmasse einfach da stand und nach oben starrte. Bis die Sache klar
wurde: Alle warteten darauf, dass die ersten verzweifelten Broker sich
aus den Fenstern stürzen, … keiner wollte das live event verpassen, den
fröhlichen Augenblick, da die verfluchten Yuppies endlich auf den
Asphalt prallen würden. Nun warteten sie und warteten sie, aber nichts
geschah.”1
Dass nichts geschah, lag auch daran, dass sich in den klimatisierten
Büros der Wall Street kein Fenster mehr öffnen lässt. Aber warum
beschränkten sich die Menschen dort unten auf das Gaffen? Wer waren sie,
die dem Fenstersturz der Broker und Händler lediglich schadenfreudig
beiwohnen wollten? Zu den Geschädigten zählten neben den Rednecks der
Handarbeiterklasse, die um ihre Pensionsfonds bangten, auch viele
Angehörige der Middle Classes, die nunmehr Teile ihres Einkommens
verspekuliert hatten.
Deutete irgendetwas darauf hin, dass sie den Börsenkrach als Menetekel
empfanden und am Ende des Goldenen kapitalistischen Zeitalters die
Konturen einer polarisierten Gesellschaft erahnten? Im Rückblick wird die
Szene zum Sinnbild einer Klassengesellschaft, in der die Armen und die
Mitte, obwohl auch zwischen ihnen Welten liegen, gemeinsam zu den
Geprellten zählen. Geprellt von einem System, von dem “die ganz oben”
immer mehr profitieren: The winner takes it all.
Was haben diese Mittelklassen seitdem gelernt, in den USA wie in den
noch sozialstaatlich verfassten Ländern Europas? Die Antwort fällt nicht
leicht. Im Innern der Klassengesellschaft haben sich die sozialen
Gewichte dramatisch verschoben. Aber nach wie vor schreibt der
Alltagsverstand dem ideal gedachten Bürger die gesicherte Lebenslage, den
angesehenen Beruf und eine risikoscheue Mentalität zu. Bemüht man die in
Zeiten der Globalisierung wieder plausible Unterscheidung zwischen
“Kosmopoliten” und “Lokalisten”, so hält sich die Mehrheit der selbst
ernannten Mittelklassen für mobile, leistungswillige und konsumfreudige
Kosmopoliten.
Fernstenliebe bringt mehr ein als Nächstenliebe
Mit den Unterschichten, die eine gängige Modernisierungsrhetorik als
unbewegliche, allenfalls fernsehende Lokalisten abtut, will man eher
nichts zu schaffen haben. Aber auch der Zutritt zur notorisch schmalen
Elite bleibt verwehrt. Hier herrschen die Besitzklassen und ihre
maßgeblichen Manager, die mit der Selbstgewissheit von Sozialdarwinisten
das Geschäft der schöpferischen Zerstörung weltweit betreiben. Sie meiden
die lästigen Regeln der steuerfinanzierten, sozialstaatlich geordneten
Nächstenliebe. Stattdessen suchen sie die Galadiners der Fernstenliebe
auf, wo essen und trinken für weitab hungernde Kinder das öffentliche
Ansehen mehrt und den privaten Reichtum nach Steuern.
Irgendwo dazwischen wollen die bunt gescheckten Mittelklassen ihre
unproletarische Daseinsform in den neuen Kapitalismus hinüberretten. Das
wird schwierig, denn der Widerspruch zwischen den propagierten
Leitbildern des Erfolgs und dem wirklichen Leben wird immer größer. Wenn
sich besser verdienende Arbeiter und qualifizierte Angestellte nicht mehr
als redliche Nutznießer des ökonomischen Fortschritts empfinden, sondern
als Geprellte, dann sind die persönlichen und politischen Folgen dieser
Entwicklung neu zu bedenken.
In ihrer Studie über die Middle Class der USA beschreibt Barbara
Ehrenreich, wie sich die “Angst vor dem Absturz” in reale Erfahrung
verwandelt. Für viele wird der alte Traum vom Erfolg zur Lebenslüge,
obwohl sie die einschlägigen Regeln genauestens beachten: “In manchen
Fällen handelt es sich um wahre Erfolgsmenschen auf gehobenen Posten, die
gerade deshalb in Schwierigkeiten geraten sind, weil die Einsparung
ihres Gehalts einen bequemen Weg zur Kostendämpfung darstellt … Sie
waren die Verlierer bei der klassischen Jagd nach dem immer besseren
Job.”2
Gefährdet sind damit zunehmend gerade diejenigen, die nach herrschender
Wirtschaftslehre und Erfolgsratgebern “alles richtig gemacht” haben. Der
ungeduldige Kapitalismus droht auch den arbeitenden Mittelklassen in den
reichen Ländern3 mit dem Gespenst der Nutzlosigkeit.
Wenn den individuell leistungswilligen und politisch geduldigen Bürgern
die Verdrängung der realen Probleme immer schwerer fällt, stellt sich die
Frage: Welche Umstände könnten auch bei ihnen die Einsicht in die
gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre eigene Rolle und die Möglichkeiten
der Veränderung befördern? In Westeuropa war in den Mittelklassen die
Angst vor dem Absturz bis vor kurzem fast unbekannt. Die Sorge galt
allenfalls dem beruflichen Stillstand oder der Abschiebung in die
Frührente. Dauerhaft garantiert erschien den meisten ein durch berufliche
Qualifikation, betriebliche Stellung und die Sozialsysteme gesicherter
Wohlstand, der die Lust am gehobenen Konsum in Gang hielt.
Heute sind vom sozialen Abstieg auch qualifizierte Berufe bedroht: der
mit 50 ausgemusterte Vertriebsangestellte; der 45-jährige Schichtleiter
des insolventen BenQ-Betriebs; die junge Psychologin, die sich mit
Honorarverträgen durchschlägt und ihre Weiterbildung über Kredite
finanziert; der 40-jährige freischwebende Dozent, dessen Eltern die Miete
zahlen und damit die staatliche Hochschule mit finanzieren; die frisch
diplomierte Betriebswirtin, die qualifizierte Arbeit im dritten
unterbezahlten Praktikum leistet. Natürlich sind nach wie vor die minder
qualifizierten Menschen den Arbeitsplatzrisiken und materiellen Einbußen
am stärksten ausgesetzt. Aber die Unsicherheit kriecht in die
Mittelschichten hoch. “I may look middle class”, sagt der 45-jährige
amerikanische Angestellte. “But I’m not. My boat is sinking fast.”4
Viele geraten aus der Zone der Integration in die der Verwundbarkeit,
wie es Robert Castel nennt.5 Das trifft vor allem immer mehr Jüngere beim
Übergang von der gehobenen Ausbildung in den Arbeitsmarkt. Die
angestellten Mittelklassen, die ihren sozialen Aufstieg mehrheitlich dem
Ausbau des Wohlfahrtsstaats und des Bildungssystems verdankten, beginnen
zu erfahren, dass das verinnerlichte Leistungsprinzip und die sozialen
Institutionen, die es bislang stützen, nicht mehr zuverlässig greifen.
Die Proteste der französischen Studenten gegen den prekären ersten
Arbeitsvertrag (CPE) entspringen nicht nur diffusen Ängsten, sondern auch
der realistischen Furcht vor dauerhaften und sehr persönlichen Risiken.
Die politischen Folgen dieser Veränderungen werden bislang ziemlich
ratlos und eher spekulativ diskutiert. In den Feuilletons herrschen neue
Spielarten der alten Diagnosen vor: Natürlich gebe es neue
Unsicherheiten, aber sie führten eher dazu, dass die Betroffenen sich
verschärft nach unten abgrenzen, gegen jene, die nach ihrem Weltbild
nicht zur Gruppe der Leistungsträger gehören; darin zeige sich der “Neid
der Abgehetzten auf die Abgehängten”6. Nur wenige Beobachter denken an
die Möglichkeit, dass sich europaweit eine rebellische génération
précaire herausbilden könnte, eine neue Klasse, in der “die Burgerbrater
der Fast-Food-Ketten mit den freien Grafikdesignern demonstrieren”.7
Selbst nach den Protestaktionen in Frankreich traut kaum jemand den
zukünftigen Mittelklassen rebellische Neigungen zu, geschweige denn ein
Interesse an grundlegenden Veränderungen.
Diese Diagnose mag zutreffen und greift dennoch zu kurz. Sie fordert
dazu auf, das Gelände der entgrenzten Arbeit und die gesellschaftlichen
Spaltungslinien neu zu vermessen.8
Obwohl die Mittelklassen in ihrer großen Mehrheit lohnabhängig sind,
bleibt der reale, und erst recht der gefühlte Abstand zu den
Unterklassen groß. Aber einige gründliche Veränderungen sind nicht mehr
individuell zu bewältigen.
– Für junge, fachlich gut ausgebildete Menschen verlängern sich die
Übergangsstadien in die Erwerbswelt; viele Unternehmen beuten mit
Praktika, Probezeiten und Honorarverträgen junge, qualifizierter
Arbeitskräfte aus.
– Der Wechsel zwischen festem Arbeitsverhältnis, prekären
Beschäftigungsformen und trügerischer Scheinselbstständigkeit wird eher
zur Regel. Wenn zwischenzeitlich etwas boomt, ist es die Arbeit auf Zeit,
eben Zeitarbeit.
– Im System der persönlichen Netzwerke entscheiden die soziale Herkunft
und das ererbte kulturelle Kapital weit stärker über den beruflichen
Erfolg als die bescheinigte Qualifikation.
– In die soziale Abwärtsspirale geraten viele bislang verlässlich
geschützte Gruppen.9 Die Armut greift “nach oben” aus und bedroht auch
qualifizierte Mitglieder der Mittelklassen.
– Mit der Privatisierung vormals öffentlicher Dienste wächst in den
Professionen der Mittelklassen die Kluft zwischen Gewinnern und
Verlierern. In Hochschulen und Sozialeinrichtungen, in der Medien- und
Kulturszene entsteht ein neues Proletariat von hoch qualifizierten
Wissensarbeitern: Honorarkräfte, “freie” Mitarbeiter und ganz Unbezahlte
arbeiten in Institutionen, die ohne sie nicht überleben könnten.
– Selbst die Sieger im “darwiportunistischen” Unternehmen (zumeist
Männer, die sich Manager nennen dürfen), bleiben “Spieler ohne
Stammplatzgarantie”.10 Die Karriere verlangt die rastlose
Selbstvermarktung und ist ohne Stress nicht zu haben. Sie zementiert das
traditionelle Geschlechterverhältnis und macht den Versuch, Beruf und
Kinder zu lieben, zum Privatabenteuer.
– Die Zukunft ist noch ungewisser. Die Kinder aus den “neuen”
Mittelklassen erleben, dass nach dem Studium weder das dritte Praktikum
noch die Gründung einer Rockband mit Elternknete die Zukunft als
“Arbeitskraftunternehmer” sichert. Stattdessen steht vielen das Schicksal
als Händler, ja Hausierer der eigenen Arbeitskraft vor Augen.
Das Erfolgsprinzip entwertet Leistung und Loyalität
Große Erwartungen, verlorene Illusionen; das fremdbestimmte Auf und Ab
wird in der zukünftigen Mitte zur allgemeinen Lebenserfahrung. Die
Predigt der individuellen Strebsamkeit, die allen Willigen und Tüchtigen
das Ende des Arbeiterschicksals versprach, tönt immer hohler. Im Beruf
wie im Leben tritt an die Stelle des Leistungsprinzips ein neu gemünzter
Begriff von Erfolg.
Während im Goldenen Zeitalter des Kapitalismus (1950-1975) das
Lohnarbeitsverhältnis in einen Sozialkontrakt eingebettet war, der
Kompetenz und Loyalität des qualifizierten Berufsmenschen mit stetiger
Beschäftigung und Karrierechancen belohnte, prägt nun der (oft nur
scheinhaft) berechenbare Beitrag des Einzelnen zum Erfolg des
Unternehmens das Idealbild des erfolgreichen Mitarbeiters. Ständig muss
der “Arbeitskraftunternehmer” versuchen, aus den betrieblichen
Eingangszonen auf die Kommandohöhen vorzudringen, wo die errungene Macht
gegen den drohenden Verlust der Stelle zu schützen verspricht. Indes
verwandeln die Unternehmensstrategien das Happy End des
Angestelltentraums – der Einzug ins Korps der Führungskräfte, das über
Gewinner und Verlierer entscheidet – zum beweglichen Ziel, weil sich die
betrieblichen Koordinaten der Macht im Netzwerk der Unternehmen ständig
verschieben. Über Nacht kann der Gewinner zum Verlierer werden.
Die Enttäuschungen, die das Berufsleben bereithält, fasst Barbara
Ehrenreich in dem Befund zusammen, dass nun auch mittlere und höhere
Angestellte “häufig denselben mörderischen Anforderungen ausgesetzt sind
wie die Niedriglohnverdiener, die zwei Jobs annehmen müssen”. Die neuen,
nur noch atemlos zu bewältigenden Vorgaben machen die Mittelklassen
besonders ratlos, denen der berufliche Erfolg als stärkster Beweis für
ein geglücktes Leben gilt. Nun erleben die vom “Lustprinzip der
Professionalität” geprägten Angestellten, dass gerade die Aufgaben, die
von der fachlichen Kompetenz und deren ständiger Interpretation lebten,
in verfeinerten Kennziffersystemen entkernt und zerschrotet werden.
Die Strategen für Bilanzen, Portfolio und Benchmarks, die nun das Sagen
haben, wissen wenig vom geheimen Hedonismus der Mittelklassen und seinen
Produktivitätsreserven. Sie glauben an die Macht der Angst, die dienende
Angestellte dazu bringt, am Callcenter-Telefon stets die Mundwinkel
hochzuziehen, und die Sperrsitzhalter im mittleren Management dazu, das
tägliche Windhundrennen durchzustehen. Für beide gilt es, lächelnd auf
die Zähne zu beißen: “Come to work each day willing to be fired!”11
Wie verarbeiten die verunsicherten Menschen in ihrem Bewusstein die
Eintrübung der privaten Aussichten und der gesellschaftlichen
Verhältnisse? Das bisher geltende Bild einer Betriebssportgruppe von
Leistungsgläubigen wird von der gängigen Individualisierungsthese
gestützt: Demnach laufen heute die alten, kollektiven
Interessenorganisationen, die um das Lohnarbeitsverhältnis herum
entstanden sind, ins Leere, während die Chancen und Risiken des
individuellen Fortkommens wachsen. Die fröhlichen Farben dieses Bildes
beginnen freilich abzustumpfen. Vor allem die Konkurrenz um die
Verfügungsgewalt über sichere Positionen und ökonomische Macht wird
schärfer. Wo die Mittelklassen sich im Netz aus Erfolgszwang und
Versagensangst verstricken, kann ihr Denken verwirrende Züge annehmen.
Pessimistische Diagnosen betonen, dass die von Unsicherheit betroffenen
Schichten stärker als je zuvor auf die individuelle Absicherung des
angehäuften kulturellen Kapitals, auf den Zugang zu den Personal Networks
setzen.
Das könnte in der ängstigenden Alltagskonkurrenz eine Mentalität
befestigen, der die alte Frage nach der sozialen Gerechtigkeit
gleichgültig wird. Den latenten Sozialdarwinismus der bedrohten
Mittelklassen lässt Ian McEwan in der flüchtigen Begegnung seines
Middle-Class-Helden mit einem Arbeiter der Londoner Stadtreinigung
aufblitzen: “Als die beiden Männer aneinander vorbeigehen, begegnen sich
ihre Blicke, kurz und neutral. Einen schwindelerregenden Moment lang
glaubt sich Henry mit diesem Mann verbunden, als säße er mit ihm auf
einer Wippe, die jeden ins Leben des anderen kippen lassen könnte.”
Aber der Mittelklassemann verdrängt seine Ängste, indem er die alte
Frage der Gerechtigkeit, beklommen zwar und mit leisem Bedauern, gleich
mit beiseite schiebt: “Die meisten Menschen neigen zu einer
fatalistischen Haltung – wer zum Lebensunterhalt die Straße fegen muss,
hat einfach Pech gehabt. Wir leben in keinem visionären Zeitalter. Die
Straßen müssen gesäubert werden. Sollen sich die Pechvögel darum
kümmern.”12
Das verheißt wenig Gutes. Vieles spricht dafür, dass die noch
Bessergestellten mit dem Blick auf das, was sie verlieren könnten, die
verschärften Regeln des kapitalistischen Erfolgsspiels zunächst besonders
artig befolgen. Man zeigt sich, wie eine Studie über mittlere Manager
darlegt, noch im betrieblichen Überlebenskampf so lange wie möglich von
seiner “egoistisch-distinguierenden Seite”.13
Die optimistische Sichtweise könnte sich auf Befragungen in Deutschland
stützen, die eine erstaunliche Beharrlichkeit der sozialstaatlichen
Grundorientierung belegen. Demnach erwartet die arbeitnehmerische Mitte
vom Staat nach wie vor eine soziale Bestandssicherung und verlässliche
öffentliche Einrichtungen; unterhalb der Elite plädieren gut 80 Prozent
der Menschen für das sozialstaatliche Modell der Bundesrepublik. Die
stabile Bindung an das Leitbild des Gemeinwohls geht freilich mit einer
ratlosen Hinnahme der gesellschaftlichen Wirklichkeit einher. Das ist
gefährlich, denn eine Mentalität, die Interessenkämpfe meidet und
Gerechtigkeit als bloße Dienstleistung empfindet, ist anfällig für
autoritäre Lösungen, wenn der alte Lieferservice ausfällt.
Die soziale Polarisierung zwischen den und innerhalb der Klassen zeigt
sich in zunehmen rabiaten Verkehrsformen. Bei den Eliten und Gewinnern
der Mitte wirkt das familiär vererbte kulturelle Kapital
machtstabilisierend. Es sichert den Einlass in die lukrativen Zonen des
Arbeitsmarkts, samt fetten Prämien auf den Finanzmärkten der Eingeweihten
und Ausgebufften. Dagegen erfahren die Aufsteiger, und zumal deren
Kinder, die Wiederkehr jener Unsicherheit, die zu beenden der
prosperierende Kapitalismus versprochen hatte.
Die Schockwelle, die nun auch Teile der Mittelklassen erreicht, mag aber
auch wie ein reinigendes Gewitter wirken. Sie könnte der großen Illusion
ein Ende bereiten, die im Goldenen Zeitalter das gesellschaftliche
Bewusstsein der angestellten Mittelklassen an die Herrschaftsmentalität
der eigentlichen Managerklasse band. Deren Macht gründete, wie es W. H.
Auden in seiner poetischen Diagnose ausdrückte, in dem Wissen, “dass sie
unter den ganz Wenigen sind, / Den Auserlesenen, / Denen, wenn’s wirklich
schiefgeht, im letzten Flugzeug ein Platz / Sicher ist – hinaus aus der
Katastrophe …”14
Derart elitäre Selbstgewissheit tritt bis heute in der Arroganz, mit der
auserwählte Topmanager sich über die Masse und das Gesetz erheben. Aber
diese Haltung kann nach unten keine starken Loyalitäten mehr erzeugen.
Dies ahnend, verkünden die Ackermanns den leistungswilligen
Mittelklassen: Das alte Spiel, in dem jeder mehr oder minder gewinnen,
aber niemand verlieren kann, ist endgültig aus. Berufliche Hingabe zählt
nur noch im Maße ihres Beitrags zur Rendite.
Was ist zu erwarten, wenn die Menschen in der gesellschaftlichen Mitte
aus dem meritokratischen Tagtraum erwachen? Wie berührt die
Legitimationskrise des Sozialen die Interessen und Lebensvorstellungen
derer, denen es vor Tische anders erzählt worden war? Den verwundbaren
Mitgliedern der Mittelklassen bleiben, in Anlehnung an Hirschmans
einleuchtende Alternative15, nur zwei Wege: Abwanderung (exit) oder
Widerspruch (voice). Den ersten wählt das isolierte Individuum, den
zweiten das soziale Wesen, das sich mit ähnlich betroffenen
Beschäftigtengruppen über gemeinsame Interessen verbunden weiß.
Der zweite Weg erfordert wenigstens den Anflug eines Willens, die
Arbeitsverhältnisse und sich selbst zu verändern. Aber gerade in den
Mittelklassen sind die Menschen zur individuellen Reaktion auf
zwiespältige Lagen erzogen. Wenn Betrieb und Gesellschaft ihnen kalt ihre
Entbehrlichkeit bescheinigen, trifft sie das hart und unvorbereitet. Die
meisten blicken sehnsüchtig nach oben und eher verschreckt nach unten.
So lange wie möglich versuchen sie, sich in der halb durchschauten
Wirklichkeit einzurichten und die verschärften Positionskämpfe
durchzustehen. Sofern die erzwungene Exit-Option zum Arbeitsamt, in die
Frührente oder fingierte Selbstständigkeit führt, wollen sie kein
Aufsehen erregen. In der ungewohnten Zone der Verwundbarkeit verhalten
sie sich wie Lottospieler, die vom besser informierten Paten noch den
todsicheren Tipp erwarten.
Der “Arbeitskraftunternehmer” setzt auf persönliche Netzwerke
In dieser Lage wundert es kaum, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte
ein kollektives Handeln nach gemeinsamen, um Beruf und Arbeit zentrierte
Interessen als schädlich, unnütz oder jedenfalls wirkungslos empfinden.
In der globalen, von Entprofessionalisierung bedrohten Arbeitswelt
verlieren die durch Berufsstolz und Solidarität geprägten Haltungen und
Aktionsformen an Kraft. Weil die ökonomiegetriebene Veränderungswut die
Gruppen der Betroffenen ständig umsortiert und gegeneinander ausspielt,
schwinden die Chancen solidarischen Handelns, das ein gewisses Maß an
stetigen Beziehungen voraussetzt.
Die (noch) Begünstigten sichern ihren Positionsvorsprung, indem sie
ihren Kindern Sprachkurse und teure Studiengänge im Ausland finanzieren,
in persönliche Netzwerke einschleusen und auf jede sich bietende
Startrampe schieben. Die Bedrohten sind mit dem Rest der Bevölkerung auf
den öffentlich verrottenden, nunmehr kostenpflichtigen Bildungssektor
verwiesen. Die neuen Spielregeln des Erfolgs setzen das Leistungsprinzip
schrittweise außer Kraft, das freilich die Köpfe noch beherrscht. Das
wiederum ist den Eliten nicht unwillkommen.
Der alte, typisch männliche Angestellte der Mitte war ein unschlüssiger
Charakter, der sich nüchtern als Arbeitnehmer empfand, aber nicht im
Gegensatz zum Unternehmen, solange dies seiner Leistung vertraute. Als
typischer Experte konnte er fachliche Probleme weit besser durchschauen
als seine eigene Lage. Das gilt bis heute und erst recht für den modernen
“Arbeitskraftunternehmer”. Nach Erziehung und innerer Motivation ist er
kaum imstande, auf die neuen Zumutungen der entgrenzten Arbeit mit der
bescheidenen Unbedingtheit zu reagieren, die den Schreiber Bartleby in
Melvilles Geschichte sagen lässt: “Ich möchte lieber nicht.”16
Weil die professionellen Mittelschichten weder eine belastbare
Individualität erworben noch Solidarität erlernt haben, lassen sie sich
durch das Unternehmen mit Haut und Haaren einverleiben. Gegen die
modernen Verhaltensregeln ist kaum ein Überschuss an rebellischem Gefühl
oder gar kollektives Handeln zu erwarten. Selbst ausgefeilte
Selektionsspiele des Managements ertragen deren Opfer in einer “Haltung
anmutiger Agonie”.17 Das individuelle Schicksal der Gefährdung ist im
Bewusstsein der betroffenen Mittelklassen kein öffentliches Problem; die
betrieblich und gesellschaftlich bedingte Erfahrung der eigenen
Ökonomisierung bleibt in der Regel privat, ja intim.
Wer wie das Gros der Ingenieure, Betriebswirte und Informatiker schon in
der fachwissenschaftlichen Ausbildung gelernt hat, dass der Markt kalt,
aber angeblich gerecht bestraft, wird sich von Gleichheit und Solidarität
nicht viel erhoffen. Die Ökonomisierung der sozialen Beziehungen zieht
solchen Ansprüchen und Handlungsformen enge Grenzen; sie fördert
Ideologien der Ungleichheit, nach denen die Verlierer nur bekommen, was
sie ohnehin verdienen. Wo das zur Besänftigung nicht reicht, unterbreitet
unsere Spaßgesellschaft den Gefährdeten aller Klassen und Schichten das
kostenpflichtige Angebot, sich den grauen Alltag mit banalen Träumen und
Events zu verklären oder erträglich zu halten.
Gibt es also keinen Silberstreifen am Denkhorizont der Mittelklassen? Im
Spiel mit kalten Regeln haben sie die Rolle des begreifenden Verlierers
erst noch zu erlernen. Wie eine aktuelle Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, herrscht eine politische Zwischenzeit.18
So empfinden 83 Prozent der Bevölkerung die soziale Gerechtigkeit als
wichtigsten zu bewahrenden Wert. Wie weit die Gesellschaft sich von ihm
entfernt hat, zeigen allerdings zwei weitere Befunde: 65 Prozent
reagieren auf die gesellschaftlichen Veränderungen mit Angst, und 61
Prozent stimmen der Aussage zu: “Es gibt keine Mitte mehr, sondern nur
noch ein Oben und Unten.” Offenbar ist nicht die komplexe Realität der
modernen Klassengesellschaft im Bewusstsein der Mittelklassen verankert,
sondern vorderhand nur die lähmende Angst vor ihren scheinbar
unerbittlichen Folgen.
Wie werden die Betroffenen auf das “gefühlte” Auseinanderdriften der
alten Mitte antworten, auf die nicht mehr zu verdrängende Erkenntnis,
dass ihnen im “letzten Flugzeug” kein Platz mehr sicher ist, wenn der
unruhige Kapitalismus die gewohnten Erfolgsmuster der Strebenden und
Verlässlichen ins Wanken bringt? Werden vor allem die qualifizierten
Jüngeren, die in eine fremdbestimmt flexible Welt hineinwachsen, sich
noch harmlos “postmaterialistisch” betragen? Oder vielleicht eher
“postsozial”, indem jeder sich als Einzelkämpfer durchschlägt, als
“Unternehmer seiner selbst”, wie es die neue Ideologie von ihm verlangt?
Noch bleibt die Idee einer gemeinschaftlich finanzierten
Tätigkeitsgesellschaft in der öffentlichen Diskussion. Aber neue
Konzepte, die dem “fordernden” Staat nicht nur den Besenwagen zur
Entsorgung der Verlierer bereitstellen, hat noch keine soziale Partei
entwickelt. Näher liegt deshalb der beunruhigende Gedanke, dass die zum
Aufstieg verdammten wie die vom Abstieg bedrohten Fraktionen der
Mittelklassen, ob alt, ob jung, denen da oben im alltäglichen Neid noch
lange geduldig verbunden bleiben.
Im Gefängnis ihrer Versagensängste fällt es den Menschen schwer, die
Regeln des kapitalistischen Kasinos – und nicht bloß das Elend der
Politik oder die Gier der ganz Reichen – als Quelle ihrer drohenden
Verluste und Niederlagen zu begreifen. So verbindet sich in den
einzelkämpferischen Überlebenstechniken der Mittelklassen die
verblassende Illusion der Selbstbestimmung mit einer politischer Apathie,
der die abgehängten Mitglieder der Unterklassen noch einige kollektive
Einsichten voraus haben. Der Selbstaufklärung in der Mitte der
Gesellschaft ist der rachsüchtig auf herabstürzende Banker gerichtete
“Blick nach oben” so wenig dienlich wie der Glauben, sich zum eigenen
Nutzen aus nichtmarktlichen Bindungen lösen zu können.
Was aber sonst? “The best thing … is to organize.”19 Bob Herberts und
Barbara Ehrenreichs abstrakt einsichtiger Rat an die Generation des
White-Collar-Blues ist nicht leicht zu befolgen, weil in den wichtigsten
Bereichen der entgrenzten Ökonomie die maßlosen Erträge der neuen
Finanzeliten vom vertrauten Leistungsprinzip entkoppelt sind20 und
zugleich die Macht des Faktors Arbeit weiter schwindet. Aber anders geht
es nicht.
Der doppelte Legitimationsverlust von Kapitalismus und Demokratie zwingt
die noch intakten sozialen Bewegungen, den Bestand an Interessen neu zu
bestimmen, der die Menschen in den Zonen der Exklusion und der Gefährdung
verbindet. Eine gemeinsame Perspektive für die verwundbaren Klassen
eröffnet sich erst dann, “wenn wir aufhören, uns mit der
Chancengleichheit innerhalb eines vorgegebenen Spiels zu befassen und
stattdessen ein brandneues Spiel verlangen”.21 Ein Spiel, bei dem, wie
beim Fußball, das Geschehen im Mittelfeld nicht unwichtig ist.
Le Monde diplomatique nimmt am Zeitschriftenprojekt Documenta 12
magazines teil.
Guillaume Paoli, "Lasst euch nicht gehen. Weisheiten der Kampfkunst",
in: Carl Hegemann (Hg.), "Erniedrigung genießen. Kapitalismus und
Depression III", Berlin (Alexander) 2001, S. 75 f.
Barbara Ehrenreich, "qualifiziert & arbeitslos. Eine Irrfahrt durch
die neue Bewerbungswüste", München (Antje Kunstmann) 2006, S. 8.
Die historisch-kulturellen Unterschiede zwischen den amerikanischen
(gewisse Blue-Collar-Berufe einschließenden), den französischen
(employées und auch cadres umfassenden) und den deutschen (zumeist
angestellten) Mittelklassen bleiben hier ebenso unberücksichtigt wie die
Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Beschäftigungsformen.
Tim Egan, "No Degree, and No Way Back to the Middle", in: The New York
Times, May 24, 2005.
Vgl. Robert Castel, "Das Verschwimmen der sozialen Klassen", in:
Joachim Bischoff u. a., "Klassen und soziale Bewegungen", Hamburg (VSA)
2003, S. 7-17.
Jens Jessen, "Hauptstadt der Unterschicht", in: Die Zeit, Nr. 44, vom
26. Oktober 2006.
Moritz Ege, Tobias Timm, "Das Internationale Prekariat", in:
Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2006, S. 11.
Dazu die glänzenden Analysen in dem Sammelband: Stephan Lessenich,
Frank Nullmeier (Hg.), "Deutschland - eine gespaltene Nation", Frankfurt
am Main/New York (Campus) 2006.
Vgl. Anne Daguerre, "Hartz IV international", Le Monde diplomatique,
Juli 2005.
Vgl. Christian Scholz, "Spieler ohne Stammplatzgarantie.
Darwiportunismus in der neuen Arbeitswelt", Weinheim (Wiley) 2003.
"Intrapreneur's Ten Commandments", Ratschlag No. 8 der amerikanischen
Beratungsfirma Pinchot & Company (2003).
Ian McEwan, "Saturday", Zürich 2005, S. 104 f.
Karola Brede, "Leistung aus Leidenschaft?", in: Arbeitsgruppe SubArO
(Hg.), "Ökonomie der Subjektivität - Subjektivität der Ökonomie", Berlin
2005, S. 227-251.
W. H. Auden: "Die Manager" (um 1950), in: "Gedichte - Poems", Wien
(Europa) 1973 (deutsch von Erich Fried).
Albert O. Hirschman, "Abwanderung und Widerspruch", Tübingen (Mohr)
1974.
Hermann Melville, "Bartleby, der Schreibgehilfe. Eine Geschichte aus
der Wallstreet" (1856), Zürich (Manesse) 2002, S. 26.
Richard Yates, "Ein Masochist", in: "Elf Arten der Einsamkeit",
München (DVA) 2006, S. 97.
Rita Müller-Hilmer, "Gesellschaft im Reformprozess"
(Friedrich-Ebert-Stiftung), Juli 2006.
Bob Herbert, "The White Collar Blues". In: The New York Times vom 29.
Dezember 2003. Diesen Rat haben inzwischen Barbara Ehrenreich und andere
mit der Gründung einer Organisation "United Professionals" aufgegriffen.
Sighard Neckel, "Gewinner - Verlierer", in: Stephan Lessenich, Frank
Nullmeier (Fußnote 8), S. 353-371.
Hans Georg Zilian, "Unglück im Glück. Überleben in der
Spaßgesellschaft", Graz/Wien (Styria) 2005, S. 219.
Published 21 December 2006
Original in German
First published by Le Monde diplomatique (Berlin) 12/2006
Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Ulf Kadritzke/Le Monde diplomatique (Berlin) Eurozine
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